# taz.de -- Aufnahme von afghanischem Justizpersonal: Juristen fürchten Rache … | |
> Deutschland hat in Afghanistan Staatsanwälte ausgebildet. Viele von ihnen | |
> sind nun in Lebensgefahr. Doch die Bundesregierung blockiert ihre | |
> Aufnahme. | |
Bild: Checkpoint in Kabul: Die Taliban sind rachsüchtig und eine Gefahr für e… | |
FRIEDRICHSHAFEN taz | Romal M.* ist ein ehemaliger afghanischer | |
Staatsanwalt. Er habe seinen Beruf ernst genommen, erzählt er, sich für | |
Rechtsstaatlichkeit eingesetzt, gegen Schwerverbrecher ermittelt, vielfach | |
auf lebenslange Haftstrafen plädiert und diese oft durchsetzen können. | |
Unter den Verurteilten waren einige Taliban und ihnen nahestehende Täter, | |
die 2021 nach der Machtübernahme freikamen. | |
„Die suchen mich jetzt, um sich an mir zu rächen“, sagt M. und erklärt: | |
„Sie denken, dass ich derjenige bin, der ihnen das angetan hat. Sie | |
verstehen die Rolle eines Staatsanwalts nicht.“ Im Juli 2022 sei ein | |
Selbstmordattentat auf ihn verübt worden, das er mit Glück überlebt habe. | |
Danach sei er in den Iran geflüchtet, dort aber aufgegriffen, verprügelt | |
und dann wieder abgeschoben worden. Aktuell hält er sich mit Frau und | |
Kindern bei Verwandten versteckt. Eigenes Geld hätten sie nicht einmal mehr | |
für Lebensmittel; das Ersparte gaben sie für Visa ins Nachbarland Pakistan | |
aus. | |
Von Pakistan sollte es im vergangenen Frühjahr weiter nach Deutschland | |
gehen, Romal M. hatte eine Aufnahmezusage erhalten. Doch dann hieß es, dass | |
sein Fall seit dem 22. März erneut geprüft und die Zusage vorübergehend | |
ausgesetzt werde. Die Nachricht traf den 35-jährigen Familienvater wie ein | |
Schlag: „Ich war über Nacht nach Pakistan gereist, als ich morgens die | |
E-Mail entdeckte, dass ich dort keine Unterstützung erhalten würde“, | |
erinnert er sich. | |
Wenige Tage später sei er notgedrungen wieder nach Afghanistan | |
zurückgekehrt. Er und seine Angehörigen hoffen nun Tag für Tag auf eine | |
Nachricht aus Deutschland. „Ich stelle gern jederzeit weitere Unterlagen | |
zur Verfügung. Aber mir wird leider gar nichts zu dem aktuellen Verfahren | |
mitgeteilt und wie ich daran mitwirken könnte“, sagt er. | |
## Aufnahmezusagen auf Eis | |
Romal M. ist kein Einzelfall. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt | |
hat die Bundesrepublik in den letzten Monaten die Aufnahmezusagen für | |
mehrere Dutzend afghanische Juristen auf Eis gelegt. Tilly Sünkel von der | |
Organisation „Kabul Luftbrücke“, die sich seit der Machtübernahme der | |
Taliban für die Aufnahme Gefährdeter einsetzt, kommentiert die Lage: | |
„Angehörige des Justizsektors sind eine der am stärksten gefährdeten | |
Gruppen in Afghanistan. Genau aus diesem Grund haben viele ursprünglich und | |
gerechtfertigt eine Aufnahmezusage für Deutschland erhalten.“ | |
Die Tatsache, dass diese Zusagen jetzt kollektiv erneut in Prüfung seien | |
und damit derzeit ungültig, bezeichnet Sünkel als respektlos und | |
verantwortungslos. Die Betroffenen hätten zudem einen direkten Bezug zu | |
Deutschland: „Deutschland hat die Ausbildung von Juristen unterstützt, sie | |
wurde teilweise von deutschen Organisationen übernommen.“ | |
Sünkel führt die Maßnahme auf eine Kampagne in rechtspopulistischen Medien | |
zurück, der ein Leak eines Schreibens des deutschen Botschafters in | |
Pakistan im März vorausgegangen war. Darin war die Rede von | |
Missbrauchsversuchen bei Visaverfahren und dass sogenannte islamistische | |
Gefährder auf diesem Wege nach Deutschland gelangen könnten. Schon wenig | |
später versuchte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Christofer Burger, die | |
Wogen zu glätten: „Nein, es sind nicht reihenweise Scharia-Richter nach | |
Deutschland gekommen.“ Auch sonst habe es sich bei den Missbrauchsversuchen | |
um das gehandelt, was man als „täglich Brot“ von allen Auslandsvertretungen | |
kenne. | |
Trotzdem wurden die Visavergabe an sowie die Ausreisen von gefährdeten | |
Personen aus Afghanistan nach Deutschland [1][Ende März ausgesetzt]. Erst | |
Ende Juni liefen sie wieder an, tausende Betroffene [2][sitzen weiterhin in | |
Afghanistan und den Nachbarländern fest]. | |
## Schlechte Kommunikation und achtloser Umgang | |
Die Missbrauchsvorwürfe führten also offenbar auch dazu, dass die | |
schutzsuchenden Juristen aus Afghanistan überprüft werden sollten. Das | |
Auswärtige Amt (AA) und das Bundesinnenministerium (BMI) wollen das nicht | |
bestätigen; eine Sprecherin verweist auf das Statement von Burger. Die | |
schlechte Kommunikation ist ein großes Problem, wie Sünkel kritisiert: | |
„Hilfsorganisationen erfahren neue Regelungen nur aus den Nachrichten, | |
betroffene Personen finden wochenlang keine Infos auf den Webseiten der | |
Botschaften.“ | |
Mit der Aufnahme der bedrohten Menschen werde umgegangen, als handele es | |
sich um einen Gefallen: „Als hätten wir keinen chaotischen Truppenabzug | |
hingelegt und tausende Verbündete zurückgelassen.“ | |
## Hinter vielen Fällen steht eine ganze Familie | |
Mindestens fünfzig Fälle von Juristen, deren Aufnahmezusagen vorübergehend | |
ihre Wirkung verloren haben, sind „Kabul Luftbrücke“ bekannt. Hinter jedem | |
Fall stehen mehrere Betroffene: Zu jeder sogenannten Hauptperson gehört | |
auch deren Familie. Samir A.* etwa, ebenfalls ehemaliger Staatsanwalt, | |
sucht Schutz auch für seine schwangere Ehefrau und seine vier Kinder – das | |
älteste ist elf Jahre alt. Noch im März sah es gut für ihn aus, er erhielt | |
eine Aufnahmezusage und die Anweisung, sich selbst um die Visa zur Ausreise | |
über die Drittländer Iran oder Pakistan zu kümmern. | |
Wenig später war alles bereit, doch dann kam der Ausreisestopp. Er bat um | |
Hilfe, schrieb an die deutschen Botschaften in beiden Ländern, das AA und | |
die Servicestelle der Bundesregierung, die ihm die Zusage zugeschickt | |
hatte. „Statt Hilfe erhielt ich widersprüchliche Informationen“, schildert | |
er. | |
So habe er einerseits eine standardisierte E-Mail erhalten, die ihn über | |
den Ausreisestopp informierte, mit der beschwichtigenden Anmerkung, dass | |
davon nicht die generelle Zusage betroffen sei. Andererseits erreichte ihn | |
eine persönliche Nachricht, dass ihm und seiner Familie aktuell keine | |
Unterstützung zustehe; auch nicht vorübergehend im Drittland, da seine | |
Aufnahme erneut geprüft werde. | |
„Ich mache mir große Sorgen um meine Frau. Ich möchte, dass sie ihr Kind in | |
Sicherheit bekommen kann und die nötige medizinische Versorgung erhält“, | |
betont Samir A. Wie es um die erneute Prüfung seines Falls steht, weiß er | |
nicht. Zuletzt wurde er gebeten, von weiteren Nachfragen abzusehen. | |
## Auswärtiges Amt pocht auf Sicherheit | |
Das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt wollen die Überprüfung | |
der Juristen nicht kommentieren und äußern sich nur allgemein zu den | |
Prüfverfahren von Zusagen. Wie diese im Idealfall verlaufen und wie lange | |
sie dauern, bleibt offen. Aus dem BMI heißt es: „In jeder Phase der Prüfung | |
kann es zu einem Ausschluss aus dem Verfahren kommen, wenn sich | |
entsprechende Erkenntnisse ergeben.“ Über diese Rahmenbedingungen würden | |
die Personen umfassend vor dem Beginn des Ausreiseprozesses informiert. | |
Eine Sprecherin des Auswärtigen Amts ergänzt: „Sicherheit hat oberste | |
Priorität. Zugleich ist sich die Bundesregierung aber natürlich auch der | |
Bedrohungslagen bewusst, in denen sich die Aufnahmesuchenden befinden.“ Die | |
Bundesregierung arbeite daher kontinuierlich an der Optimierung der | |
Prozesse. | |
Roshan P.* hat das anders erlebt. Er erhielt eine Aufnahmezusage Anfang | |
März, drei Wochen später wurde ihm mitgeteilt, dass diese erneut geprüft | |
werde. Da hatte er allerdings bereits für viel Geld pakistanische Visa | |
beantragt und diese auch erhalten; 1.000 Dollar zahlte er pro | |
Familienmitglied. „Ich erhielt die Information erst, nachdem ich der GIZ | |
mitgeteilt hatte, dass ich nun Visa für meine ganze Familie hätte“, | |
berichtet er. Die E-Mail habe keinerlei Infos darüber erhalten, wie genau | |
der Überprüfungsprozess vonstattengehen soll. | |
Erst Anfang Juli wurde Roshan P. erneut kontaktiert; von einer unbekannten | |
Telefonnummer. Ein Mann rief an, der iranisches Persisch sprach und nach | |
seinen Ausbildungsunterlagen fragte. Diese solle er per E-Mail schicken. | |
Auf Rückfragen habe er nicht reagiert. Roshan P. nutzte die Gelegenheit, in | |
der E-Mail mit seinen Unterlagen erneut nachzuhaken, wie lange die | |
Überprüfung noch dauern werde. Eine Antwort hat er bislang nicht erhalten. | |
*Namen von der Redaktion geändert | |
13 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lena Reiner | |
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