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# taz.de -- Polizei „verliert“ Kind: Abschieben um jeden Preis?
> Polizei trennt Geschwister bei Abschiebung, 11-Jähriger danach
> stundenlang vermisst. Flüchtlingsrat sieht wachsende Härte gegenüber Roma
> aus Moldau.
Bild: Schon 2016 forderten Roma und Aktivisten ein Bleiberecht für alle Sinti …
Berlin taz | Um Roma aus Moldau zur Ausreise zu zwingen, ist dem Senat
offenbar jedes Mittel recht. Das zeigt der Fall einer Abschiebung, die sich
am Mittwoch in Marzahn-Hellersdorf ereignet hat.
In der Containerunterkunft Dingolfinger Straße wollte die Polizei am frühen
Morgen eine Familie aus Moldau abschieben. Die Eltern waren nicht da, nur
zwei Kinder. Die Beamten nahmen die 18-jährige Tochter mit, den 11-jährigen
Sohn „übergaben“ sie den Nachbarn. Im Verlauf des Vormittags verschwand der
Junge, die Heimleitung rief Polizei und Jugendamt, doch auch nach
Durchsuchung des ganzen Heims blieb er vermisst.
Später konnte die Polizei das Handy des Jungen in Spandau – am anderen Ende
der Stadt – orten. Die Eltern kamen zurück ins Heim, der wieder
aufgetauchte Junge „wurde einem Kinderarzt in der Rettungsstelle des Sana
Klinikums vorgestellt, weil er verständlicherweise unter Schock stand“,
erklärte eine Sprecherin des Landesflüchtlingsamts (LAF). Die 18-Jährige
wurde offenbar alleine abgeschoben.
Der zuständige Staatssekretär der Integrationsverwaltung Aziz Bozkurt (SPD)
zeigte sich auf taz-Anfrage „tief schockiert“. Auch bei rechtmäßigen
Abschiebungen müssten „humanistische Grundwerte eingehalten“ werden, sagte
er. „Was rechtlich korrekt sein mag, ist menschlich nicht vertretbar. Zu
diesem Vorfall haben wir Diskussionsbedarf, so ein Vorgang darf sich nicht
wiederholen.“
## Problematische Einstellung
Doch hat die Polizei überhaupt „rechtlich korrekt“ gehandelt? Emily
Barnickel vom Flüchtlingsrat Berlin bestreitet das. Sie sagt: „Da die
Erziehungsberechtigten nicht anwesend waren, hätte die Polizei entweder das
Kind in Obhut nehmen oder die volljährige Schwester beim Kind belassen
müssen.“ Es einfach „irgendwo“ zu lassen, sei unverantwortlich, ein solc…
Vorgehen zeuge zudem von einer problematischen Einstellung der
Polizist*innen. „Hier wurde offenbar nach dem Motto gehandelt: Bei einem
ausländischen Kind, dessen Eltern ausreisepflichtig sind, müssen wir nicht
die gleichen Standards wie bei deutschen Kindern anwenden. Antiziganismus
könnte hier eine Rolle gespielt haben, anders ist das kaum zu erklären.“
Barnickel erkennt eine Systematik in Fällen wie diesem. Auch wenn im Zuge
von Abschiebungen selten Kinder „verloren“ gingen, gebe es inzwischen
regelmäßig Familientrennungen – vor allem bei Abschiebungen nach Moldau.
Aus dem „Armenhaus Europas“ fliehen vor allem Roma, die dort systematisch
diskriminiert werden und massiv von den Konsequenzen des Kriegs in der
benachbarten Ukraine betroffen sind. Dennoch werden ihre Asylanträge immer
abgelehnt.
Schon während des sogenannten Winter-Abschiebestopps ist es laut Barnickel
zunehmend passiert, dass nur ein Elternteil von der Polizei mitgenommen
wurde, auch schwangere Frauen, auch Kranke, während der andere Elternteil
mit Kindern zurückgelassen wurde. Bisweilen seien sogar beide Eltern
anwesend, doch die Polizei nehme trotzdem nur den Vater oder die Mutter mit
– offenbar auf Anweisung des Landesamts für Einwanderungen, das jede
Abschiebung einzeln anordnet. „Um die Effizienz bei Moldau-Abschiebungen zu
steigern, werden wohl teilweise gezielt Familientrennungen vorgenommen, um
Familien unter Druck zu setzen und sie zu zwingen, Berlin zu verlassen,
damit sie wieder als Familie zusammen sein können“, sagt Barnickel.
Für die Betroffenen seien Familientrennungen traumatisch, so die Beraterin,
in deren Sprechstunde immer mehr Verzweifelte vorsprechen. „Mütter, die
plötzlich mit ihren Kindern alleine dastehen, brechen zusammen, Kinder
können aus Angst, alleine zurückzubleiben, nicht mehr zur Schule gehen.“
Integrationsfortschritte würden so zunichte gemacht.
## SPD fährt offenbar härteren Kurs
Womöglich ist genau dies das politische Kalkül? Der Kurs der SPD-geführten
Innenverwaltung der letzten Monate legt den Gedanken nahe. Im alten
Koalitionsvertrag von Rot-Grün-Rot hieß es, dass Familientrennungen bei
Abschiebungen „zu vermeiden“ sind, allerdings waren sie laut
Verfahrenshinweisen des LEA möglich. Im Vertrag von CDU und SPD heißt es
dann noch unverbindlicher: „Eine Trennung von Familienangehörigen soll bei
Rückführungen in der Regel vermieden werden.“ Doch schon in der Endphase
von R2G „hat sich die SPD offenbar härter gemacht beim Thema
Rückführungen“, so Barnickel.
In der Tat war der Winter-Abschiebestopp ab Mitte Dezember, der bis Ende
März galt, nur auf Drängen von Grünen und Linken zustande gekommen,
Innensenatorin Iris Spranger (SPD) wollte zunächst nicht. Zudem galt der
Stopp nicht für „Rückführungen“ in EU-Länder und nicht für „Straftä…
worunter alle zählten, die zu 50 Tagessätzen oder mehr verurteilt worden
waren. „Das ist eine Bagatellgrenze, schon für dreimaliges Fahren ohne
gültiges Ticket oder einen kleinen Ladendiebstahl kann man das bekommen“,
betont Barnickel.
So wurden [1][157 Menschen trotz „Abschiebestopp“ abgeschoben], davon waren
[2][46 moldauische Staatsangehörige]. Das Gebot, Familien nicht zu trennen,
habe bei „Straftätern“ und beim zweiten Abschiebeversuch am Ende von R2G
nicht mehr gegolten, sagt Barnickel. Seit Ende des Winterabschiebestopps
gibt es fast wöchentlich wieder Abschiebungen nach Moldau.
Dass es dabei „regelmäßig“ zu Familientrennungen kommt und „das Vorgehen
der Vollzugsbehörden immer vehementer und gewaltvoller wird“, haben
Flüchtlingsrat und andere Organisationen kürzlich in einem [3][offenen
Brief an Spranger] kritisiert. Die Unterzeichner, darunter der
Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, weisen zudem
darauf hin, dass Deutschland aufgrund der systematischen Verfolgung und
Ermordung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus eine besondere
historische Verantwortung habe.
## „Besonders schutzwürdige Gruppe“
Wie schon die Unabhängige Kommission Antiziganismus in ihrem
[4][Abschlussbericht im Juni 2021] fordern auch sie, dass „die in
Deutschland lebenden Roma aus historischen und humanitären Gründen als eine
besonders schutzwürdige Gruppe anzuerkennen sind“.
Ein Sprecher der Innenverwaltung erklärte kurz vor Redaktionsschluss, zum
aktuellen Fall habe er noch keine Informationen. „Die Vorhalte wiegen
jedoch schwer, sodass wir unmittelbar eine Stellungnahme eingefordert
haben.“
29 Jun 2023
## LINKS
[1] /Fluechtlingspolitik-in-Berlin/!5928662
[2] /Umgang-mit-Roma-aus-Moldau/!5933465
[3] https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/12-06-2023-humanitaere-u…
[4] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat…
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Abschiebung
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