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# taz.de -- Rechte „Red Pill“-Cyberkultur: Codewort für Hass gegen Frauen
> Im Internet verabreichen Männer anderen Männern symbolische Pillen, um
> ihnen so einzutrichtern, sie würden von Frauen unterdrückt. Die Bewegung
> wächst auch in Deutschland.
Bild: „Red Piller“ Andrew Tate, angeklagt u.a. wegen wegen Vergewaltigung i…
Protagonist Neo wird in einer Schlüsselszene [1][des Science-Fiction-Films
„Matrix“] vor die Wahl gestellt, eine blaue oder eine rote Pille zu
schlucken. Wählt er die blaue Pille, lebt er weiter wie bisher, aber in
Lüge. Wenn er sich für die rote Pille entscheidet, wird er aufwachen und
die Wahrheit erkennen. Im Film entscheidet sich Neo für die rote Pille.
Angelehnt an diese Szene hat sich eine Cyberkultur im Internet entwickelt,
der mehrheitlich Männer angehören. Sie wollen anderen Männern symbolische
Pillen verabreichen und ihnen auf diese Weise eintrichtern, sie würden von
Frauen unterdrückt. In sozialen Medien, mit Memes und über Foren erreichen
sie zum Teil Millionen. Männer [2][wie Andrew Tate] oder Karl Ess zählen zu
den bekanntesten dieser global vernetzten Szene. Auch die Attentäter von
Halle, Hanau, Buffalo und Oslo identifizierten sich mit der
dahinterstehenden Ideologie. Sie erwähnten sie an zentralen Stellen in
ihren Manifesten oder im Livestream, während sie töteten.
Sexismus und männliche Herrschaft durchziehen nach wie vor Alltag, Politik
und Beziehungen. [3][Jede dritte Frau in Deutschland] wird in ihrem Leben
Opfer physischer oder sexualisierter Gewalt. [4][Vier von fünf
Tatverdächtigen partnerschaftlicher Gewalt] sind Männer. Die Leipziger
Autoritarismusstudie 2022 bescheinigt zudem einem Drittel der Männer ein
geschlossen antifeministisches und sexistisches Weltbild – Tendenz
steigend. Männer, die der Cyber-Pillenkultur angehören, ignorieren diese
Realität.
Brigitte Temel forscht am Wiener Institut für Konfliktforschung zu Incels
und der sogenannten Mannosphäre. Incels sind unfreiwillig sexlose, zumeist
frauenhassende Männer. Die Mannosphäre bezeichnet antifeministische
Männerbünde im Netz. Die Wissenschaftlerin ist besorgt: „Die Räume der
Mannosphäre sind nicht mehr abgetrennt.“ In sozialen Medien erreichen sie
viele. So sickern auch ihre Ideen durch, sagt Temel. Die Politik müsse
Antifeminismus ernster nehmen. Denn: „Diese Leute verschieben Debatten –
spätestens, wenn sie bei Tiktok, Instagram oder Youtube geklickt werden.“
Inzwischen bezeichnen sich nicht mehr nur wütende Antifeministen als
„pilled“. Konservative bis stramm Rechte rechnen sich der „Red Pill“ zu…
sich als Gegensatz zum Mainstream zu inszenieren. Fox News bezeichnete etwa
Kanye West als „red-pilled“. Auch Elon Musk twitterte: „Take the red pill…
Und der bekannte US-amerikanische Rechtsextremist David Duke bescheinigte
Donald Trump, er verabreiche der Bevölkerung rote Pillen, als der damalige
Präsidentschaftskandidat ein Foto von Hillary Clinton mit einem Davidstern
postete und sie als korrupt verunglimpfte. Der Begriff hält für
verschiedenste Verschwörungsideologien her, schafft Verbindungen zwischen
ihnen. Auch manche Jugendliche nutzen den Begriff „pilled“ sein, wenn sie
etwas begeistert.
Die Cyberkultur hat sich mittlerweile über die rote und blaue Pille hinweg
erweitert und auch den deutschsprachigen Raum längst erreicht.
## Die rote Pille
Sogenannte Red-Piller wähnen sich in einem Kampf der Geschlechter. Sie
glauben, der Feminismus dominiere die Gesellschaft und unterdrücke Männer.
Aufgrund angeblich biologisch feststehender Geschlechterrollen seien Frauen
darauf programmiert, auf dominante Muskelprotze zu stehen, die sie
unterdrücken. Nur Männer mit hohem Status hätten angeblich Erfolg beim
Dating. Diesen könnten sie etwa durch Aussehen, Karriere oder
heteronormativen Sex erreichen. Mithilfe von Coachings, Flirttechniken und
Selbstoptimierung versuchen die Red-Piller zum „Alpha-Mann“ oder auch
„Chad“ aufzusteigen.
„Die Red Pill bietet ein Erweckungserlebnis, das Gefühl, es verstanden zu
haben“, sagt Temel. In den Echokammern der Szene gebe es kaum abweichende
Meinungen. „Diese Männer verbringen ewig dort, ihre Ansichten verhärten
sich.“ Dort grassiere auch Rassismus und Antisemitismus. Die Ideologie sei
anschlussfähig an Rechtsextremismus.
Vertreter der deutschen Szene tummeln sich, neben den eigenen Foren, heute
vor allem auf Youtube, Instagram und Tiktok. Dort vermarkten sie sich als
Männlichkeits-, Dating- oder Businesscoaches. Einem bekannten deutschen
Red-Piller und Businesscoach, Karl Ess, folgen auf Instagram über 400.000
Menschen. Das größte deutsche Forum der Pick-up-Szene mit Red-Pill-Inhalten
zählt 180.000.
## Die blaue Pille
Wer nichts von den Pills wissen will oder sich von ihnen und ihren
Ideologien distanziert, wird von den Szenen häufig als „Blue Piller“ oder
auch als „Normie“ beschimpft. „Blue Piller“ streben Gleichberechtigung …
hinterfragen Rollenbilder oder zeigen schlicht ein Mindestmaß an Respekt
gegenüber Frauen. Die blaue Pille ist meist eine Fremdbezeichnung. „Das
ganze Selbstbild der Szene basiert auf der Abgrenzung zur Blue Pill“, sagt
Konfliktforscherin Temel.
Für das Dasein als Blue-Piller haben die anderen Pills zwei Erklärungen:
Entweder seien „Normies“ komplett vom Feminismus indoktriniert oder solche
„Adonisse“, „Alphas“ oder „Giga-Chads“, also so gutaussehend, dass …
Leben alles zufliege.
## Die lila Pille
Die lila Pille liegt zwischen Blau und Rot. „Purple Pill“-Anhänger
postulieren, einen unideologischen Diskurs zu pflegen, der offen Argumente
prüfe. Brigitte Temel weist auf die Unterschiedlichkeit innerhalb der
Purple-Pill-Kultur hin. Teilweise verstünden sich ihre Mitglieder gar als
links oder feministisch, andere wiederum als antifeministisch. Es sei
unklar, ob die Purple Pill dazu beitrage, biologistische Rollenbilder –
also vermeintlich durch Biologie festgeschriebene Geschlechterrollen – zu
verfestigen oder doch helfe, radikalere Positionen aufzuweichen.
Der lila Pille lässt sich ein deutschsprachiges Forum mit annähernd 1.000
Mitgliedern zuordnen. Es enthält auch White- und Pink-Pill-Inhalte, auf die
im weiteren Text eingegangen wird.
## Die schwarze Pille
Wer black-pilled ist, ist meist Incel – involuntarily celibate –
unfreiwillig enthaltsam. Diese Männer hatten noch nie Sex und sind deswegen
frustriert und wütend. Zwar gibt es auch unter den anderen Pills Incels.
Die sind aber zumindest „optimistisch“, dass Männer sich trotz ihrer
angeblichen Benachteiligung durchsetzen können. Black-Piller glauben jedoch
– wenn überhaupt – nur noch an Schönheits-OPs.
Wer der schwarzen Pille angehört, sieht sich als „Beta-Mann“. Das ist das
Gegenteil der dominanten „Alphas“ oder „Chads“. Sie halten sich für
bemitleidenswert und sehen keinen Ausweg aus ihrer Lage. In Foren
fantasieren sie von Gewalt. Manche realisieren sie dann auch, so etwa in
den USA. 2014 tötete ein Mann beim ersten bekannten Incel-Amoklauf in Isla
Vista, Kalifornien, sechs Menschen und verletzte vierzehn weitere. Einen
weiteren Täter verurteilte ein Gericht für zehn Morde und sechzehn
versuchte Morde; er war 2018 in Toronto mit einem Auto in eine
Menschenmenge gefahren. Die Täter werden in den Foren für ihre „Incel
Rebellion“ gefeiert, mit der sie „Chads“, „Normies“ und vor allem Fra…
unterwerfen wollen. Wer viele Menschen umbringt, wird zur Legende; wer
wenige oder niemanden tötet, bleibt Versager.
Der Großteil der Incels glorifiziert die Taten und ermutigt dazu, wird
jedoch nicht selbst zum Terroristen. „Black-Piller zeichnen sich vor allem
durch Hoffnungslosigkeit und Frauenhass aus“, sagt Brigitte Temel. Daraus
resultiere Gewalt gegen sich selbst und andere. Sie seien stark
indoktriniert und hätten ein gefestigt-negatives Selbstbild. Bekannte
Phrasen in den Foren sind „lay down and rot“ – hinlegen und verrotten –…
„cope or rope“, also „komm klar oder erhäng dich“. Teils ermutigen Inc…
sich untereinander zum Suizid.
[5][In einer Umfrage im größten englischsprachigen Incel-Forum] gaben 43
Prozent der Befragten an, in Europa zu leben. Eines der größten deutschen
Foren für Incels und Rechtsextreme, auf dem auch das Video des Attentäters
von Halle auftauchte, wurde laut der Datenanalyse-Plattform Semrush im Mai
2023 3,1-Millionen-Mal geklickt. Es zählt annähernd 30 Millionen Beiträge.
## Die pinke Pille
Die pinke Pille steht für die Femcels, weibliche Incels. Männliche Incels
sprechen ihnen zumeist ihren Leidensdruck ab. Die Pink-Pill-Szene tritt
kaum aggressiv auf. Suizid und psychische Krankheiten thematisieren sie
aber ebenfalls. Femcels prangern dabei Schönheitsnormen oder
Benachteiligung von Frauen an. Sie blicken kritisch auf den Frauenhass
anderer Incels.
Brigitte Temel kritisiert, dass die Aufmerksamkeit vor allem auf Red und
Black Pill liege. „Dort brennt es zwar am meisten, da passieren die
Anschläge“, sagt sie. Doch Frauen werde oft abgesprochen, gefährlich zu
sein. Es sei nicht auszuschließen, dass auch hier Gewaltpotenzial liegt.
Zudem müsse der Suizidgefahr begegnet werden. „Zur Gruppe der Femcels ist
noch wenig bekannt, hier benötigt es mehr Forschung“, sagt Temel.
## Die weiße Pille
Die „White Piller“ glauben mit Akzeptanz und Meditation ihr Leben
verbessern zu können. Sie versuchen, sich abseits von Sex und Dating zu
orientieren. Freundliche Optimisten unter den Incels sind sie deshalb aber
nicht. Auch ihr Weltbild basiert auf Red- oder Black-Pill-Erzählungen, also
der Lüge, dass eine frauendominierte Gesellschaft Männer unterdrücke. Nur
glauben sie, mit der richtigen Einstellung diese erfundene „Unterdrückung“
ändern zu können. Die Aggressivität der roten und der Nihilismus der
schwarzen Pille ist oft nur einen Klick entfernt. Die White Pill sei eine
Spielart der Black Pill, sagt auch Brigitte Temel. „Black-Piller verlieren
sich in Hass, während White-Piller die Stoiker oder Buddhas mimen.“
Größere deutschsprachige White-Pill-Foren oder -Kanäle, sind nicht bekannt.
Ein englischsprachiger Youtuber mit White-Pill-Fokus zählt etwa 1.600
Abonnent:innen.
4 Jul 2023
## LINKS
[1] /Matrix-Resurrections-im-Kino/!5821065
[2] /Problematische-Aussagen-zu-Andrew-Tate/!5914065
[3] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuet…
[4] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2022/11/lagebild-partne…
[5] https://unipub.uni-graz.at/obvugruniver/content/titleinfo/7814542/full.pdf
## AUTOREN
Moritz Müllender
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