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# taz.de -- Auf dem Straßenstrich in Berlin: Selbstbestimmt und ausgebeutet
> Der Verkauf von Sex ist in Deutschland legal. Zuhälter müssen kaum mit
> strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Kann ein Sexkaufverbot helfen?
Bild: Arbeitsgerät: Schuhe einer Prostituierten auf der Kurfürstenstraße in …
Die Abendsonne brennt auf den Asphalt der Kurfürstenstraße in Berlin-Mitte,
als Daria durch die Tür des Vereins Neustart kommt. Sie trägt eine
Jogginghose und Cap, ihre Haare sehen zerzaust, ihr Gesicht müde aus. Daria
geht schnurstracks auf die „Zum Mitnehmen“-Kiste zu, holt eine bunte Kette
heraus und wirft sie einer Frau auf der Couch zu. Sie wirkt aufgedreht,
ihre Augen blicken nervös durch den Raum, bevor sie sich hinsetzt, um ein
belegtes Brötchen zu essen. Der Verein ist eine gemütliche, kleine
Erdgeschosswohnung mit mehreren Sofas sowie einer Einbauküche. Hier
bekommen Sexarbeiter:innen dreimal die Woche kostenlos Essen und
Getränke.
Daria lebt seit etwa 15 Jahren in Berlin, so ganz weiß sie das aber selbst
nicht mehr. Ihren Weg in die Hauptstadt findet sie über einen Bekannten,
der ihr einen Job als Prostituierte in Berlin verspricht. In Bulgarien hat
sie zuvor auch als Prostituierte gearbeitet. Daria spricht kaum Deutsch,
eine Sozialarbeiterin hilft bei der Übersetzung. Mehr als ihr halbes Leben
ist sie schon in diesem Beruf, doch es fällt ihr noch immer schwer, ihren
Körper zu verkaufen. „Ich würde lieber als Putzfrau arbeiten“, sagt sie.
Daria ist wohl der Typ Prostituierte, den man meint, wenn [1][in
Deutschland über Armutsprostitution gesprochen] wird. Wie viele andere
Frauen aus Osteuropa kam Daria nach Deutschland, um hier Geld zu verdienen.
Der Verkauf von Sex ist in Deutschland legal, er ist geregelt über das
Prostitutionsschutzgesetz. Kritiker:innen des Gesetzes behaupten,
Deutschland habe sich seit der Legalisierung vor mehr als 20 Jahren zum
„größten Bordell Europas“ entwickelt; Frauen würden Opfer von sexueller
Ausbeutung. Sie fordern deshalb ein sogenanntes Nordisches Modell, bei dem
sich Freier mit dem Kauf von Sex strafbar machen. Die Sexabeiter:innen
selbst werden dabei nicht kriminalisiert. In Schweden und Frankreich gibt
es bereits ein solches Modell.
In Deutschland fordern Teile der SPD schon länger [2][ein Sexkaufverbot],
die Grünen und die FDP stehen dem Modell eher skeptisch gegenüber. Andere
fordern im Gegenteil eine Entkriminalisierung der bisherigen Regelungen, um
so Sexarbeiter:innen weniger zu stigmatisieren. Derzeit wird das
Gesetz evaluiert. Doch was sagen eigentlich Frauen wie Daria dazu? Und gibt
es womöglich andere politische Lösungen, um die Situation von
Sexarbeiter:innen in Deutschland zu verbessern?
Daria lebt wie ein Phantom in der Stadt, kämpft sich permanent durch. Ohne
Papiere und ohne eine offizielle Anmeldung hat die 47-Jährige keinen
Anspruch auf Sozialleistungen, sie will deshalb auch anonym bleiben.
Anfangs arbeitete sie noch in einer Bar in der Kantstraße im Bezirk
Charlottenburg-Wilmersdorf. Sie hatte eine Wohnung, musste dort aber ihrem
Zuhälter die Hälfte ihres Gehalts abgeben. Seit einigen Jahren ist sie
obdachlos und verdient ihr Geld weiterhin in der Prostitution. Sich von
ihrem Zuhälter zu lösen, war ihre eigene Entscheidung. Sie kennt aber auch
Frauen, die nicht von ihrem Zuhälter loskommen.
Das kann verschiedene Gründe haben. Manche Prostituierte sind von ihrem
Zuhälter emotional abhängig. Sie denken beispielsweise, dass sie ohne ihren
Zuhälter in Deutschland nicht klarkommen. Andere werden psychisch unter
Druck gesetzt. Wirklich gewaltsam in die Prostitution gezwungen werden
wenige, die Beziehung und das Abhängigkeitsverhältnis sind meist komplex,
was auch die Strafverfolgung erschwert.
Daria muss zweimal am Tag einen Kunden treffen, um zu überleben. Nicht weil
es ein Job ist, der ihr Spaß macht. Deshalb wird sie in diesem Text auch
Prostituierte genannt und nicht Sexarbeiterin, denn mit Selbstbestimmung
hat ihre Geschichte wenig zu tun. Fragt man Daria, was ihr helfen würde,
sagt sie sofort: eine Wohnung.
Der Verein Neustart bietet seit März 2022 eine sogenannte Ausstiegswohnung
an, hier können Frauen ein paar Monate kostenlos wohnen. Doch für soziale
Angebote wie diese kommt Daria nicht infrage: Die Frauen müssen clean sein,
um dort leben zu können, da der Verein keine 24-Stunden-Betreuung anbieten
kann. Daria konsumiert aber seit einigen Jahren Crystal Meth.
Darias Geschichte zeigt, wie komplex die Probleme sind, denen vor allem
Sexarbeiter:innen, die unter prekären Bedingungen arbeiten, ausgesetzt
sind. Denn oft gehen Sexarbeit, Armut und Wohnungslosigkeit an der
Kurfürstenstraße Hand in Hand. „Wir haben schon mal versucht, Daria über
einen Drogenentzug zu helfen, von der Straße zu kommen“, erzählt Gerhard
Schönborn vom Verein Neustart. Doch sie hatte einen Rückfall. Laut dem
Streetworker gibt es auf dem Straßenstrich einen immensen Anstieg beim
Konsum von Crystal Meth. „Die Verelendung hat hier in den letzten Jahren
zugenommen“, sagt der 61-Jährige, der seit 19 Jahren als Streetworker auf
der Kurfürstenstraße unterwegs ist.
In Deutschland müssen Sexarbeiter:innen nach dem
Prostituiertenschutzgesetz registriert sein. Die Bundesregierung schätzt,
dass es bis zu 400.000 Sexarbeiter:innen in Deutschland gibt. Nur etwa
23.700 sind offiziell gemeldet, vier Fünftel davon haben keine deutsche
Staatsbürgerschaft. Um sich als Sexarbeiter:in zu registrieren, muss
man sich einer jährlichen Gesundheitsberatung unterziehen. Einige
Sexarbeiter:innen halten die Registrierung für überflüssig, weil ihnen
der sogenannte Hurenausweis keinen Vorteil bringt. Andere haben Angst, dass
ihre Daten weitergegeben werden. Prostituierte wie Daria, die ganz ohne
Papiere im Land sind, gehören zu all jenen Prostituierten, die im großen
statistischen Dunkelfeld arbeiten.
Etwa 100 Frauen kommen pro Woche in den Verein Neustart. Die meisten Frauen
kommen aus Bulgarien, Rumänien, ein paar Deutsche sind auch dabei. In der
Ausstiegswohnung des Vereins wohnen derzeit drei Frauen kostenlos. Sofern
sie keine Sozialleistungen bekommen, erhalten sie von dem Verein ein
monatliches Taschengeld von 400 Euro, angelehnt an das Bürgergeld. Einige
sind trotzdem noch weiter in der Sexarbeit tätig, weil sie beispielsweise
Geld an ihre Familien in den Herkunftsländern schicken müssen.
In den Wohnungen sollen sie zur Ruhe kommen. Sie sollen Zeit haben, sich
anzumelden, Sozialleistungen zu beantragen sowie eine Krankenversicherung.
Eigentlich war die Idee, dass die Frauen dort nur für drei Monate bleiben.
Doch es zeigte sich schnell: Die Frauen brauchen mehr Zeit. Eine der Frauen
wohnt mittlerweile seit mehr als einem Jahr dort. „Wenn die Frauen erst mal
aus diesem Modus des Funktionierens raus sind, dann kommen körperliche
Beschwerden und psychische Probleme auf“, sagt eine der Sozialarbeiterinnen
von Neustart.
Auch Elena ist an diesem Montag in den Verein gekommen. „Stell mir auch
Fragen, ich will berühmt werden“, ruft sie der Journalistin lachend zu.
Auch sie möchte anonym bleiben. Elena trägt ein pinkes Kleid, mit silbernen
Glitzerelementen entlang des Kragens. Sie ist eine trans-Frau und nach
Deutschland gekommen, weil sie die Stigmatisierung in ihrem Heimatland
nicht mehr ausgehalten hat. Dort wurde sie aufgrund ihrer sexuellen
Identität teils auf der Straße verfolgt und zusammengeschlagen. Ihre
Familie will sie nicht als Frau akzeptieren. Deshalb ist sie nach Berlin
gekommen.
Elena arbeitet seit über zehn Jahren in der Sexarbeit. Mit ihren Kunden
verabredet sie sich meist privat, auf der Kurfürstenstraße ist sie nur
unterwegs, wenn sie etwas mehr Geld dazuverdienen will. „Die Kunden haben
sich verändert, früher waren alle nett, mittlerweile sind viele aggressiv
und nehmen Drogen“, sagt sie.
Anders als Daria ist sie nicht obdachlos, sie lebt in einem Frauenwohnheim
in Wedding. Die 35-Jährige ist offiziell als Prostituierte registriert und
macht einen Deutschkurs, den sie aus eigener Tasche bezahlt. Gerade ist sie
auf der Suche nach einer Wohnung. Am liebsten würde sie eine Ausbildung zur
Maskenbildnerin machen, aber mit der Sexarbeit will sie nicht aufhören.
„Ich liebe meinen Beruf, er macht mir Spaß“, sagt sie. „Und ich liebe
Männer“, fügt sie hinzu.
Elena mag es, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, der Sex spielt dabei
nur eine Nebenrolle. Aber auch sie berichtet von schlimmen Erfahrungen:
Kunden hätten sie ausgeraubt oder geschlagen – auch deshalb sei es für sie
sicherer, sich mit einem Kundenstamm von ihr bereits bekannten Männern zu
treffen. Mit ihrer Familie hat sie wenig Kontakt und wenn, dann wollen sie
meistens, dass sie ihnen Geld aus Deutschland schickt, erzählt Elena.
Dass Sexarbeiter:innen an der Kurfürstenstraße Geld an ihre Verwandten
in die Heimat schicken, kommt häufig vor, sagt Gerhard Schönborn. „Man
würde da jetzt nicht von Menschenhandel sprechen, aber das ist auch eine
Form der Nötigung oder des sozialen Zwangs.“ Die Bedingungen, unter denen
die Frauen auf der Kurfürstenstraße anschaffen, sind prekär. Laut dem
Verein fragen Männer regelmäßig nach Sex ohne Kondom. Einige Prostituierte
stehen den ganzen Tag an der Straße, bieten sexuelle Dienstleistungen zu
Dumpingpreisen an. Sex im Auto gibt es teils schon für 20 Euro.
Das Prostituiertenschutzgesetz sieht man im Verein Neustart kritisch, es
biete den Betroffenen keinen Schutz. Langfristig wünscht man sich hier das
Nordische Modell, das Freier bestraft, während Sexarbeiter:innen
ungestraft bleiben. „Es ist die teuerste Lösung und es würde nur
funktionieren, wenn man genug Ausstiegsprogramme anbietet“, sagt der
Vereinsvorsitzende. Es wären Zehntausende Frauen, die man langfristig
begleiten müsste, mit Wohnungen, Jobs und psychologischer Betreuung. Frauen
müsste dabei vor allem der Zugang zu Sozialleistungen ermöglicht werden,
denn viele sind seit Jahren in Deutschland, aber ohne Anmeldung.
Doch könnte man nicht auch soziale Programme anbieten, ohne den Verkauf von
Sex zu verbieten? Das sieht man bei Neustart kritisch, weil so das Problem
der Zwangsprostitution nicht gelöst werde. Auch sieht Schönborn ein
moralisches Argument für das Nordische Modell: „Es sollte nicht normal
sein, dass wenn Männer ein sexuelles Bedürfnis haben, sie das einfach an
einer Frau ausleben können.“
Zwei Hausnummern weiter sieht man das anders. „Indirekt werden die Frauen
dann doch kriminalisiert“, sagt Lonneke Schmidt-Bink, die Leiterin des
Frauentreffs Olga in der Kurfürstenstraße. In Schweden berichten
beispielsweise Sexarbeiter:innen, dass sie ihr Einkommen mit ihren
Partner:innen nicht mehr teilen könnten. Denn diese machen sich
strafbar, wenn sie Geld, das mit Sexarbeit verdient wurde, ausgeben – weil
sie so indirekt von einer kriminellen Tätigkeit profitieren.
Auch das moralische Argument überzeugt sie nicht: „Wer bin ich denn, Frauen
meine Sexualmoral aufzudrängen?“ Auch der Frauentreff Olga ist eine
umfunktionierte Altbauwohnung, die Räumlichkeiten sind hier etwas größer.
Neben einem Aufenthaltsraum gibt es noch eine große Küche, einen Raum mit
Ruhebetten, ein Bad sowie ein Behandlungszimmer. Neben einem
Frauenarztstuhl gibt es ein Ultraschallgerät. Spricht man mit der Leiterin
des Frauentrefffs, dann fällt immer wieder ein Wort: „zieloffen“. Sie
wollen die Frauen selbst entscheiden lassen, welche Hilfe sie brauchen.
Zweimal im Monat können Sexarbeiter:innen hier eine Frauenärztin oder
einen Allgemeinarzt aufsuchen. „Wenn wir die Frauen hier nicht versorgen
würden, hätten viele von ihnen überhaupt keine medizinischen Leistungen“,
sagt Lonneke Schmidt-Bink. Tests für sexuell übertragbare Krankheiten (STI)
wie zum Beispiel HIV oder Chlamydien, Schwangerschaftstests, Krebsvorsorge,
Wundheilung – all das sind Leistungen, die das Team vom Frauentreff Olga
anbieten kann. Doch auch ihre Kapazitäten sind begrenzt: „Wir haben in den
letzten Jahren insgesamt weniger Frauen auf der Straße angetroffen. Aber
die, die hier sind, haben einen sehr hohen Bedarf an Betreuung.“
Auch bei Olga beobachtet man einen erhöhten Drogenkonsum, immer mehr
Sexarbeiter:innen rutschten in die Sucht ab. Insgesamt sei die Zahl
der Sexarbeiter:innen in den letzten Jahren auf der Straße
zurückgegangen, haben die Sozialarbeiter:innen beobachtet. Das heißt
aber nicht, dass sie nicht stattfindet. Sie findet eher im Verborgenen
statt, etwa in Bordellen in Wohnhäusern. Das geht auch aus der
Bundeskriminalstatistik hervor und ist ein weiteres Argument gegen das
Nordische Modell: Durch die Kriminalisierung könnte Sexarbeit womöglich
mehr im Verborgenen stattfinden und so weniger reguliert werden.
Davor hätten auch Daria und Elena Angst: Sie wären den Freiern so noch mehr
ausgeliefert. Sie sind besorgt, dass es durch eine Kriminalisierung weniger
Nachfrage geben würde und sie so Kunden annehmen müssten, die sie nicht
annehmen wollen. Daria fände es gut, wenn es mehr sichere Räume gebe, wohin
sie mit ihren Kunden gehen kann. Auch das ist ein Problem an der
Kurfürstenstraße: Gentrifizierung. Säumten vor einigen Jahren noch viele
leerstehende Häuser die Straße, reihen sich jetzt Neubauten aneinander.
Damit gehen Räume verloren, zu denen die Sexarbeiter:innen mit ihren
Kund:innen gehen können. „Drogen und Wohnungslosigkeit sind das größte
Problem hier“, bilanziert auch Elena über die Kurfürstenstraße. Sie würde
sich wünschen, dass es mehr Therapie- und Wohnungsangebote gibt, um den
Frauen zu helfen.
Es ist auch eine feministische Frage, was man von dem Nordischen Modell
hält. Findet man es feministisch, dass Frauen sexuelle Dienstleistungen
anbieten? Will man eine Gesellschaft, in der Männer sich Sex kaufen können?
Der eigene Standpunkt fängt dabei schon mit der Formulierung an. Spricht
man von Prostitution, schwingt gleich eine negative Komponente mit, es hebt
den Unterschied zu anderen Formen der Arbeit hervor. Sagt man Sexarbeit,
betont man, dass Prostitution eben auch Arbeit sei. Beim Frauentreff Olga
spricht man von „Umstieg“ statt „Ausstieg“, man sagt
Sexarbeiter:innen, nicht „Prostituierte“ – denn es sind ja nicht nur
Frauen auf der Straße, sondern auch Männer und nicht-binäre Personen.
Schmidt-Bink, die Leiterin von Olga, ist insgesamt genervt von der Art und
Weise, wie über Sexarbeit in den Medien und in der Öffentlichkeit
diskutiert wird. Sie findet es problematisch, dass nicht klar zwischen
Sexarbeit und Zwangsprostitution unterschieden wird. Denn es gibt eben auch
einige Sexarbeiter:innen, die selbstbestimmt im Beruf arbeiten. „Das würde
auch eine bessere Diskussion über politische Maßnahmen ermöglichen“, sagt
sie. Sie hält es für völlig unrealistisch, dass ein Nordisches Modell den
Menschenhandel in Deutschland bekämpfen würde. „Vieles von dem, was
passiert, ist bereits illegal, eine weitere Kriminalisierung würde die
Zuhälter nicht abschrecken.“
Laut Bundeskriminalamt haben etwa 90 Prozent des Menschenhandels in
Deutschland sexuelle Ausbeutung zum Ziel. Die Ursachen von Menschenhandel
sind komplex. Sie hängen viel mit Migration und Armut zusammen. In
Deutschland gab es im Jahr 2022 291 Ermittlungsverfahren wegen sexueller
Ausbeutung sowie 220 wegen kommerzieller sexueller Ausbeutung von
Minderjährigen. Fachleute und das Bundeskriminalamt gehen von einem großen
Dunkelfeld aus.
An der Emotionalität der Debatte stört sich auch die Grünen-Abgeordnete
Denise Loop. „Ich finde, wir entfernen uns bei dem Thema zu sehr von einer
sachlichen Debatte“, sagt sie. „Man kann auch entkriminalisieren und
gleichzeitig gegen Menschenhandel vorgehen.“ In etwa 50 Prozent der Fälle
kommt es durch die Opfer selbst zu einem Verfahren, diese Zahl ist jedoch
rückläufig. Im Jahr 2020 gingen die Anzeigen noch zu 55,4 Prozent von den
Opfern aus, 2021 nur noch zu 47,1 Prozent. Der Rest der Verfahren wird
durch die Polizei eigeninitiativ, über einen Hinweis oder über eine Anzeige
durch Dritte, eingeleitet.
Würde ein Nordisches Modell helfen, die Strafverfolgung von
Zwangsprostitution zu verbessern? Loop ist da skeptisch. Sie sieht das
Potenzial eher in anderen politischen Instrumenten, den Menschenhandel zu
stoppen. Dabei hakt es derzeit aber noch an der Umsetzung. So gibt es bei
der Staatsanwaltschaft keine gesonderte Stelle für Menschenhandel zwecks
sexueller Ausbeutung, außer in einzelnen Bundesländern. Auch sei die
Polizei nicht ausreichend spezialisiert im Umgang mit Opfern. Das sei aber
essenziell, um gegen Menschenhändler vorzugehen. Eine Forderung aus dem
Ampel-Koalitionsvertrag sei es, die Aussagebereitschaft vom
Aufenthaltstitel zu entkoppeln, so Loop. Wenn den Opfern keine Abschiebung
droht, wenn sie eine Aussage machen, sind sie womöglich eher bereit, mit
der Polizei zu sprechen.
„Da warte ich seit 20 Jahren drauf und es passiert nichts“, sagt hingegen
Leni Breymaier von der SPD. Sie setzt sich schon seit Jahren für das
Nordische Modell ein. Die Politikerin sieht es nicht als die ultimative
politische Lösung – aber als die beste zur Verfügung stehende. Deutschland
habe sich laut Breymaier zum Zielland von Menschenhandel zur sexuellen
Ausbeutung entwickelt, deshalb sei es wichtig, die Nachfrage zu regulieren.
Ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Legalisierung von
Prostitution und einer Zunahme des Menschenhandels in Deutschland gibt, ist
jedoch umstritten.
Laut Neustart-Leiter Schönborn begünstigt eine liberale Gesetzgebung das
System: „Zuhälter können sich bedenkenlos auf die Straße stellen und den
Frauen zusehen, wie sie für sie Geld verdienen“, sagt er.
Es gibt jedoch noch andere Faktoren, die zu der Zunahme des Menschenhandels
beigetragen haben. Denn das Problem hängt direkt mit der Armutsbekämpfung
in ganz Europa zusammen. Seit der EU-Osterweiterung ist es einfacher für
Menschen wie Daria und Elena, nach Deutschland zu kommen und hier zu
arbeiten. Diese Liberalisierung hat auch dazu beigetragen, dass sich solche
Netzwerke bilden konnten. Aus Mangel an Perspektiven im Heimatland kommen
die Frauen in reichere Länder in Europa. Gleichzeitig ist es für
Menschenhändler lukrativer, in Deutschland Sex zu verkaufen.
Genau wie Schönborn findet die SPD-Politikerin Breymaier trotzdem, dass das
Nordische Modell der richtige Weg ist: Ein solches Modell funktioniere aber
nur, wenn man ausreichend Ausstiegshilfen, Wohnraum und gesundheitliche
Versorgung anbiete. Allein solche Maßnahmen zu ergreifen, hält sie für
sinnlos. „Für jede Frau, der wir helfen, kommen im Zweifel zehn nach“, sagt
sie. Dass es auch Sexarbeiter:innen gibt, die selbstbestimmt und
freiwillig in der Branche tätig sind, streitet sie nicht ab. „Aber das
Recht dieser vielleicht 5 Prozent Frauen legitimiert doch nicht das Leid
der anderen 95 Prozent.“
Die 5 Prozent kann man an einem heißen Tag in Juni an der Kurfürstenstraße
beobachten. Etwa 200 Sexarbeiter:innen und Prostituierte protestieren
anlässlich des Internationalen Hurentags für weniger Stigmatisierung und
mehr Mitspracherecht bei der Evaluation des Prostitutionsschutzgesetzes.
Rote Schirme säumen die Menge, die Schirme sind ein weltweites
Solidaritätssymbol unter Sexarbeiter:innen. Viele leicht bekleidete Frauen
sind zu sehen, aber auch viele Unterstützer. Auf Protestbannern stehen
Sprüche wie „Sex work is work“, „Stigma kills“ oder „Redet mit uns s…
über uns“.
Als der Protestzug vor den Beratungsstellen des Frauentreffs Olga und des
Vereins Neustart hält, kommt eine Anwohnerin auf den Balkon. Sie zeigt den
Mittelfinger und schüttet Wasser auf die Protestierenden. „Wir bleiben
hier“, brüllt die Menge ihr entgegen. Sichtlich unberührt von dem ganzen
Trubel stehen Sexarbeiter:innen am Rand der Straße, die auf einen
nächsten Kunden warten. Auch Daria und Elena sind nicht zu sehen. Für ihre
Rechte kämpfen, das kommt ihnen wohl bisher noch nicht in den Sinn. Das
fällt in dem Gespräch mit ihnen auf: Als man sie fragt, wie man ihre
Situation verbessern kann, hat man das Gefühl, sie äußern sich dazu zum
ersten Mal.
Dabei ist es wichtig, Menschen wie Elena und Daria zuzuhören. Denn ihre
Stimmen gehen in dem Diskurs über Sexarbeit oft verloren. Und ihre
Geschichten zeigen, wie vielschichtig die Probleme der
Sexarbeiter:innen sind. Sie zeigen auch, dass man differenzieren muss.
Beide Frauen arbeiten unter ähnlich prekären Bedingungen, trotzdem sind
ihre Geschichten ganz unterschiedlich: Die eine sieht sich dazu gezwungen,
ihren Körper zu verkaufen. Für die andere ist es eine selbstbestimmte
Entscheidung. Das wird die Herausforderung für die Zukunft sein: einen
gesetzlichen Rahmen zu finden, der das Leben aller Sexarbeiter:innen
beziehungsweise Prostituierten verbessert. Niedrigschwellige
Unterstützungsangebote sind dabei zentral. Damit Menschen wie Daria nicht
länger durchs System fallen.
11 Jul 2023
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## AUTOREN
Sabina Zollner
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