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# taz.de -- Russland nach Prigoschins Aufstand: Geist aus der Flasche
> Der Aufstand des russischen Militäranführers Prigoschin zeigt, wie fragil
> das System Putins ist. Eben weil es auf einem ständigen Ausgleichen
> verschiedener Machtgruppen basiert.
Am 24. September 2011 kündigte Wladimir Putin seine erneute Kandidatur für
die Präsidentschaft an. Es ist der Beginn einer autoritären Wende in
Russland, die das Land in den Folgejahren immer repressiver und immer
diktatorischer werden lässt.
Dmitri Medwedjew, der vier Jahre lang das Präsidentenamt bekleidet hatte,
trat nicht wieder an. Er galt als Vertreter der liberal orientierten
Gruppen in Russlands Elite; jemand, der Russland vermeintlich nach innen
modernisieren wollte, nach außen Ausgleich mit den USA suchte und der den
aggressiven Einfluss von Russlands Sicherheitsdiensten ausbalancieren
konnte. Im September 2011 wurde deutlich, dass er nur ein Instrument des
Machtsystems des zurückkehrenden Präsidenten Putin war. Die vermeintliche
Alternative war Schall und Rauch.
Dieses Machtsystem basiert auf der Konkurrenz unterschiedlicher Eliten und
Interessengruppen. Informelle Netzwerke binden diese Personen an das
System: persönliche Beziehungen, die Möglichkeit, finanziell zu
profitieren, oder schlicht Komplizenschaft. Jede dieser Gruppen und
Personen erfüllt einen Zweck für das System Putins und den russischen
Staat. Sie kontrollieren Ressourcen oder Medien, sie mehren Putins
persönlichen Reichtum oder mimen eine vermeintliche Opposition oder
Alternative. Jewgeni Prigoschin war Teil dieses Systems. Im Unterschied zu
Medwedjew jedoch drohte die Konkurrenz zwischen Prigoschin und anderen
Teilen der Elite in letzter Zeit das System zu sprengen.
Prigoschin verbrachte zu Sowjetzeiten neun Jahre im Gefängnis. Er war
verurteilt worden für Raub und Diebstahl. 1990, in den Zeiten des Umbruchs,
kam er frei. [1][In den Wirren der neunziger Jahre verkaufte er Hotdogs und
gründete Restaurants]. Reich wurde er durch staatliche Cateringaufträge,
die ihm den Namen „Putins Koch“ einbrachten.
Er hat diesen Reichtum eingesetzt im Dienste des Systems. Prigoschin
finanziert Trollfrabriken in Sankt Petersburg, und er hat die Gruppe Wagner
zu dem gemacht, was sie heute ist: einem privaten Militärunternehmen,
[2][das russische Interessen in der Ukraine, im Nahen Osten und in Afrika
mit immenser Brutalität durchsetzt]. Mit engen Verbindungen zur extremen
Rechten und guten Kontakten zum russischen Staat [3][agiert die Gruppe
Wagner dort, wo Russland offiziell nicht eingreifen kann oder will].
Das Militärunternehmen erfüllt somit eine Funktion für den russischen
Staat. Prigoschin hat es dabei nicht versäumt, seine eigene Macht und
Bedeutung im russischen System zu steigern und sich neue Geldquellen zu
sichern. Die Gruppe Wagner war immer auch ein Instrument der
Ressourcenabschöpfung in ihren Zielländern. [4][Der Einsatz für russische
Interessen in Ländern wie Mali, Sudan oder Syrien] kostet Prigoschin Geld,
es bringt ihm aber auch neuen Reichtum in Form von Gold oder Silizium.
Die Verbindung zwischen dem Machtsystem und Prigoschin war eine Symbiose,
eine informelle Beziehung zu beiderseitigem Vorteil. Putin hat stets darauf
geachtet, dass keine der Elitengruppen und -personen zu mächtig wird. Die
Stabilität wurde gewahrt durch Konkurrenz zwischen den Eliten: um
Ressourcen, Aufmerksamkeit, Informationen. Putin garantiert und
symbolisiert dieses System als oberster Schiedsrichter.
## Sichtbarer Moment der Schwäche
Der Streit zwischen Prigoschin und der Führung des
Verteidigungsministeriums, vor allem Verteidigungsminister Sergei Schoigu
und Generalstabschef Waleri Gerassimow, stellte genau solch eine Rivalität
dar. Sie hat sich jedoch unter dem Einfluss von Russlands Krieg gegen die
Ukraine radikalisiert. Für Prigoschin und die Gruppe Wagner war der Krieg
eine Chance auf mehr Macht und Einfluss. Gleichzeitig hat der Krieg den
Bedarf an Ressourcen für dieses Machtstreben – militärische Ausrüstung,
Munition, Personal – potenziert. Es reicht nicht mehr für alle. Putin hat
diese Radikalisierung lange laufen und Prigoschin mit seinen zunehmend
spitzen Kommentaren gewähren lassen. Letztlich hat diese Radikalisierung
das System zu sprengen gedroht.
Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat
sich gegen das System gewendet.
Das Ergebnis ist ein für alle sichtbarer Moment der Schwäche und des
Kontrollverlusts des russischen Staats. Einmal mehr zeigt sich, dass
scheinbar stabile autoritäre Systeme fragil sind. Sie basieren auf einem
ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen. Diese Balance ist
anfällig, da sie auf informellen Arrangements aufbaut und nicht auf
allgemein anerkannten und rechtsstaatlich durchgesetzten Regeln. Diese
Schwäche hat sich am Wochenende des 23./24. Juni an drei Faktoren gezeigt:
einem Verlust der Kontrolle über Information sowie einem über Teile des
Territoriums und in mangelndem Strafvermögen.
## Putins Dilemma
Der Kreml und Putin verloren am Freitagabend die Kontrolle über die
Information und das Narrativ. Prigoschin hat sich über soziale Medien und
vor allem Telegram in den letzten Monaten einen eigenen Zugang zur
russischen Bevölkerung geschaffen. Er ist nicht abhängig von staatlichen
oder staatlich kontrollierten Medien, sondern er spricht die Menschen
direkt, unmittelbar und auf authentisch wirkende Weise an. Der russische
Staat konnte die Nachrichten über die Kontrolle von Rostow am Don und den
anschließenden Vorstoß der Gruppe Wagner Richtung Moskau nicht
kontrollieren oder gar leugnen.
Putin war in einem Dilemma: Sagt er nichts, überlässt er Prigoschin das
Feld. Äußert er sich, verleiht er Prigoschin weitere Reichweite und dessen
Handeln Bedeutung. Er musste sich für Letzteres entscheiden, zu deutlich
war das Schweigen wahrzunehmen. Die Rede Putins, mit der er am
Samstagmorgen schließlich reagierte und die Prigoschin als Verräter
brandmarkte, hat den Wagner-Chef in seinen Aussagen noch radikalisiert. Er
griff Putin nun persönlich an. Die sich überhitzende Elitenkonkurrenz
entwickelte sich von der Stütze des Systems nun endgültig zu dessen größtem
Problem.
Das Machtsystem Russlands verlor auch die Kontrolle über Teile seines
Territoriums. Die Gruppe Wagner konnte gegen nur begrenzten Widerstand
Rostow am Don kontrollieren, einen zentralen Logistikknotenpunkt für den
Krieg gegen die Ukraine, und über Woronesch weiter Richtung Moskau
vordringen.
In den Medien verbreiteten sich statt Bildern einer gezielten und massiven
militärischen Antwort seitens des Staats vor allem solche von Baggern, die
die Schnellstraße Richtung Moskau aufrissen. Das Ende dieses Aufstands
wurde schließlich nicht militärisch herbeigeführt, sondern durch einen vom
belarussischen Präsidenten vermittelten Deal. Der Brandmarkung Prigoschins
als Verräter folgte nicht etwa eine machtvolle Reaktion, sondern eine
Verhandlung, die dem Systemsprenger einen Kompromiss unterbreitete.
## Unerwartetes Comeback für Lukaschenko
Den dritte Kontrollverlust bildet das unmittelbare Ausbleiben einer
existenziellen Strafe. Das Machtsystem hat Kontrolle – neben der Belohnung
von Gefolgschaft – auch immer über die Bestrafung von Abtrünnigen ausgeübt.
Die zahlreichen getöteten, ins Exil getriebenen und in Lagern sitzenden
Journalist:innen und Oppositionellen sind Zeugen solcher Strafen.
Prigoschin jedoch hat genau dieses Schicksal zunächst einmal nicht ereilt.
Sein „Marsch auf Moskau“ wurde nicht ultimativ bestraft – auch wenn
berechtigte Zweifel bleiben, ob Prigoschin nicht doch noch einen hohen
Preis zahlen wird. Die Verhandlung bescherte dem belarussischen Präsidenten
Lukaschenko dagegen ein unerwartetes Comeback. Er und Belarus bleiben von
Russland abhängig, aber der Aufstand hat ihm nicht nur die Gelegenheit
geboten, sich medienwirksam als Vermittler darzustellen, sondern auch als
dem russischen Staat und der Sicherheit des Lands verschriebenen
Verbündeten, der in der Krise zur Hilfe eilt.
Seit dem letzten Wochenende hat das Machtsystem Risse. Die Idee eines
omnipotenten russischen Staats, eines allmächtigen russischen Präsidenten
hat auch vorher nicht der Wahrheit entsprochen, aber nun ist die Sache für
alle erkennbar, innerhalb und außerhalb Russlands. Putins Politik, seine
Handlungen, seine Worte werden nun auf Anzeichen von Schwäche geprüft
werden. Anstatt sich auf den Nimbus der Macht verlassen zu können, wird er
stetig versuchen müssen, ihn wiederherzustellen.
## Die Räume des Denkbaren haben sich verschoben
Die politischen Symbole und konkreten Politiken, aber auch das Abdrängen
von echten oder vermeintlichen Illoyalen – es wird ebenso wie das wachsende
Misstrauen Ressourcen kosten.
Es ist noch unklar, wie unmittelbar die Auswirkungen von Prigoschins
Wochenende sein werden, wie sehr das System erschüttert ist und wie schnell
der Staat die Kontrolle oder zumindest deren Anschein wiederherstellen
kann. Nach wie vor sprechen viele Faktoren gegen schnelle Veränderungen in
Russland: die Komplizenschaft der russischen Eliten, die physische Gefahr,
der sich jede:r Kritiker:in aussetzt, die gegenseitige Konkurrenz, das
Misstrauen und nicht zuletzt der Reichtum, den der russische Staat nach wie
vor zu vergeben hat.
Aber [5][die Räume des Denkbaren haben sich seit dem vergangenen Wochenende
verschoben]. Die Möglichkeit eines Russlands ohne Putin und eines Zerfalls
des Machtsystems ist realer. Sie ist in den Köpfen. Dieser Geist, einmal
aus der Flasche entwichen, lässt sich nicht mehr einfangen.
Sarah Pagung ist Programmleiterin im Bereich Internationale Politik der
Körber Stiftung und publiziert zu russischer Außen- und Sicherheitspolitik
2 Jul 2023
## LINKS
[1] https://www.theguardian.com/world/2023/jan/24/yevgeny-Prigoschin-the-hotdog…
[2] https://www.dw.com/de/russlands-wagner-gruppe-wo-sind-die-s%C3%B6ldner-im-e…
[3] https://www.arte.tv/de/videos/105564-000-A/die-wagner-gruppe-russlands-gehe…
[4] /Nach-Aufstand-der-Wagner-Soeldner/!5941513
[5] /Nach-Wagner-Aufstand-in-Russland/!5940266
## AUTOREN
Sarah Pagung
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