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# taz.de -- Ziviler Ungehorsam im Iran: Aufbegehren im Kontrollstaat
> Im Iran widersetzen sich die Frauen mit zivilem Ungehorsam den
> Sittenregeln. Das Regime reagiert mit Ausgrenzung und setzt auf
> Überwachungshightech.
Bild: Iranische Frauen bilden die Speerspitze des Widerstands: Straßenszene in…
Wien taz | Auf einigen Bildern ist der Iran kaum wiederzuerkennen. Weg sind
die schwarzen Schleier. Stattdessen sieht man wehende Haare, schwarz,
lockig, blondiert, von bobkurz bis hüftlang. Manchmal spaziert auch eine
komplett verschleierte Frau im Tschador schwesterlich neben einer Frau im
T-Shirt und mit offenem Haar – ein Zeichen der gegenseitigen Toleranz und
gegen die Polarisierung, die das iranische Regime zwischen religiösen und
nichtreligiösen Bürgerinnen und Bürgern schaffen will.
Solche Bilder machen in sozialen Medien kaum noch die Runde, zu gewöhnlich
sind sie geworden. Zumindest in den großen Städten gehören Akte des zivilen
Ungehorsams gegen das Mullahregime inzwischen – ein Dreivierteljahr nach
Ausbruch der letzten großen Protestwelle – fast schon zum guten Ton. Um
viral zu gehen, muss man weitergehen: im Minirock die Einkaufsstraße
Valiasr in Teheran entlangspazieren oder in kurzen Sporthosen und Tanktop
Fahrrad fahren – Dinge, die anderswo normal erscheinen, in der Islamischen
Republik aber immer noch ungeheuren Mut erfordern.
Zwar patrouilliert die gefürchtete Sittenpolizei nicht mehr in den Straßen,
doch das Regime ermuntert [1][die gewaltbereiten Basidschi], die
Sittengesetze zu überwachen und mit allen Mitteln durchzusetzen. Die
Freiwilligenmiliz besteht überwiegend aus jungen Männern und Frauen, die
meist in armen Stadtvierteln rekrutiert und anschließend stark
indoktriniert wurden.
Die Speerspitze des Widerstands gegen die islamistische Unterdrückung im
Iran bilden nach wie vor die Frauen. Denn in der Islamischen Republik, die
nach der Revolution von 1979 ins Leben gerufen wurde, wird soziale und
politische Kontrolle in erster Linie als Kontrolle über den weiblichen
Körper ausgeübt.
„Der Hidschab ist ein Symbol der Islamischen Republik. Gibt es keinen
Hidschab, macht die Islamische Republik keinen Sinn mehr“, sagte vor
wenigen Wochen Mohammad Dehghan, der amtierende Vizepräsident für
juristische Fragen. Iranische Aktivistinnen wie die in den USA lebende
[2][Masih Alinejad] vergleichen den Zwangshidschab darum mit der Berliner
Mauer: Fällt der Hidschab, fällt auch die Islamische Republik.
„Indirekte und intelligente“ Methoden
Seit Monaten schon sucht das Mullahregime deshalb nach neuen Methoden, um
die Einhaltung der vermeintlich islamischen Sitten durchzusetzen. Unzählige
Gremien und Taskforces arbeiten daran, die ins Wanken geratene
Gesellschaftsordnung aus Puritanismus und Frauenverachtung zu bewahren und
Verstöße zu ahnden. Wie die neuen Wege der Strafverfolgung genau
funktionieren, bleibt vorerst allerdings zumindest auf Gesetzesebene im
Vagen. Ständig werden neue Maßnahmen eingeführt, wieder zurückgenommen,
überarbeitet, ersetzt, erweitert. Die Unklarheit in der Gesetzgebung
scheint System zu haben: Eine breite öffentliche Debatte wird dadurch
verhindert oder zumindest erschwert.
Trotzdem lässt sich inzwischen eine Strategie erkennen, die es in sich hat:
Physische Übergriffe wie im Fall Mahsa Aminis, deren mutmaßliche Tötung
durch die Sittenpolizei vergangenen September die Massenproteste auslöste,
seien zumindest für offizielle Behörden ab jetzt tabu, sagte Bijan Nobaveh
Vatan, ein ultrakonservatives Parlamentsmitglied. Stattdessen sollen die
Behörden auf „indirekte und intelligente Strafmethoden“ zurückgreifen, um
Verstöße gegen den Zwangshidschab und andere Sittenregeln zu ahnden. So
steht es in einem Gesetzentwurf, der im März von einer Gruppe konservativer
Abgeordneter vorgelegt wurde.
Gewalt gibt es aber weiterhin. Sie wird jetzt halboffiziellen Gruppen wie
den Basidschi überlassen, von denen sich die politische Führung notfalls
distanzieren kann. In sozialen Medien berichten Iranerinnen und Iraner, wie
die Freiwilligenmiliz in den Stadtvierteln patrouilliert – mit einer
faktischen Lizenz zum Ermahnen, Belästigen und Misshandeln.
Weniger grausam, aber vielleicht noch effektiver sind die „indirekten und
intelligenten“ Methoden. Schon seit rund einem Jahr blicken die Iranerinnen
und Iraner mit Sorge auf die vielen Überwachungskameras, die sich fast
epidemisch im ganzen Land ausbreiten.
„Als innovative Maßnahme wird die iranische Polizei intelligente Kameras an
öffentlichen Orten einsetzen, um Personen zu identifizieren, die gegen die
Vorschriften verstoßen“, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur Tasnim
die Polizei. Frauen, die den Hidschab verweigern, werden jetzt nicht mehr
durch die Sittenpolizei identifiziert und festgenommen, sondern durch
hochmoderne Überwachungskameras mit Gesichtserkennung erfasst. Beim ersten
Mal erhalten sie eine Ermahnung, spätestens beim zweiten Mal eine
Geldstrafe.
Die Höhe der Strafe liegt aktuell bei bis zu 100 US-Dollar, dem aktuellen
Monatslohn eines iranischen Fabrikarbeiters. Hardliner haben aber bereits
Beträge von 60.000 Dollar gefordert. Wer die Strafen nicht zahlen will oder
kann, dem wird das Bankkonto gesperrt. „Für Reiche wird somit sogar der
Hidschab optional“, kritisierte Nasila Marufian, eine iranische
Journalistin, einen entsprechenden [3][Gesetzentwurf], der im Mai dem
Parlament vorgelegt wurde.
Doch die Strafen reichen über die Geldbuße hinaus: Geschäfte, Cafés,
Restaurants und Einkaufszentren, in denen Frauen ohne Hidschab gesichtet
werden, werden dichtgemacht. Autos, in denen unverschleierte Frauen
mitfahren, werden konfisziert. Ziel dieser Maßnahmen sei „die soziale
Ausgrenzung“ von Frauen, die den Hidschab verweigern, so der
ultrakonservative Abgeordnete Ali Yazdikhah.
Technologie aus China
Möglich wird diese Art der Strafverfolgung durch chinesisches Hightech.
2021 schloss Iran mit China ein Abkommen über strategische Kooperation mit
einer Laufzeit von 25 Jahren. Im Gegenzug zu billigem Erdöl und zur
Übernahme verschiedener Wirtschaftszweige durch chinesische Firmen bekommt
Iran aus China Überwachungstechnologie. Obwohl iranische Funktionäre den
Kauf solcher Spitzentechnologie nicht zugeben, rühmt sich der chinesische
Marktführer für Überwachungstechnik Tiandy auf seiner Website offen seiner
Geschäftsbeziehungen zu Teheran. Was in China unter anderem dazu dient,
Uiguren zu verfolgen, wird im Iran verwendet, um Demonstrierende und
unverschleierte Frauen zu identifizieren.
Dass im Iran aktuell eine Kultur des zivilen Ungehorsams aufblüht, ist
angesichts solcher Formen der Repression bemerkenswert, wenn auch kein
neues Phänomen: Früher waren es Frauen, die unter dem Hidschab einzelne
Haarsträhnen hervorscheinen ließen, die die Grenzen des Möglichen
verschoben. Heute sind es Frauen, die den Hidschab komplett ablegen und in
T-Shirt und kurzen Hosen durch die Parks spazieren.
Aus den Reihen der Opposition im Iran heißt es, es sei nur eine Frage der
Zeit, bis der Protest auch wieder auf die Straßen getragen werde. Ein
potenzieller Auslöser ist die horrible Wirtschaftslage im Land. Die
geschwächte Regierung plant deshalb schon länger eine Erhöhung der stark
subventionierten Gas- und Benzinpreise, hat den Schritt aber immer wieder
verschoben – wohl aus Angst vor neuen Ausschreitungen. [4][Schon 2019 hatte
eine Erhöhung der Benzinpreise Proteste ausgelöst.]
„Jeder Funke könnte ausreichen, um das Fass in die Luft zu jagen“, sagt ein
Regimegegner im Gespräch mit der taz, der aus Sicherheitsgründen anonym
bleiben will. Ein Hashtag, der in diesen Wochen in den sozialen Medien im
Iran kursiert, lautet: „Es wird ein heißer Sommer“.
5 Jun 2023
## LINKS
[1] /Irans-Repressionsapparat/!5898561
[2] /Nach-dem-Tod-von-Mahsa-Zhina-Amini/!5881370
[3] https://www.rferl.org/a/iran-hijab-bill-parliament/32427981.html
[4] /Proteste-in-Iran/!5643284
## AUTOREN
Teseo La Marca
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