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# taz.de -- Israel billigt Teil der Justizreform: Mit voller Kraft in die Krise
> Israel hat den ersten Teil der Justizreform angenommen. Zuvor waren
> Kompromissversuche gescheitert. Nach dem Sommer geht es weiter.
Bild: Getrieben von seinen Koalitionspartnern: Netanjahu am Montag in der Kness…
Berlin taz | Man wüsste gern, was Netanjahus Arzt dem israelischen
Regierungschef geraten hat. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es nicht das,
was den 73-Jährigen am Montag erwartete, als er sich mit frisch
eingesetztem Herzschrittmacher direkt aus dem Krankenhaus wieder in die
israelische Politik stürzte.
Vor dem Parlament in Jerusalem trieben Wasserwerfer hunderte
Demonstrierende auseinander, die dort kampiert hatten und nun den Eingang
blockierten. Mehrere Personen wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus
eingeliefert, erneut gab es Festnahmen.
Das eigentliche Drama aber spielte sich im Innern der Knesset ab. Am
Nachmittag billigte das Parlament das erste Kernelement der seit Monaten
umkämpften Justizreform. 64 Abgeordnete stimmten für die Abschaffung der
sogenannten Angemessenheitsklausel, die restlichen 56 boykottierten das
Votum und verließen den Saal. Zuvor waren Versuche gescheitert, in letzter
Minute doch noch einen Kompromiss zu finden. „Mit dieser Regierung ist es
unmöglich, Vereinbarungen zu treffen, die die israelische Demokratie
bewahren“, so Oppositionsführer Jair Lapid.
Während andere Teile der anvisierten Justizreform derzeit eingefroren sind,
geht es bei der am Montag beschlossenen Abschaffung der sogenannten
Angemessenheitsklausel um eine wichtige Befugnis des Obersten Gerichts. Die
Klausel hat dem Gericht bislang die Möglichkeit gegeben, Entscheidungen von
Regierungsmitgliedern und anderen Amtsträgern als „unangemessen“
einzustufen, wenn sie nach Meinung der Richter*innen nicht im Interesse
der Allgemeinheit sind.
Justiz kann nicht mehr so leicht dazwischenfunken
Sobald die neue Regelung in Kraft tritt, heißt das: Wenn die Regierung eine
umstrittene Personalie auf einen bestimmten Posten hieven will, wird die
Justiz ihr nicht mehr so leicht dazwischenfunken können. Andere Wege der
Kontrolle bleiben der Justiz allerdings offen. „Wir haben den ersten
Schritt in einem historischen Prozess getan, um das Justizsystem zu
korrigieren“, jubelte Justizminister Jariv Levin nach der Abstimmung.
Das Oberste Gericht hatte zuletzt Anfang des Jahres von der
Angemessenheitsklausel Gebrauch gemacht: [1][Es stufte die Ernennung von
Arie Deri, des Vorsitzenden der Koalitionspartei Schas, zum Innenminister
der damals neuen Netanjahu-Regierung als „unangemessen“ ein].
Deri, ein loyaler Verbündeter Netanjahus, war in der Vergangenheit dreimal
verurteilt worden, unter anderem wegen Steuerhinterziehung und Bestechung.
Das Gericht entschied, dass er nicht geeignet sei, der Allgemeinheit „loyal
und gesetzestreu zu dienen“. Nach der Gerichtsentscheidung musste der
Regierungschef sich dem Druck beugen und Deri entlassen.
Die am Montag beschlossene Gesetzesänderung ist nur ein Teil der geplanten
umfassenden Neugestaltung des israelischen Justizwesens und des
Rechtsstaats. Die Reform soll die Justiz des Landes schwächen und im
Gegenzug der Regierung und dem Parlament deutlich mehr Handlungsspielraum
einräumen.
Netanjahu ist ein Getriebener
Während das Reformvorhaben das Land in eine schwere innenpolitische Krise
gestürzt hat, scheint dem Regierungschef zunehmend die Kontrolle zu
entgleiten. Nicht nur hat Netanjahu weite Teile der Bevölkerung gegen sich
und seine Regierung aufgebracht.
Auch rief ein Zusammenschluss von 150 großen israelischen Unternehmen einen
Streik aus. Am Montag blieben einige Einkaufszentren, Tankstellen und
Banken geschlossen. Außerdem – besonders heikel in einem kleinen, von außen
bedrohten Staat wie Israel – haben Teile der Streitkräfte mit einem Boykott
gedroht für den Fall, dass die Reform der Angemessenheitsklausel angenommen
wird.
Aber auch innerhalb seiner eigenen Koalition scheint Netanjahu zunehmend
der Getriebene zu sein. Der Minister für Nationale Sicherheit, der rechte
Hardliner Itamar Ben-Gvir, hatte vor der Abstimmung am Montag erneut seine
Muskeln spielen lassen: „Jeder Abstimmungskompromiss über das
Angemessenheitsgesetz wäre eine Schande für den gesamten rechten Flügel“,
sagte er. Israelische Medien berichteten am frühen Nachmittag unter
Berufung auf Quellen in der Regierungskoalition, dass Ben-Gvir und
Justizminister Levin sogar gedroht hatten, die Regierung platzen zu lassen,
sollte die Gesetzesänderung abgeschwächt werden.
Ein Zerplatzen der Regierungskoalition inmitten des aktuellen Chaos könnte
für den vielmaligen Regierungschef Netanjahu das endgültige politische Aus
bedeuten. Netanjahu bekommt nun die Rechnung dafür präsentiert, dass er
sein eigenes politisches Überleben (mit dem aufgrund eines
Korruptionsprozesses auch persönliche Interessen verbunden sind) rechten
Hardlinern in die Hände gelegt hat, die sich nun als unwillig erweisen,
beim geplanten Umbau des Staates Kompromisse zu machen.
Der israelische Analyst Anshel Pfeffer äußerte am Montag, Netanjahu habe
jeglichen Einfluss darauf verloren, wie „die verhängnisvollste
innenpolitische Krise in Israels Geschichte“ ausgeht. „Er ist nun der
schwächste Regierungschef, den Israel je hatte“, [2][schreibt Pfeffer in
der Tageszeitung Haaretz]. „Benjamin Netanjahu ist irrelevant geworden.“
Nach der Sommerpause soll es weitergehen
Dass die Lage sich in den letzten Tagen derart zugespitzt hat, liegt auch
daran, dass das israelische Parlament ab nächster Woche bis Oktober in der
Sommerpause ist. Die Regierung wollte offenbar noch zuvor zumindest einen
Teil der Justizreform in trockene Tücher bringen.
Denn andere Reformvorhaben liegen aktuell auf Eis, was nicht zuletzt auf
den Druck der Protestbewegung zurückzuführen ist. Seit mehr als sieben
Monaten gehen wöchentlich zehn- bis hunderttausende Menschen auf die
Straße, um für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu demonstrieren. Sie
sehen in der Schwächung der Justiz die Gefahr, dass die Gewaltenteilung
faktisch abgeschafft wird.
Nicht vom Tisch, aber in der Schwebe ist derweil beispielsweise ein anderer
zentraler Teil der Justizreform: die höchst umstrittene [3][Regelung, der
zufolge das Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichts künftig
überstimmen könnte] beziehungsweise bestimmte Gesetze verabschieden könnte,
die von vornherein von der Kontrolle durch die Justiz ausgenommen sind. Die
diesbezügliche Gesetzgebung wurde im März zunächst vertagt und wird aktuell
nicht weiter vorangetrieben.
Ebenfalls in Warteposition ist ein dritter zentraler Streitpunkt: die
Reform des Komitees, das für die Ernennung von Richter*innen zuständig
ist. Das Gremium ist zusammengesetzt aus Vertretern aus Politik und Justiz.
Die Regierung möchte dem Lager der politischen Vertreter – und damit der
jeweils regierenden Koalition – mehr Macht geben. Die Gesetzesänderung soll
erst ab Oktober wieder angegangen werden.
24 Jul 2023
## LINKS
[1] /Regierungskrise-in-Israel/!5906661
[2] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-07-24/ty-article/.premium/netanyah…
[3] /Proteste-gegen-Justizreform/!5906107
## AUTOREN
Jannis Hagmann
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