# taz.de -- Folkfestival in Rudolstadt: Sanierungsstau im Wunderland | |
> Das thüringische Rudolstadt liegt mitten in Deutschland ab vom Schuss. | |
> Abgesehen von vier Tagen im Jahr, wenn hier das Weltmusikfestival | |
> stattfindet. | |
Bild: Die Wimpel flattern jedes Jahr zum Rudolstadt Festival, die Heidecksburg … | |
Jetzt haben sie wieder ihre Ruhe, die Rudolstädter, ob sie wollen oder | |
nicht. Für ein Jahr liegt das thüringische Städtchen an der Saale wieder | |
ziemlich mittig in Deutschland ab vom Schuss und interessiert auch die paar | |
Zehntausend Hippies nicht weiter, die hier Anfang der Woche wieder | |
abgereist sind. | |
[1][Rudolstadt] ist Kulturort im doppelten Sinne: einerseits ein | |
historisch-traditioneller, wo Schiller erstmals Goethe traf, wo | |
wunderschöne alte Bauernhäuser als ältestes Freilichtmuseum Deutschlands | |
gelten und wo natürlich von überall sichtbar das [2][Residenzschloss | |
Heidecksburg] am Hang über dem Tal thront. Und andererseits gibt es heute | |
eben die vor allem saisonale Kultur: Das jährliche Roots-, Folk- und | |
Weltmusikfestival, zu dem auf die knapp 25.000 Einwohner:innen der | |
Stadt rechnerisch 90.000 Besucher:innen kommen. | |
Es ist ein flüchtiger, aber doch enger Kontakt, weil das Festivalgelände | |
nicht irgendwo auswärts liegt, sondern die Bühnen und Spielstätten der rund | |
120 Konzerte sich vom Park am Saaleufer über Marktplätze, Seitenstraßen | |
und Hinterhöfe der Altstadt bis rauf zur Burg ziehen. Vom Aufwand für die | |
Bevölkerung zeugen gesperrte Straßen und Rudolstädter:innen, die am Einlass | |
zum Festivalgelände nach ihren Ausweisen kramen, um zu beweisen, dass sie | |
wirklich hier irgendwo zwischen den Bühnen wohnen. Es hängt davon ab, wen | |
man fragt, ob der bunte Besuch die Stadt nun belebt, oder völlig lahmlegt. | |
## Kulturschock mit Ansage | |
Es sind jedenfalls Welten, die da aufeinander prallen und zuverlässig immer | |
wieder zu Irritationen führen. Dabei ist das [3][“Rudolstadt Festival“] | |
schon fast so alt wie die Deutsche Einheit, auch wenn es 1991 noch unter | |
dem Namen “Tanz- und Folkfest (TFF)“ an den Start ging. Und wenn man es | |
noch etwas genauer nimmt, müsste man auch vom [4][“Tanzfest der DDR“] | |
sprechen, das trotz aller Unterschiede als Vorläufer gilt und hier schon | |
seit 1955 Folklore zunächst mit Westbeteiligung die deutsch-deutsche | |
Kulturgemeinschaft beschwor – und später eher die kulturelle Vielfalt der | |
sozialistischen Nachbarvölker präsentieren sollte. | |
Mit der kulturgeschichtlichen Vergangenheit des Ortes hat Rudolstadt als | |
Schauplatz übrigens nur am Rande zu tun. Entscheidender ist die | |
deutschlandmäßig zentrale Lage, die man vor Ort so schnell vergisst. | |
Heute ist das Festival regelmäßig ausverkauft und nicht zuletzt durch das | |
mediale Dauerfeuer öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten weithin bekannt | |
für seine Größe und Bedeutung, zugleich aber gerade auch für das | |
Klein-Klein der Straßenkunstbühnen in der verwinkelten Altstadt. | |
Auch andere Widersprüche prangen hier an jeder Hauswand – wortwörtlich da, | |
wo sich windschiefe Fachwerkbauten mit rissigen Wänden und zerborstenen | |
Fensterscheiben an die frisch gedämmte Fassade ihrer sonderbar sterilen | |
Nachbarhäuser schmiegen. Noch krasser geht nur die Kaufkraft der | |
[5][linksalternativ ausstaffierten] Camper und der Einheimischen des | |
Weltmusikwunderlands auseinander. | |
Man darf sich das nicht zu einfach machen: Die Bruchstellen dieser | |
Nachbarschaft auf Zeit nehmen einen komplizierten Verlauf durch arm und | |
reich, [6][links und rechts] und – ja, immer noch – auch Ost und West. Was | |
dem einen hübsch und magisch erscheint, ist dem anderen der Sanierungsstau | |
von nebenan. Und unterm Strich zeigt sich Thüringen heute – Sonnenberg hin, | |
AfD her – als so weltoffenes wie professionell agierendes Gastgeberland. | |
Das ist keine Selbstverständlichkeit: Vor 20 Jahren fuhr man hier noch über | |
endlose Landstraßen bergauf-bergab entlang heruntergekommener Dörfer und | |
Ruinen aufgegebener Gehöfte. Kam man trotzdem an, fand man nicht nur die | |
Kneipen am Rand der Altstadt von finsteren Gestalten besetzt, sondern auch | |
im Park kamen einem [7][die Naziskins] seelenruhig am Softeis sabbernd | |
entgegen. | |
## Es geht voran | |
Es war ein Segen, als im Laufe des Donnerstags die Zeltplätze voll liefen | |
und sich die Rechten irgendwo in den Nachbarorten verkrochen. Wer sich | |
daran erinnert, kann heute nicht mal dem westdeutschen Wohlstandshippie im | |
Van so richtig lange gram sein, der dem lokalen Zeltplatzeinweiser erst die | |
Welt und dann das Zeltplatzeinweisen erklärt. | |
Es hat sich wirklich viel getan in den vergangenen Jahren. Zumindest die | |
allertraurigsten Altbauruinen sind saniert, Dönerläden haben aufgemacht, | |
verschiedene Unternehmen suchen auf Plakaten händeringend nach Azubi:nen | |
und für die neue, autobahnähnlich ausgebaute Bundesstraße hat man bei | |
Schaala extra einen Tunnel in den Pörzberg geschlagen. | |
Wie gesagt: Die Verhältnisse sind kompliziert und die politischen | |
Koordinaten einigermaßen verwischt. Aber gerade deshalb wird das kommende | |
Jahr auch nochmal extra spannend, weil nach Iran, Jugoslawien und Kuba dann | |
erstmals Deutschland den folkloristischen Länderschwerpunkt des Festivals | |
stellt – und das kurz vor der Landtagswahl im Herbst. | |
15 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rudolstadt.de/ | |
[2] https://www.heidecksburg.de/ | |
[3] https://www.rudolstadt-festival.de/startseite.html | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Tanzfest_der_DDR | |
[5] /Buch-von-Bernhard-Hanneken/!5784910 | |
[6] /Weltmusikfestival-in-Rudolstadt/!5179734 | |
[7] /Baseballschlaegerjahre-in-Wernigerode/!5941578 | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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