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# taz.de -- Krankenpflegende über HIV-Behandlung: „Wir müssen das Stigma ab…
> Zoe Longmuss und Volker Wierz arbeiten auf einer Berliner
> Krankenhausstation, wo viele HIV-Patienten betreut werden. Ein Gespräch
> über das Virus.
Bild: Zoe Longmuss und Volker Wirtz
Volker Wierz ist seit 1990 Krankenpfleger. Als schwuler Mann seines Alters
war er stets beruflich und privat mit der HIV/Aids-Pandemie konfrontiert.
Die Pflege von Menschen mit HIV wurde sein Herzensthema, dem er sein
Berufsleben widmete. Heute schreibt er Lehrbücher über ihre Versorgung. Zoe
Longmuss ist seit 2022 Krankenpflegerin und war im Rahmen ihrer Ausbildung
als field worker in Südafrika, wo sie HIV- und
Tuberkulosepatient*innen begleitet und aufgesucht hat. Beide
arbeiten auf der infektiologischen Station des St. Joseph Krankenhauses in
Berlin-Tempelhof, wo schwerpunktmäßig HIV-Patient*innen betreut werden.
wochentaz: HIV und Aids sind in der Öffentlichkeit kaum noch ein Thema.
Haben wir Aids besiegt?
Wierz: Gesamtgesellschaftlich sind bei pro Jahr circa 2.000 Neuinfektionen
in Deutschland HIV und Aids im Gesundheitsbereich schon ein Nischenthema
geworden. Was gut ist, da wir keine hohen Ansteckungszahlen haben.
Problematisch ist, dass es nach wie vor auf Menschen geschoben wird, die
in der Vergangenheit immer die Hauptbetroffenen waren. Das sind halt
schwule Männer, Sexarbeitende und intravenös Drogengebrauchende.
Welche Menschen erkranken denn heute noch an HIV? Wen sehen Sie auf Ihrer
Station?
Wierz: Schwule Männer gehen als betroffene Gruppe seit Jahren zurück. Das
sehen wir auch hier auf Station. In der schwulen Szene gibt es ein
gesteigertes Bewusstsein, und neue Präventionsmaßnahmen wie die
Präexpositionsprophylaxe, die PrEP, sind relativ verbreitet. Die
Erkrankungszahlen unter Heterosexuellen dagegen fallen nicht, sondern
stagnieren. Außerdem sehen wir hier viele Menschen mit
Migrationshintergrund, aktuell auch öfter Menschen aus der Ukraine. Dort
gibt es eine deutlich höhere HIV-Prävalenz.
Longmuss: Viele, die hier auf Station sind, haben zwar HIV als
Grunderkrankung, was aber nicht zwangsläufig der Behandlungsgrund ist. Die
kommen mit anderen Krankheiten und landen bei uns, weil wir die größte
Expertise haben, was HIV angeht. Man ist hier im Kontakt mit Menschen aus
allen sozialen Schichten. Also, ich kann mittlerweile nicht mehr sagen,
das ist nur „die Schwulenkrankheit“ oder das sind nur „die Drogis“. Das
geht von wohlhabenden Menschen mit gutem Job, super integriert in die
Gesellschaft, bis zu Randgruppen. Es kann einfach jeder betroffen sein.
Es gibt wirksame und gut verträgliche HIV-Medikamente. Warum erkranken
Menschen dann überhaupt noch an Aids?
Wierz: Es kommen immer wieder Menschen zu uns mit einer sehr späten
Diagnose, da wird die Infektion in einem Stadium festgestellt, wo das
Immunsystem bereits beeinträchtigt ist. In diesem Jahr waren 63 Prozent
unserer Patient*innen mit HIV-Erstdiagnosen schon in einem
Aids-Vollbild. Das heißt, dass da lange keiner auf die Idee kam, einen
HIV-Test zu machen.
Longmuss: Neben diesen Spätdiagnosen haben wir eine Gruppe unter den
HIV-Positiven, die Schwierigkeiten hat, eine Therapiekontinuität
einzuhalten. Das hat viele unterschiedliche Gründe, häufig psychische
Gründe, oder der Konsum von Drogen, oder auch finanzielle, wenn die
Krankenversicherung fehlt.
Wieso wird oft erst so spät auf HIV getestet?
Wierz: Es ist das Tabu. Ein Beispiel: Ich komme zum Arzt und ich bin eine
Frau um die 50, und ich habe keine Drogenkarriere, bin auch keine
Sexarbeiterin, habe vielleicht eine geschiedene Ehe hinter mir, zwei Kinder
und irgendwelche unerklärlichen Beschwerden. Natürlich wird in der Regel
keine ausführliche Sexualanamnese gemacht, das Thema HIV fällt völlig
hinten runter. Oft auch aus Angst, man könnte jemandem einen vermeintlich
anrüchigen Lebensstil unterstellen. Das Hauptproblem der HIV-Bekämpfung
ist, dass das Virus meist sexuell übertragen wird, also in einem
Lebensbereich, der sehr sensitiv ist. Eine Krebsdiagnose gilt als
Schicksalsschlag, bei einer HIV-Erkrankung musst du dich dagegen erst mal
erklären.
Longmuss: Anrüchig finde ich ein richtig gutes Wort. Es ist genau das.
Damit bringt man Menschen aber in die Situation, dass man Risiken für HIV
nicht erkennt.
Welche Fehlannahmen über HIV begegnen Ihnen häufig?
Longmuss: Puh, sehr viele. Etwa, dass sich das Virus über Oralsex und Küsse
überträgt; da ist eine große Angst. Und nur wenige wissen, dass auch
ungeschützter Verkehr mit behandelten HIV-Trägern unproblematisch ist,
jemand also nicht ansteckend ist, wenn die Therapie die Viruslast unter die
Nachweisgrenze drückt.
In Ihrem Team haben viele Pflegende bereits seit dem Beginn der
Aids-Pandemie die Versorgung in Berlin mit ausgebaut. Das Konzept der
Station heißt „Schöneberger Modell“. Was bedeutet das?
Wierz: Von Anfang an ging’s darum, dass alle, die an der Versorgung
beteiligt werden könnten, an einen Tisch geholt werden. Zu Beginn waren das
niedergelassene, meistens schwule Ärzte, weil sie sich am Anfang des Themas
HIV angenommen hatten. Auch oft aus einer eigenen Betroffenheit heraus. Und
das war die Berliner Aids-Hilfe. Wir holen auch Sozialarbeiter*innen
von Anfang an mit ins Boot, um beispielsweise jemanden wieder ins
Versicherungssystem zu bekommen. Wir versuchen jeden Patienten individuell
anzuschauen: Was braucht er, damit die Therapie klappt?
Sie pflegen in einem katholischen Krankenhaus und haben eine große queere
Patientenklientel. Passt das zusammen?
Wierz: Interessanterweise sehr gut. Dieses Haus ist so offen für die ganze
Thematik. An keinem Punkt hatten wir Schwierigkeiten. Wir haben in unserem
Haus auch einen Orden. Und wir haben eine Ordensschwester, Schwester Agnes,
die kommt so gerne zu unseren Patientinnen, um sich mit denen zu
unterhalten.
Longmuss: Bruder Bernd auch, unser Seelsorger.
Wierz: Die nehmen unsere Patienten einfach an, da wird nicht nach Lebensweg
und Religion gefragt. Wir haben auch eine lange Tradition in der
Zusammenarbeit mit den Franziskanerinnen von Tauwerk, einem Hospizdienst
für Aids-Erkrankte. Hier in Berlin sind katholische Kirche und HIV-Arbeit
schon seit Jahrzehnten vernetzt. Auch die Community der Menschen mit HIV in
Berlin weiß davon.
Welche Patientengeschichten können Sie nicht vergessen?
Wierz: Mein erstes prägnantes Erlebnis war 1991, als ich frisch auf die
Station kam, die damals noch im Auguste-Viktoria-Klinikum angesiedelt war.
Ich war in meinen 20ern. Da gab’s einen Mann, Anfang 40. Er kam mit einer
schweren Lungenentzündung, die er wegen HIV entwickelt hatte. Es war
schnell klar, dass er die nicht überleben wird. Das war das erste Mal, dass
ich einen so jungen Menschen begleitet hatte und auch habe sterben sehen.
Seine Verzweiflung, warum er so jung sterben muss und nicht weiterleben
darf. Dann fand ich es so beeindruckend, als er irgendwann sagte: Ach, wäre
ich doch nicht schwul, dann könnte ich weiterleben. Das fand ich
unglaublich ergreifend. Weil ich dachte: Du bist doch nicht krank, weil du
schwul bist, sondern hast dir einfach ein Virus geholt. Aber damals, in den
1980ern, war das die Sichtweise, es wurde ja häufig gesagt: Das ist die
gerechte Strafe Gottes für so ein Verhalten. Aber wie das auch schwule
Männer zum Teil verinnerlicht haben! Internalisierte Homonegativität nennt
man das, die gesellschaftlichen Vorurteile so zu verinnerlichen. Was dem
eigenen Selbstwertgefühl die Beine weghaut.
Neben der täglichen Arbeit auf Station waren Sie auch im eigenen
Freundeskreis betroffen.
Wierz: Genau, als schwuler Mann war ich immer mitten an der Front, so nenne
ich es mal. Ich erinnere mich noch, wie ich meinem Vater mal von einem
weiteren toten Freund erzählt habe, und er sagte daraufhin: Du lebst in
einem Krieg. Er dachte an seine Kriegszeit zurück, als junger Mann, als er
immer wieder hörte, dass seine Freunde an der Front gefallen waren. Für
mich war das ein treffendes Bild, das war der Aids-Krieg, der sich massiv
gegen uns gerichtet hatte.
Es gab 1987 die ersten Therapiemöglichkeiten. Wie muss man sich das
vorstellen, diese ersten Hoffnungsschimmer?
Wierz: Die ersten Therapieversuche waren ein enormer Lichtblick, aber
leider nicht alle erfolgreich. Erst 1996 mit der Einführung der
Kombinationstherapien gingen die Sterbezahlen radikal runter. Es gab einen
Anstieg von Lebenszeit, am Anfang nicht unbedingt gepaart mit einer guten
Lebensqualität. Die ersten Therapien waren schon Hardcore. Aber das hat
sich sukzessive verbessert. Heute sehen wir, dass die Leute die Medikamente
sehr gut vertragen, dass sie keine Einschränkungen haben, wenn sie
rechtzeitig anfangen, und dass sie eine nahezu normale Lebenserwartung
haben.
Longmuss: Ich denke oft an eine Patientin, als ich gerade am Ende meiner
Ausbildung war, eine junge afrikanische Frau in den 30ern, die eine
dreijährige Tochter hatte, bildsüß. Eine Frau mit Fluchterfahrung. Sie hat
immer wieder aufgehört, ihre HIV-Medikamente zu nehmen, und dann ging es
ihr prompt schlechter. Das war eine richtige Gratwanderung, sie immer
wieder zu motivieren. Es gab eine massive kulturelle Barriere. Ihre
Angehörigen hatten eigene Therapievorstellungen, und die Frau selbst hatte
einen alternativen Heiler.
Wierz: Sie war skeptisch unserer Therapie gegenüber.
Longmuss: Sehr skeptisch. Ich habe sie lange begleitet. Von einer
ausgezehrten Frau, die klingelt, weil sie Hilfe braucht, sich im Bett ein
wenig zu drehen, bis dahin, dass sie am hohen Gehwagen wieder selbstständig
laufen kann. Einmal haben wir in der Sonne gesessen, als sie gesagt hat,
dass sie sich freut, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und für ihre
Tochter da zu sein. Und dann wieder dasselbe Spiel. Warum hat sie immer
wieder die Medikamente abgesetzt? Sie ist letztlich an HIV gestorben. Das
war eine krasse Erkenntnis für mich: Auch mit all unseren Ressourcen können
wir so tief verankerte Ängste und Stigmata nicht überwinden.
Wierz: Was uns wichtig war in dieser ganzen Zeit: dass wir zu keinem
Zeitpunkt Stress gemacht haben. Also: Wenn du hier behandelt werden willst,
musst du aber mitmachen nach dem Motto „Friss oder stirb“ – das gibt’s …
uns nicht.
Longmuss: Ein anderer Fall ist eine junge Patientin, die nie die Chance
hatte, mit uns über ihre Therapie zu reden, weil ihr Verlauf so rasant war.
Das war eine junge Mutter aus der Ukraine, die Diagnose kam so spät, sie
bekam eine aufsteigende Lähmung, es war nichts zu machen. Es gab keine
Therapieoptionen mehr, und sie ist bei vollem Bewusstsein irgendwann
gestorben, das war schrecklich: zu wissen, du hinterlässt kleine Kinder und
man hätte es verhindern können mit einer frühen Diagnose.
Wo gibt es denn das größte Potenzial, in der HIV-Versorgung etwas zu
verbessern?
Wierz: Das Stigma. Wir müssen das Stigma abbauen. Wenn Menschen nicht mehr
Angst haben, aufgrund einer HIV-Infektion diskriminiert zu werden, würden
sie sich auch eher testen.
Longmuss: Es sollte Weiterbildungen für medizinisches Personal geben. Es
ist unglaublich, was da an Fehlinformationen vorliegt, zum Teil auf dem
Stand der 1980er, wenn wir hören, dass jemand beispielsweise keine
zahnärztliche Behandlung bekommt wegen HIV, dass nur am Tagesende OPs
stattfinden, weil man angeblich den ganzen Raum desinfizieren und zwölf
Stunden stilllegen müsste. Außerdem: viel zu viel persönliche
Schutzausrüstung beim Transportdienst, der dann Kittel, Handschuhe,
Mundschutz und Augenschutz trägt. Oder Patient*innen, die erzählen, dass in
ihrer Reha-Einrichtung ihre Wäsche nicht mit der der anderen gewaschen
werden darf.
Wierz: Es ist ein Teil der Versorgungsstruktur von früher verloren
gegangen. Es gibt in Berlin nur noch ein Pflegeteam, das auf HIV-Pflege
spezialisiert ist. Und Pflegedienste lehnen HIV-Patienten oftmals ab. Die
sagen, das sei für ihre Mitarbeiter nicht zumutbar. Oder dass sie keine
Einzelzimmer haben. Einzelzimmer wegen HIV! Oder Fälle, wo Menschen nicht
an Gemeinschaftsverpflegung teilnehmen dürfen, weil sie angeblich Menschen
anstecken könnten während der Mahlzeit. Es gibt so viele irrsinnige
Ansichten.
Das ist paradox, einerseits geht es Menschen mit HIV heute deutlich besser,
andererseits ist die Versorgung schlechter.
Wierz: Ja, dadurch, dass wir deutlich weniger Aids-Erkrankungen haben, ist
dieser spezifische Aspekt der Versorgung oft gar nicht mehr so notwendig.
Heute haben wir die Situation, dass die Menschen mit HIV lange leben. Sie
werden alt, werden zum Beispiel dement, das heißt, sie brauchen eine
normale Pflege. Sie haben nur ein Manko: Sie haben HIV. Ich telefoniere
manchmal tagelang rum, um eine Einrichtung zu finden, die diese armen
Menschen in ihre Obhut nimmt. Ich bin so froh über junge Menschen wie Zoe,
die sich hier engagieren. Von unserem Team geht in den nächsten Jahren die
Hälfte in Rente, viele haben diese Arbeit dann 30 bis 40 Jahre gemacht. Wir
wollen einfach, dass das weitergeht.
Longmuss: Ich habe echt Bauchschmerzen, wenn ich daran denke, wer eure
Lücken füllen soll.
29 Sep 2023
## AUTOREN
Judith Rieping
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