# taz.de -- Sexualwissenschaftler über Till Lindemann: „Er hat etwas Gepanze… | |
> Im Pornovideo von Rammstein-Sänger Till Lindemann werden Frauen | |
> entsubjektiviert. Sebastian Schädler spricht über den fehlenden Spaß am | |
> Begehren. | |
Bild: Rammstein-Sänger Till Lindemann während eines Konzertauftritts in Horse… | |
wochentaz: Herr Schädler, in einem jetzt von einer großen Öffentlichkeit | |
entdeckten Pornovideo zu dem Song „Till the End“ sieht man Till Lindemann | |
beim „Rough Sex“ mit jungen Frauen. Keine:r wirkt dabei, als ob er oder | |
sie Spaß hat – die teils Lindemann-Masken tragenden passiven Frauen werden | |
auf Tische gepresst, gedemütigt und mit Gewalt fixiert, sie würgen am | |
Lindemann-Penis, sehen gequält aus. Auch der Rammstein-Sänger selbst | |
scheint sich nicht zu amüsieren. Was für eine Art Sex wird hier propagiert? | |
Sebastian Schädler: Dass es keine Begehrensinszenierung gibt, kein Spaß | |
gezeigt wird, unterscheidet das Video von anderen „Rough Sex“-Videos. Bei | |
üblichen Pornoproduktionen wird zumindest vorher oder hinterher irgendeine | |
Art positiver Lust gezeigt. Ich nehme trotzdem erst mal an, dass der Film | |
unter ordentlichen Produktionsbedingungen erstellt wurde und dass in ihm | |
keine nichtkonsensuelle Gewalt zu sehen ist. Er ist eine Inszenierung und | |
insofern ein Bestandteil unserer visuellen Kultur, in dem Sex gezeigt wird. | |
Ich habe also kein Problem mit den Sexpraktiken an sich, ein moralisches | |
sowieso nicht. Ein Problem habe ich mit der Inszenierung dieser Praktiken. | |
Die Frauen werden zu einer Art von Fleisch reduziert, sie bleiben – im | |
Gegensatz zu Lindemann – namenlos, er arbeitet sich fließbandartig an | |
Körpern und Löchern ab, das nennt man in der klassischen feministischen | |
Kritik Entsubjektivierung, denn in der feministischen Pornografie haben | |
Frauen immer eine Subjektivität, also ein eigenes Begehren an dieser | |
Sexpraktik. Verboten ist diese Art der nichtfeministischen Pornografie | |
dennoch nicht. | |
Bei einem konsensuellen Heterosex-Gangbang werden schließlich Männer auch | |
auf ihre Sexualorgane reduziert. | |
Genau, die Reduktion an sich muss kein Problem sein. Sex muss nicht | |
unbedingt mit Liebe oder mit Gefühlen zu tun haben. Man kann durchaus puren | |
Sex, pure Praxis genießen – und das auch filmen, wenn es konsensuell ist. | |
[1][Sich jetzt darüber so zu ereifern wie Lindemanns Buchverlag], das ist | |
eine überflüssige moralische Empörung. Für mich ist eher das Problem, was | |
Lindemann als Sexualität für sich selbst inszeniert, dazu gibt es eine | |
klassische feministische Theoriefigur: der Mann, das unbekannte Wesen. | |
Männer kennen sich selbst nicht. Ich unterstelle Lindemann, so wie er sich | |
darstellt, dass er seinen eigenen Körper in dessen Vielfältigkeit von Lust | |
und Begehren nicht kennt. Das soll nicht heißen, dass er unbedingt auch mal | |
Kuschelsex machen muss. Aber er hat ja wirklich eine Penisfixierung, wie | |
sie im Buche steht. | |
Jedenfalls die von ihm inszenierte Künstlerfigur oder Persona hat eine. | |
Er zeigt seinen eigenen Körper, seinen eigenen Schwanz, das ist etwas | |
Intimes, Persönliches. Die Differenz zwischen künstlerischem Ich und seiner | |
Person ist darum eher klein. Seine Inszenierung von männlicher Sexualität | |
entspricht dem Klischee, dass Männer sich selbst zwar nicht kennen, aber | |
trotzdem glauben, dass es die höchste Form von Lust ist, wenn sie es Frauen | |
mal „so richtig besorgen“. Männer sind in dieser Tradition diejenigen, die | |
Frauen zum Beispiel durch SM-Praktiken beibringen, was sie noch nicht | |
wissen. | |
Die Frau ist zwar der begehrte Körper, aber sie kann nichts mit diesem | |
Körper anfangen. Sie braucht den Mann dazu, [2][das ist Thema bei de Sade], | |
bei „9 1/2 Wochen“, bei „Fifty Shades Of Gray“: Der Mann zeigt der Frau, | |
wie das ist mit diesem – nach Freud und schon damals in problematischer | |
Perspektive – dunklen Kontinent. Also man nutzt Sex als Pädagogik, und der | |
Pädagoge ist der Mann. Und das finde ich bizarr. Der Mann selbst lernt auch | |
nichts dabei, weil sein Penis immer funktioniert, wie ein Roboter. Deshalb | |
muss er nichts lernen. Das ist verrückt. | |
In dem Video fehlt der Cumshot – extrem selten in Pornos mit Männern. Bei | |
den Frauen fehlt die gespielt postorgiastische Miene sowieso. | |
Eine pornografiekritische These besagt, dass es in dieser Art von Pornos | |
ohnehin nicht um Sex geht, sondern ausschließlich um Dominanz und Gewalt | |
und Macht, und das würde es schon ein bisschen treffen. Nicht mal mehr der | |
eigene Sex wird durch einen Cumshot inszeniert, sondern man will zeigen, | |
dass die Frauen Spaß haben, durch einen – Lindemanns – Schwanz dominiert zu | |
werden. | |
Aber man sieht ja nicht, dass sie Spaß haben. | |
Man kann Spaß am Schmerz haben, dann lacht man nicht dabei. [3][Zum | |
Beispiel beim BDSM wird Lust mit Schmerz konnotiert], das ist Teil des | |
Arrangements. Für mich ist nur seltsam: In anderen Arten von Pornografie | |
gibt es eine sichtbare Verabredung, auch wenn die nur angedeutet wird, vor | |
allem beim sehr konsensuellen BDSM. Es gibt ein Treffen, ein Ausziehen, | |
alles ganz schnell in Sekundenbruchteilen, aber es gibt eine Art von | |
Hinführung, wenn auch keine echte Narration. Im Lindemann-Video nicht. Bei | |
diesem Video ist der Schmerz omnipräsent, sowohl im Gesichtsausdruck | |
Lindemanns als auch bei den Frauen, das ist also ein sehr lustferner Film. | |
Diese Art von männlicher Sexualitätsinszenierung finde ich höchst | |
kritikwürdig. | |
Verachtet er die Frauen vielleicht dafür, dass sie ihn ständig in | |
Versuchung bringen, und sich selbst dafür, dass er dieser Versuchung | |
nachgeht? | |
Frauenverachtung würde ich ihm nicht unterstellen, da gibt es andere | |
Videos. Aber ihn interessieren Frauen anscheinend nicht. Es geht ihm weder | |
um deren noch um seine eigene Sexualität. Vielleicht sollte er sich mal | |
über männliche Sexualität informieren. Er hat etwas sehr Gepanzertes in dem | |
Video, wie eine Maschine, das erinnert an Theweleits These vom | |
Körperpanzer. | |
Die Frauen werden in solchen Videos scheinbar zum Sex gezwungen, sie haben | |
also keine Lust dazu. Ist das das alte Narrativ der stets lustlosen Frau, | |
die ihr Begehren nicht formulieren darf, weil sie sonst eine Schlampe ist? | |
Das ist typisch für unsere christlich bestimmte Kultur – im Islam oder | |
Judentum ist sexuelle Lust höhergestellt, da gibt es nicht die Aufteilung | |
von Frauen in Heilige und Hure. Da soll zwar die sexuelle Lust | |
ausschließlich in der Ehe stattfinden, ist aber als solche nicht verpönt. | |
In der christlichen Tradition galten Frauen, die ihre Lust auslebten, als | |
Hexe, Hure oder Femme fatale. Das hat sich zum Glück seit der zweiten | |
Frauenbewegung der 70er Jahre geändert. Dennoch wissen gerade junge Frauen | |
und auch Männer oft immer noch nicht genau, was sie wünschen oder | |
verweigern „dürfen“. Sexualpädagogik muss immer noch vermitteln, wie das | |
nicht nur mit der Stimme, sondern auch mit dem Körper geht, ja, aber auch | |
nein zu sagen. | |
Wieso sagen Frauen überhaupt oft Nein, haben sie wirklich weniger Lust als | |
Männer? | |
Männlich gedachte Sexualitätsformen sind oft nicht besonders vielfältig, | |
achten nicht auf interdependente Lusterfüllung, beziehen nicht so viele | |
Körperzonen mit ein, sind sehr schwanz-, penetrations- und orgasmusfixiert. | |
Es gibt eine Ritualisierung – das gefällt Frauen einfach oft nicht, weil | |
auf ihre Bedürfnisse nicht eingegangen wird, das führt zu übergriffiger | |
Sexualität. Frauen sagen also vielleicht auch Nein zu dieser Art von | |
Sexualität. Dazu gibt es die lange Diskreditierung der weiblichen Lust als | |
medizinisch zu behandelnde Hysterie. | |
In der [4][Serie „The Idol“] steht die Protagonistin auf Asphyxie, sie | |
findet es erregend, wenn ihr Liebhaber beim Dirty Talk davon spricht, sie | |
mit seinem Schwanz zu ersticken. Dieses „gagging on his cock“, das auch im | |
Lindemann-Video praktiziert wird, ist – jedenfalls nach seiner | |
Pornohäufigkeit – eine weit verbreitete Praktik oder Fantasie. Seit wann | |
gilt der gewalttätig wirkende Oralsex, das Würgen und Fastersticken als | |
Sexmainstream? | |
Mich würde es überraschen, wenn plötzlich 30 oder 40 Prozent der Frauen | |
tatsächlich Lust auf Würgereflexe hätten. Das erscheint mir rein | |
statistisch zu häufig. Diese Vorliebe mag vorkommen, genau wie Asphyxie, | |
und es ist eh alles erlaubt, aber das wird medial momentan | |
überrepräsentiert. Offensichtlich geht es auch um eine Art von gewollter | |
Skandalisierung. Die Sexualwissenschaftlerin Nicola Döring hat das ganz | |
aktuell untersucht und spricht von einer medialen „Normalisierung von Rough | |
Sex“. | |
Die Gefahr besteht, dass das gegen deren Willen in die Praktiken von jungen | |
Menschen einfließt. Man muss also unbedingt darüber reden, damit weder | |
Frauen noch Männer denken, sie müssen eine solche Praktik übernehmen, nur | |
weil es jetzt dazugehört. Dagegen hilft nur Sprechen, Sprechen, Sprechen. | |
In der sexuellen Bildung nennt man das sexuelle Körperkompetenz: die | |
eigenen Lüste und Grenzen der eigenen Lust kennen, sie formulieren, aber | |
auch nonverbal ausdrücken zu können. Das wird bei uns vernachlässigt. | |
24 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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