# taz.de -- 50 Jahre Berliner Drogenhilfe: „Da kommt noch einiges auf uns zu�… | |
> Von der Tinke zum Ecstasy: Der Psychologe Andy Ruf hat am 7.7.1973 | |
> Berlins erste Drogenberatungsstelle mitgegründet. Ein Resümee zu 50 | |
> Jahren Drogen. | |
Bild: Jugendliche, damals auch „Gammler“ genannt, im Sommer 1973 an der Kai… | |
taz: Herr Ruf, die erste Drogenberatungsstelle Berlins wird heute 50 Jahre | |
alt. Sie waren damals dabei. Wie muss man sich die Anfänge vorstellen? | |
Andy Ruf: Für uns alle war das absolutes Neuland. Es gab keinerlei | |
Erfahrung im Umgang mit jungen Erwachsenen, die harte Drogen konsumierten, | |
nur das, was man aus den USA gehört hatte. | |
Wie groß war die Berliner Drogenszene damals? | |
Ziemlich überschaubar, [1][kein Vergleich zu heute]. Mehr oder weniger | |
waren das Studenten und Oberschüler, später auch Lehrlinge. Angefangen | |
hatte das Ende der 60er Jahre mit der Studentenbewegung, der | |
außerparlamentarischen Opposition, Kommune 1. Beeinflusst auch durch die | |
Popmusik, die Hippie-Bewegung, Woodstock. Es gab den Zentralrat der | |
umherschweifenden Haschrebellen, es gab Slogans wie: „Haschisch, Opium, | |
Heroin – für ein schwarzes Westberlin“! Es gab Schwerpunkte, wo man sich | |
getroffen hat: Bahnhof Zoo, Café Kranzler am Kudamm und die TU-Mensa. Es | |
gab die Gammler, die wollten damals schon aus der Gesellschaft aussteigen, | |
sie saßen an der Gedächtniskirche und haben Empörung erweckt bei den | |
Berliner Bürgern nach dem Motto: „Geht doch nach drüben.“ | |
Damit war Ostberlin gemeint, das war ja zu Mauerzeiten. Wo kamen die Drogen | |
her? | |
Die waren von Reisen nach Afghanistan und Indien mitgebracht worden. Am | |
Anfang war der Handel in Berlin mehr oder weniger in Freundschaftskreisen | |
ohne großes Profitdenken. Das hat sich dann verändert, als die sogenannte | |
Berliner Tinke hergestellt wurde. | |
Was war das? | |
Das war eine Morphinbase mit Essigsäure gemischt. Damit gab es die ersten | |
Fixer, die sich diese Droge auch gespritzt haben. Anfang der 70er tauchten | |
die ersten organisierten Banden auf. Deutsche und Iraner, Perser, wie man | |
damals sagte, haben den Markt für Heroin erschlossen. Die Berliner Tinke | |
ist damit allmählich verschwunden. Es gab immer Todesfälle. Auch die | |
Berliner Tinke war ja gepanschtes Zeug. | |
Wer kam auf die Idee mit der Drogenberatungsstelle? | |
Wir waren eine Gruppe von Psychologiestudenten und haben uns neben unserem | |
Studium in diesem Bereich engagiert. Das war spannend, man steckte ja | |
selbst in der Studenten- und Hippie-Bewegung drin. | |
Haben Sie damals auch selber Drogen genommen? | |
Alkohol, klar. Das Ganze kam so, dass wir als Studenten 1972 einen, wie | |
soll man das nennen, Einsatz im „Unlimited“ hatten. Das war eine Diskothek, | |
das spätere „Sound“. Im „Unlimited“ hatte es immer wieder wieder | |
Drogen-Razzien der Polizei gegeben. Der Besitzer hatte die Idee, in zwei | |
Nebenräumen der Diskothek eine Beratungsstelle einzurichten für | |
Drogenabhängige und die Besucher. Es gab einen Aushang, wer das freiwillig | |
machen möchte. Da haben wir uns beworben und dann im „Unlimited“ | |
ehrenamtlich Kontaktarbeit gemacht. Das war ein kurzes Intermezzo. Der | |
Laden wurde trotzdem geschlossen, und wir damit auch. Aber damit waren wir | |
mit der Thematik konfrontiert. | |
Am 7. Juli 1973 wurde dann die erste Berliner Drogenberatungsstelle in | |
Lichterfelde eröffnet. Eine Einrichtung der Caritas, einem Verband der | |
katholischen Kirche, wohlgemerkt. | |
Ja, das muss man der Kirche hoch anrechnen. In der besagten Einrichtung gab | |
es zuvor schon eine Alkoholberatungsstelle mit einem Berater. Über | |
Studienkollegen hatten wir zu ihm Kontakt. In dieser Zeit sind in Berlin | |
dann noch weitere Projekte entstanden. Ich habe dann mit anderen auch eine | |
therapeutische Wohngemeinschaft, das Drogeninfo, mitgegründet und | |
-aufgebaut. Und auch der Caritasverband hat im Jahr 1973 eine erste | |
therapeutische Wohngemeinschaft gegründet. | |
Ging es darum, die Leute zu Abstinenz zu bewegen? | |
Nicht so dogmatisch, aber letztendlich war das schon der Leitgedanke, den | |
Betroffenen den Weg des Ausstiegs zu ermöglichen. Der Abstinenzgedanke hat | |
sich sukzessive entwickelt. Man hat zunächst viel experimentiert in den | |
ersten therapeutischen Gemeinschaften, weil man noch keine Erfahrungen und | |
Regelungen hatte, wie man mit der Thematik am besten umging. | |
Geht das genauer? | |
Dass man ein absolut cleanes Ambiente schaffen muss, hat sich erst während | |
der ersten Jahre herauskristallisiert. Am Anfang war noch nicht klar, ob | |
Betreuer, die in der WG in Kontakt mit den Abhängigen sind, Alkohol trinken | |
oder auch mal einen Joint rauchen dürfen. Auch Bewohner, die rückfällig | |
geworden sind, hat man wieder in der WG aufgenommen. | |
Aber? | |
Man hat gelernt, dass dieser Abstinenzgedanke – zumindest im | |
therapeutischen Setting – absolut notwendig ist. Es ist einfach so, wenn | |
man abhängig ist: Man leckt Blut, auch wenn ständig über Rückfall geredet | |
wird. Das hat leider den Effekt bei Süchtigen, dass sie dann selber wieder | |
scharf drauf werden: Ach, dann gönne ich mir auch mal einen Rückfall. Es | |
ging darum, die Gruppe zu stärken, und deshalb gab es dann auch die harten | |
Entscheidungen. | |
Wer Drogen nimmt, fliegt aus der WG? | |
Richtig. | |
Wie lange war Heroin in Berlin die dominierende Droge? | |
1972 gab es den ersten Bandenkrieg zwischen Iranern und Deutschen in der | |
Bleibtreustraße mit einem Toten. Der Markt wurde aufgeteilt. Heroin war bis | |
in die 80er vorherrschend. Dann kamen vorrangig Amphetamine, Kokain. Mit | |
den ursprünglichen Heroinabhängigen, den Junkies, hatte das aber nicht | |
wirklich was zu tun. | |
Wer war da die Zielgruppe? | |
Amphetamine und Kokain sind Leistungsdrogen für ein ganz anderes Klientel, | |
sie gelten als Stimulantien für erfolgreiche Menschen. Diese Drogen haben | |
sich in der Gesellschaft inzwischen etabliert. Mit dem Fall der Mauer kamen | |
auch junge Erwachsene, die nicht diese Drogenerfahrung, aber mit Alkohol zu | |
tun hatten. Über die Alkoholproblematik kam es dann auch zu dem Komasaufen | |
der Jugendlichen. Dann trat immer häufiger Mischkonsum auf. Es wurde | |
eigentlich alles konsumiert nach dem Motto: Hauptsache, es knallt. Und in | |
den letzten Jahren wurden immer mehr Ecstasy und Designerdrogen konsumiert. | |
Ich denke, da wird noch einiges auf uns zukommen. | |
Es gab kürzlich drei Todesfälle durch [2][Ecstasy, Sorte „Blue Punisher“]. | |
Hat Sie das überrascht? | |
Bei Drogen weiß man eigentlich nie, wie stark sie sind. Man weiß nie, was | |
drin ist. Das war früher bei den Halluzinogenen auch so. Die gab es auf | |
Löschpapier oder sonst wie. Für den einen ist die Dosis okay, bei anderen | |
wirkt sie gar nicht, oder sie hat vielleicht die doppelte Wirkung. Bei | |
Drogenkonsum gab und gibt es deshalb immer wieder Todesfälle. | |
In Berlin gibt es jetzt endlich [3][die Möglichkeit zum Drug-Checking]. Das | |
vom Senat finanzierte Projekt für Drogentests war politisch hart erkämpft | |
worden. Was halten Sie davon? | |
Das ist ein sinnvolles Angebot, um die Konsumenten aufzuklären, was der | |
Inhalt ihrer erworbenen Substanzen ist, wie stark die Dosis ist. Das | |
Angebot kann dazu beitragen, dass es zu weniger Überdosierungen und | |
Todesfällen kommt. | |
Es ist vermutlich kein Zufall, dass wir überhaupt noch nicht über Cannabis | |
gesprochen haben. Nach wie vor gibt es Leute, die werfen Cannabis mit | |
harten Drogen in einen Topf. Im Sinne von: Es handele sich um eine | |
gefährliche Einstiegsdroge. Wie sehen Sie das? | |
Diesen Standpunkt habe ich nie vertreten. [4][Ich sehe in der | |
Liberalisierung den richtigen Weg]. Man muss aber Prävention und Aufklärung | |
betreiben und unterscheiden: Wer konsumiert die Droge? Auf jeden Fall | |
sollten keine Kinder und Jugendlichen Cannabis konsumieren, denn das ist | |
für ihre körperliche und geistige Entwicklung nicht förderlich. Aber für | |
Erwachsene? Cannabis hat sich doch in der Gesellschaft letztendlich | |
etabliert. Jemanden zu kriminalisieren, weil er einen Joint raucht oder | |
eine Pflanze auf dem Balkon hat, halte ich nicht für richtig. | |
Wenn Sie Fazit ziehen nach rund 50 Jahren Drogenarbeit: Wie gut ist die | |
Projektlandschaft in Berlin heute aufgestellt? | |
Wir haben inzwischen einen sehr professionellen Umgang mit der Problematik, | |
es gibt genügend Einrichtungen und Hilfsangebote, auch unterschiedlicher | |
Art. Die Vielfalt der ersten 10, 20 Jahre hat durch die Umstellung der | |
Finanzierung, vom Berliner Senat auf die Rentenversicherungsträger, zwar | |
ein wenig gelitten … | |
... die Rentenversicherungsträger finanzieren die Drogentherapie. | |
Einige Einrichtungen, die die Standards nicht erfüllen konnten oder | |
wollten, sind aus der Finanzierung rausgefallen und mussten schließen. Aber | |
grundsätzlich ist nach 50 Jahren in Deutschland ein gutes Hilfesystem in | |
Berlin entstanden, das Begleitung, Therapie und Nachsorge sowie Angebote | |
zur Arbeit und Ausbildung für die Betroffenen vorhält. Auch ambulante | |
Therapie wird jetzt finanziert und steht den Klienten zur Verfügung. Also | |
da ist schon eine Menge passiert. | |
Jede Droge hat ihre Zeit? | |
Das ist so. Mein Eindruck ist allerdings, dass es immer mehr | |
unterschiedliche Drogen gibt, die angeboten werden. Mit Drogen lässt sich | |
auf der Welt sehr viel Geld verdienen. Die Gewinnspannen beim Drogenhandel | |
sind immens, die Herstellung der Substanzen ist kostengünstig, das betrifft | |
auch gerade die chemischen Drogen. | |
Wie hat der Umgang mit Abhängigen Ihr eigenes Verhältnis zu Suchtmitteln | |
geprägt? | |
Ich rauche und trinke ab und an etwas, aber versuche mich | |
gesundheitsbewusst zu verhalten, und gut ist. | |
7 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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