# taz.de -- Gewaltprävention nach Silvesterrandale: Nicht wirklich der Kracher | |
> 20 Millionen Euro sollte es dieses Jahr zur Prävention von Jugendgewalt | |
> geben. Jetzt ist die Stimmung wieder mal explosiv, das Geld aber fließt | |
> nicht. | |
Bild: Noch hat es bei den versprochenen Hilfen nicht gezündet | |
BERLIN taz | Im Februar, unter dem frischen Eindruck der Silvesterkrawalle, | |
klang alles noch sehr dringlich: Zur Prävention von Jugendgewalt wollte der | |
Senat in diesem Jahr 20 Millionen Euro zur Verfügung stellen, 2024 sollten | |
dann noch mal 70 Millionen fließen. Bei zwei Gipfeln hatten die Beteiligten | |
sich auf [1][29 konkrete Maßnahmen verständigt, und sie zum großen Teil | |
auch schon mit den erforderlichen Summen] beziffert. So sollten etwa | |
600.000 Euro für Männerarbeit bereitgestellt werden – 200.000 für dieses, | |
400.000 für das kommende Jahr. Doch bisher ist [2][von dem Geld bei | |
maßgeblichen Akteur*innen fast nichts angekommen]: Bei der | |
Finanzverwaltung wurde gerade mal für ein einziges Projekt – es bietet | |
[3][minderjährigen Flüchtlingen eine Tagesstruktur] – ein „Teilbetrag“ … | |
rund 287.000 Euro abgerufen. Etwas mehr als ein Zehntel der im Februar in | |
Aussicht gestellten und im März vom Senat abgesegneten 20 Millionen. | |
Dabei schien gerade diese erste Tranche sicher. Franziska Giffey (SPD), | |
damals noch Regierende Bürgermeisterin der rot-grün-roten Koalition, | |
präsentierte Mitte März den [4][Senatsbeschluss, der die 20 Millionen für | |
2023 bewilligte]. Damals schienen eher die für 2024 eingeplanten weiteren | |
70 Millionen Euro zur Disposition zu stehen. Denn über die werde die neue | |
Koalition entscheiden, sagte Giffey. | |
Inzwischen regiert die schwarz-rote Koalition, und es wirkt so, als ob der | |
neue Senat es sehr viel zurückgelehnter angeht mit den Maßnahmen gegen | |
Jugendgewalt. In den Arbeitsgruppen rund um die Gipfel habe man die | |
Erkenntnis gewonnen, dass „die vorhandenen Programme und Strukturen als | |
Basis für die Maßnahmen zur Prävention von Jugendgewalt grundsätzlich gut | |
ausgebaut sind“, schreibt die Senatsverwaltung für Jugend, Bildung und | |
Familie auf Nachfrage der taz. Die Mittel – nun heißt es „bis zu 20 | |
Millionen“ – sollten daher vor allem „für die zielgruppenspezifische | |
Weiterentwicklung“ bestehender Programme verwendet werden. Das bedürfe | |
einiger Abstimmungen zwischen den Senatsverwaltungen und den Bezirken, | |
weshalb zunächst eine „Projektstruktur“ geschaffen worden sei. Die nächste | |
Sitzung dieser „Lenkungsgruppe“ stehe im August an. | |
Außerdem verweist die Senatsverwaltung darauf, dass 60 Stellen für | |
Sozialarbeit an Grundschulen ausgeschrieben worden seien. Mit dem | |
Senatsbeschluss zum Doppelhaushalt 2024/25 gebe es nun auch | |
Planungssicherheit. Endgültig beschlossen wird der Haushalt im Dezember. | |
## Initiativen hätten gern schon losgelegt | |
Projektträger, die am Ende tatsächlich mit Jugendlichen arbeiten sollen, | |
hätten dagegen gern schon längst losgelegt. „Wenn Monate vergehen, ohne | |
dass etwas passiert, dann kann man es auch lassen“, sagt Kazım Erdoğan, der | |
mit seinem Verein „Aufbruch Neukölln“ Männerarbeit macht und außerdem | |
Vorsitzender des Berliner Beirats für Familienfragen ist. Er sei | |
mittlerweile extrem enttäuscht. „Wir haben damals applaudiert, es sollte | |
schnell gehen“, sagt Erdoğan, der nach eigener Aussage selbst an beiden | |
Gipfeln teilgenommen hat. „Wenn die Zusagen vom Februar eingehalten worden | |
wären, dann hätten wir schon längst angefangen.“ | |
Anträge, Stellenausschreibungen und Projektskizzen, all das brauche | |
Vorlauf. Es sei besprochen worden, dass Träger aufsuchend arbeiten sollen, | |
also an die Orte gehen, an denen Jugendliche sich aufhalten, und sie | |
wollten auch mit den Elternhäusern in Kontakt kommen. | |
Dass jugendlicher Bewegungsdrang sich nicht nur zu Silvester entlädt, | |
zeigen aktuell die [5][Vorkommnisse im Columbia-Bad]. Wiederholt wurde das | |
Freibad wegen [6][Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und | |
Angestellten und Sicherheitsdienst geräumt]. In einem Brandbrief, über den | |
der Tagesspiegel berichtet hatte, schreiben Mitarbeiter*innen über | |
Bedrohungen und Übergriffe. Jugendliche hätten sich dabei auch auf die | |
Silvesternacht bezogen. Hier wäre aufsuchende Elternarbeit hilfreich, meint | |
Kazım Erdoğan. „Ich schreie seit Jahrzehnten, dass wir Kontakt zu den | |
Familien aufnehmen müssen“, sagt er. Wenn man es nicht schaffe, die Eltern | |
für diese Themen zu sensibilisieren, dann werde vieles auf der Strecke | |
bleiben. | |
## „Heiß ist es ja jetzt“ | |
„Wir sehen Signale, dass die Arbeit nach den Sommerferien endlich starten | |
kann“, sagt Elvira Berndt von [7][Gangway, einem Verein, der | |
Straßensozialarbeit] mit Jugendlichen macht. Sie glaube auch nicht, dass in | |
diesem Jahr noch 20 Millionen in die Gewaltprävention fließen, dafür sei | |
das Jahr zu weit fortgeschritten. „Aber man will ja die Strukturen stärken, | |
daher wäre es auch kontraproduktiv, wenn nun einfach Geld in Projekte | |
gepumpt wird und der Anschluss im kommenden Jahr nicht gesichert ist“, sagt | |
sie. Da sei mit den Eckpunkten zum kommenden Doppelhaushalt tatsächlich | |
vieles klarer. Auch dass sich die Finanzierung für die Bezirke nun genauer | |
abzeichne, trage zur Planbarkeit bei. „Kurzfristig könnten jetzt | |
Initiativen wie [8][Bleib Cool am Pool] gestärkt werden“, sagt sie mit | |
Blick auf die Vorfälle im Columbiabad. „Heiß ist es ja jetzt.“ | |
Wie aus den Antworten auf eine Kleine Anfrage an den Senat hervorgeht, hat | |
die [9][Landeskommission Berlin gegen Gewalt] außerdem an die Bezirke | |
Marzahn-Hellersdorf, Mitte, Neukölln, Spandau, Friedrichshain-Kreuzberg, | |
Lichtenberg und Reinickendorf je 100.000 Euro Sonderförderungen zugewiesen | |
für eine „kiezorientierte Gewalt- und Kriminalitätsprävention“, diese | |
Mittel könnten auch schon abgerufen werden. Allerdings sind dies Mittel, | |
über die die Landeskommission gegen Gewalt sowieso verfügt – und damit | |
keine Gelder, die nun zusätzlich fließen. | |
Die 20 Millionen seien aus ihrer Sicht „ein Papiertiger“, sagt Marianne | |
Burkert-Eulitz, Sprecherin für Familie und Bildung der Grünen-Fraktion im | |
Abgeordnetenhaus. Zu den Maßnahmen, die die Jugendsenatsverwaltung | |
auflistet, sagt sie, dass im Landesprogramm sowieso schon mehr | |
Schulsozialarbeiter*innen vorgesehen seien. | |
Und dass es mit den Projekten noch nicht weitergegangen sei, liegt aus | |
ihrer Sicht nicht am mangelnden Geld. „Wenn es dem Senat wirklich wichtig | |
wäre, hätte er schon längst Projekte aus dem laufenden Haushalt | |
aufgestockt, oder er hätte die 20 Millionen im Mai über einen | |
Nachtragshaushalt zur Verfügung stellen können“, sagt sie. „Der neue | |
Doppelhaushalt tritt zum 1. Januar in Kraft. Wenn Projekte dann erst | |
anfangen können zu planen, passiert frühestens im kommenden Sommer etwas – | |
eineinhalb Jahre nach den Vorfällen von Silvester“, sagt sie. | |
Offensichtlich habe der Senat inzwischen andere Prioritäten. | |
Den Eindruck äußert auch Kazım Erdoğan. Im Maßnahmenpapier vom Februar | |
heißt es, dass die Beteiligten im Oktober Zwischenbilanz ziehen wollten. | |
Dabei wolle man auch den Jahreswechsel 2023/2024 bereits in den Blick | |
nehmen. „Zwischenbilanz – wofür?“ fragt er. „Fürs Nichtstun?“ | |
17 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Reaktion-auf-Randale-an-Silvester/!5905124 | |
[2] /Debatte-ueber-Jugendgewalt/!5904835 | |
[3] https://www.s27.de/portfolio/lernwerkstaetten/ | |
[4] /Berliner-Landesregierung/!5918879 | |
[5] /Sommerbad-Neukoelln-geschlossen/!5943502 | |
[6] /Krawall-in-Berliner-Freibaedern/!5943627 | |
[7] https://gangway.de/ueber-uns/ | |
[8] /Sommer-in-Berlins-Baedern/!5086973 | |
[9] https://www.berlin.de/lb/lkbgg/ | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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