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# taz.de -- Lehrerverbandschef über Bildungskrise: „Ein ganz schlechtes Omen…
> Lehrerverbandschef Heinz-Peter Meidinger ist ein gefragter Schulexperte.
> Nun gibt er sein Amt ab. Zum Abschied nimmt er die Politik in die
> Pflicht.
Bild: Ist seit 2017 Chef beim Lehrerverband: Heinz-Peter Meidinger. Ende Juni e…
taz: Herr Meidinger, bei unserem letzten [1][ausführlichen Interview vor
vier Jahren] schien das Schuleschwänzen der Fridays for Future gerade das
größte Schulproblem im Land zu sein – auch Sie waren damals als Schulleiter
eines Deggendorfer Gymnasiums durchaus verärgert, dass Jugendliche das
Klima für wichtiger hielten als Unterricht. Wie blicken Sie heute auf die
Bewegung?
Heinz-Peter Meidinger: Ich begrüße, wie schon damals, dass sich so viele
Jugendliche für den Erhalt unseres Planeten einsetzen. Was ich kritisiert
habe, ist, dass das Engagement fürs Klima gegen die Schulpflicht
ausgespielt worden ist. Als Schulleiter waren mir da die Hände gebunden.
Heute spielen die Freitagstreiks an Schulen und in der Öffentlichkeit kaum
mehr eine Rolle, alle reden über die „Klimakleber“ – allerdings darüber
leider oft mehr als über den Klimawandel.
Sind Sie auch deshalb so versöhnlich, weil sich die Bildungskrise seither
so drastisch zugespitzt hat? Ein Viertel der Grundschüler:innen kann
nicht richtig lesen, die soziale Schere geht weiter auseinander.
Gleichzeitig [2][fehlen Zehntausende Lehrkräfte].
Aus heutiger Sicht wirkt es tatsächlich verrückt, dass wir uns so lange
über die Klimastreiks und den damit verbundenen Unterrichtsausfall
aufgeregt haben. Danach kam ja gleich die Pandemie und der Unterricht fiel
erst mal für Monate aus. Und ja, Sie haben recht: Wenn sowohl [3][der
IQB-Bildungstrend] als auch die IGLU-Studie beweisen, dass ein Viertel der
Grundschüler nicht richtig lesen kann, ist das ein katastrophaler Befund.
Und gleichzeitig ein ganz schlechtes Omen für deren weiteres Leben. Diese
Kinder werden es auf ihrem weiteren Schul- und Lebensweg sehr schwer haben.
Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen: Wenn im Dezember die
Pisa-Ergebnisse veröffentlicht werden, dann werden wir auch bei den älteren
Schüler:innen ähnlich besorgniserregende Ergebnisse haben.
Zu dem Zeitpunkt sind Sie dann schon nicht mehr Lehrerverbandschef. Ende
des Monats geben Sie Ihr Amt an Stefan Düll ab. Werden Sie sich künftig aus
Bildungsdebatten heraushalten?
Ich werde meinem Nachfolger auf jeden Fall nicht in die Suppe spucken und
weiter im Namen des Deutschen Lehrerverbandes sprechen. Alles hat seine
Zeit und es ist gut, dass ich jetzt den Stab an die nachfolgende Generation
übergebe. Ich bin ja auch bereits seit zwei Jahren raus aus dem
Schuldienst. Dennoch werde ich die Schulthemen weiterverfolgen. Und wenn
ich gefragt werde, werde ich als Privatmann auch weiter meine Meinung
sagen.
Bisher wurden Sie sehr oft nach Ihrer Meinung gefragt – auch weil Sie
jederzeit für knackige Kritik zur Verfügung standen. Fällt Ihnen die
Vorstellung schwer, bald nicht mehr Deutschlands Oberlehrer zu sein?
Ich verabschiede mich mehr mit einem lachenden als mit einem weinenden
Auge. Ich freue mich auf viele Dinge, zu denen ich in den letzten Jahren so
gut wie gar nicht mehr gekommen bin. Ich habe sehr viele Gesetzestexte und
Studien gelesen, aber kaum Literatur. Ich bin ja Germanist. Es stehen viele
ungelesene Bücher in meinen Regalen. Außerdem will ich wieder häufiger ins
Theater gehen. Gerade überwiegt die Vorfreude auf die Zeit nach dem Amt.
In Ihrer Zeit als Lehrerverbandschef sind Sie mit teils sehr scharfen
Formulierungen aufgefallen. Einmal bezeichneten Sie den Einsatz nicht
ausreichend qualifizierter Quereinsteigender als „Verbrechen“ an den
Schüler:innen. In einer Streitschrift warfen Sie den Ministerien die „10
Todsünden der Schulpolitik“ vor. Warum diese Schärfe?
Überspitzung gehört natürlich zu unserer Mediendemokratie dazu. Ich
schließe aber nicht aus, dass ich an der ein oder anderen Stelle übers Ziel
hinausgeschossen bin. Den Satz mit dem Verbrechen würde ich heute so nicht
mehr formulieren. Ich habe schnell gemerkt, dass sich viele Quereinsteiger
damit angegriffen gefühlt haben. Das wollte ich nicht. Ich wollte eine
Politik kritisieren, die es nicht für nötig hält, fachfremde Lehrkräfte
entsprechend nachzuqualifizieren. Sehr scharf bin ich auch für meine
Äußerung zur Migrationsquote kritisiert worden …
… Anfang des Jahres haben Sie gefordert, Kinder mit Migrationsgeschichte
besser auf alle Schulen zu verteilen, um eine „Ballung“ von Sprachdefiziten
zu verhindern. Bildungsforscher:innen haben daraufhin kritisiert, dass
Sie Stereotype bedienen. Entscheidend für den Schulerfolg ist die soziale
Herkunft.
Das stimmt, aber bei vielen Kindern mit Zuwanderungsgeschichte kommen
Sprachdefizite und fehlende Unterstützung durch das Elternhaus dazu.
Studien zeigen, dass hohe Migrationsanteile und segregierte Schulen lern-
und integrationshinderlich sind. Laut IQB-Bildungstrend fallen
Schulleistungen bei Kindern, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, besonders
stark ab. Aus meiner Sicht wäre es wichtig, diese gefährdete Gruppe
ausgewogener auf Lerngruppen zu verteilen, auch wenn es schwierig ist. Da
geht es um Schulsprengel, Wohnungspolitik und mehr Steuerung. Für die
Politik scheint das aber ein Tabuthema zu sein.
Den Bildungsminister:innen werfen Sie regelmäßig vor, die Augen vor
den Missständen zu verschließen und sich stattdessen selbst zu feiern –
etwa für immer bessere Abischnitte. Würden wir heute besser dastehen, wenn
die Politik sich früher ehrlich gemacht hätte?
Mit Sicherheit, wobei nicht nur die Schulpolitik schuld ist. Die Interessen
der Kinder spielen an den Kabinettstischen keine große Rolle. Das gilt auch
für den Bund. Vom versprochenen Digitalpakt II habe ich noch gar nichts
gehört und das [4][Startchancenprogramm] kommt kaum aus den Startlöchern.
Apropos Abischnitte: Der neue KMK-Beschluss zur Oberstufe ist mehr Kosmetik
als Durchbruch. Ich bezweifle, dass das Abitur dadurch wirklich
vergleichbarer wird.
Nach der ernüchternden IGLU-Studie zur Lesekompetenz von
Grundschüler:innen hat [5][KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch]
(CDU) „schnelle, wirksame und nachhaltige Lösungen“ versprochen. Wie
sollten die Ihrer Meinung nach aussehen?
Das Grundproblem ist ja, dass viele Kinder an die Grundschulen kommen, ohne
dem Unterricht sprachlich folgen zu können. Da anzusetzen, ist der
Schlüssel. Bei der vorschulischen Förderung haben wir massiven
Nachholbedarf. Nur Hamburg setzt konsequent auf Sprachstandstests bei allen
Vierjährigen und – je nach Ergebnis – auf verpflichtende Sprachförderung.
Daneben müssen wir uns fragen, warum andere OECD-Länder im Schnitt 200
Minuten pro Woche an Grundschulen die Muttersprache unterrichten, wir aber
nur 140 Minuten. Was aber zugunsten von Deutsch wegfallen sollte, darüber
schweigt die Politik.
Sie würden auf Englisch verzichten.
Richtig. Es ist ja schön, an einer Grundschule eine Fremdsprache
anzubieten. Aber bei ein oder zwei Stunden in der Woche ist das für den
späteren Lernerfolg irrelevant. Deswegen würde ich an Grundschulen, die
Probleme mit Deutsch haben, diese Stunden besser auch für Deutsch
verwenden.
Das allein wird nicht reichen, um die anhaltende Chancenungleichheit im
Land zu brechen. Wie stehen Sie zu Gemeinschaftsschulen, also dem Konzept
des längeren gemeinsamen Lernens?
Wenn man sich die Praxis anguckt, dann schneiden die beiden Bundesländer
mit längerem gemeinsamen Lernen – Berlin und Brandenburg – bei der
Chancengerechtigkeit nicht besser ab als der Rest. Ich bin kein Gegner der
Gemeinschaftsschule. Warum aber müssen diese Schulen automatisch besser
personell ausgestattet werden als beispielsweise Gymnasien?
Eine bessere Ausstattung hängt doch mit der sozial benachteiligten
Schüler:innenschaft zusammen.
In einigen Bundesländern gelten generell für Gemeinschafts- oder
Gesamtschulen geringere Klassenhöchststärken unabhängig von der
Sozialquote.
Jedes Jahr verlassen knapp 50.000 Schüler:innen die Schule ohne
Abschluss. Was wäre da Ihre Lösung?
Die Frage ist schwer zu beantworten. Ich bezweifle aber, dass eine Reform
der Schulstruktur hier viel bewirkt. Bremen setzt stark auf
Gemeinschaftsschulen, hat aber die höchste Schulabbrecherquote in
Deutschland. Eine Langzeitstudie in Hessen, die sogenannte Life-Studie,
zeigt, dass Schulstrukturänderungen kaum Effekte für mehr
Bildungsgerechtigkeit haben. Der Einfluss der Eltern toppt nach wie vor
alles!
Also brauchen wir mehr Zeit für Beziehungsarbeit?
Ich würde die Analyse teilen, dass wir zu wenig Zeit für den einzelnen
Schüler haben. Wir bräuchten eine Entlastung für Lehrkräfte, zum Beispiel
über mehr multiprofessionelle Teams. Die Frage ist: Wie gut funktioniert
das in Zeiten des Fachkräftemangels?
In Bayern wird im Herbst gewählt. Falls Markus Söder wieder gewinnt und
Ihnen das Amt des Kultusministers anbieten würde: Würden Sie annehmen?
(lacht) Markus Söder wird mich mit Sicherheit nicht anrufen. Und wenn, holt
er sich bei mir einen Korb ab.
23 Jun 2023
## LINKS
[1] /Lehrerverbandschef-zu-Fridays-for-Future/!5575715
[2] /Massnahmen-gegen-Lehrkraeftemangel/!5918498
[3] /Schule-und-jede-Menge-Fragen/!5887426
[4] /Ampelplaene-fuer-Bildungsgerechtigkeit/!5895419
[5] /Vorsitzende-der-Kultusminister-zu-Bildung/!5931969
## AUTOREN
Ralf Pauli
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