# taz.de -- Grüne nach dem Fall Graichen: Die Angeschlagenen | |
> Erst hat sich Robert Habeck hinter Graichen gestellt, dann musste der | |
> Staatssekretär doch gehen. Wie geschwächt ist Habeck? Und was sagt die | |
> Partei? | |
Bild: Robert Habeck muss sich auf weitere Angriffe einstellen | |
BERLIN taz | Keine Frage, Robert Habeck ist angeschlagen. Der Mann, der da | |
am Mittwochmorgen im Wirtschaftsministeriums vor der Presse steht, ist | |
verkrampft. Immer wieder hält er sich mit beiden Händen am Redepult fest, | |
den Text liest er vom Blatt ab. Von Habeck, dem souveränen | |
Großkommunikator, ist nichts zu spüren. „Es war der eine Fehler zu viel“, | |
sagt er. Das heißt: [1][Klimastaatssekretär Patrick Graichen muss nun doch | |
gehen]. | |
Nach der „Trauzeugen-Affäre“ hatte Habeck angeordnet, alle Vorgänge | |
Graichens im Ministerium noch einmal zu überprüfen. Und wie zu vermuten | |
war, wenn jeder Stein umgedreht wird, tauchten weitere Verstöße gegen die | |
Compliance-Regeln auf. Noch in der vergangenen Woche, als es darauf im | |
Ministerium bereits erste Hinwiese gab, hatte sich Habeck im Bundestag | |
hinter seinen Staatssekretär gestellt. Damit [2][ist Graichens | |
„Trauzeugen-Affäre“ noch stärker zu seiner eigenen geworden]. | |
Was Fragen aufwirft: Wie geschwächt ist Habeck? Wie groß ist die Krise, in | |
der die Grünen nun stecken? Und was bedeutet das alles für den Klimaschutz? | |
Hört man in die Partei hinein, ist von der großen Bedeutung der | |
Compliance-Regeln und Graichens Verdiensten für die Energiewende die Rede. | |
So ähnlich hatte es die Fraktionsspitze kurz nach Habecks Auftritt am | |
Mittwoch in einem internen Chat als Sprechregelung vorgeschlagen. Fragt man | |
nach dem Schaden, den Habeck genommen hat, wird abgewiegelt. | |
„Mit dem Schritt am Mittwoch hat Robert Habeck das Heft des Handels wieder | |
in der Hand“, sagt Jan-Niclas Gesenhues, der umweltpolitische Sprecher der | |
Fraktion. Geschwächt sei Robert Habeck nicht, meint auch Kassem Taher | |
Saleh, Berichterstatter der Fraktion für das Gebäudeenergiegesetz, kurz | |
GEG: „Er hat die nötige Entscheidung getroffen.“ Und Fraktionschefin | |
Katharina Dröge antwortet: „Die Debatte um Patrick Graichen war nicht | |
leicht. Aber Robert Habeck hat konsequent und transparent gehandelt. Darauf | |
kommt es an.“ | |
## Tiefpunkt und Trendwende? | |
Überraschend ist das nicht, für die Grünen geht es um viel. Um ihren | |
derzeit wichtigsten Politiker. Um das GEG, das Habeck als das wichtigste | |
Gesetz in dieser Legislatur bezeichnet hat. Und damit um die Frage, ob die | |
Grünen beim Klimaschutz ihre Versprechen umsetzen. | |
„Das kann der Tiefpunkt gewesen sein, von dem es wieder nach oben geht“, | |
meint auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. „Mit der | |
Entlassung hat Habeck die Chance, sich frei zu schwimmen und eine | |
Neuorientierung vorzunehmen. Als Person hat er das Zeug dazu.“ Schroeder | |
ist Sozialdemokrat mit Sympathie für die Grünen, als Parteienforscher hat | |
er seit langem die Berliner Machtpolitik im Blick. Er hält aber auch eine | |
ganz andere Entwicklung für möglich: „Es kann jetzt auch zu einer | |
Zementierung der schlechten Performance kommen.“ Schließlich sei deutlich | |
geworden, dass es um mehr als das Fehlverhalten einer Person gehe. | |
Lange ging es für die Grünen aufwärts. Ihr Thema, der Klimaschutz, hatte | |
Konjunktur, die Zustimmung war auch jenseits ihres Kernklientels groß. | |
Debattiert wurde bereits, ob die Grünen das Zeug zur Volkspartei hätten und | |
[3][ein Einzug ins Kanzleramt] möglich sei. „Jetzt aber geht es nicht mehr | |
um Wachstum, um die Frage, ob man bei einer Bundestagswahl 25 Prozent | |
erreichen kann. Jetzt geht es um die 75 oder 80 Prozent, die gegen die | |
Grünen sind“, sagt Schroeder. „Die Blickrichtung hat sich verändert.“ | |
Der Positivtrend hatte viel mit Habeck zu tun. Als Parteichef stellte er | |
gemeinsam mit Annalena Baerbock die Grünen neu auf – weg von Belehrungen, | |
Nische und Dagegen-Partei. Die beiden warfen ein paar Tabus über Bord, | |
verpassten den Grünen eine einladende Sprache und lobten auch mal die | |
anderen. | |
Schluss sollte mit der Lagerlogik sein, die ökologische Transformation | |
sollte das verbindende Element in der Gesellschaft werden. Und die Grünen | |
sollten, so Habeck, zu einer „Bündnispartei“ werden. Das hat sie in die | |
Bundesregierung geführt und ihn selbst in das wichtige Wirtschafts- und | |
Klimaministerium. Dort wendete er mit pragmatischer Politik eine | |
Energiekrise ab und ließ die Bevölkerung in Videos an seinen Überlegungen | |
teilhaben. Es lief gut. | |
Dann kamen die Debatte um die Laufzeitverlängerung für die verbliebenen | |
AKWs, die vergeigte Gasumlage und zuletzt das GEG. Ein unfertiger Entwurf | |
tauchte in der Bild-Zeitung auf, ein Konzept zur sozialen Abfederung | |
fehlte, eine Kommunikationsstrategie auch. Eine Steilvorlage für den | |
politischen Gegner, auch in der eigenen Koalition. Die alten Etiketten | |
waren schnell zur Hand: Ideologen! Verbotspartei! Die Zustimmung sinkt | |
weiter. Habecks Beliebtheitswerte auch. | |
Schroeder sieht dafür vor allem zwei Gründe: Die Grünen hätten völlig | |
unterschätzt, welche Sprengkraft ein Gesetz habe, das so tief in den Alltag | |
der Menschen eingreift. Überschätzt hätten sie die Unterstützung für ihre | |
Pläne. „Jetzt wird deutlich, dass die Grünen kaum gesellschaftlichen | |
Resonanzboden haben, weil sie auf das ganze Land betrachtet kaum verankert | |
sind“, sagt Schroeder. „Die Grünen haben die Hoheit über die | |
intellektuellen Zirkel. Aber die Hoheit in den alltagsweltlichen | |
Dimensionen fehlt ihnen.“ | |
Das könnte auch erklären, warum die Kampagne gegen das GEG von der Union, | |
Teilen der FDP und der Springer-Presse so gut verfängt. In Bremen, [4][wo | |
die Grünen bei der Wahl gerade über fünf Prozentpunkte verloren] haben, | |
meinen 80 Prozent der Bevölkerung, dass das Gesetz die Bürger*innen | |
überfordere. | |
## Grüne Selbstkritik | |
Die Grünen sprechen viel über die Kampagne und den Ärger auf die SPD, die | |
im Wahlkampf „Klimakanzler“ plakatiert habe, aber sich nun wegducke. Aber | |
manche Grüne blicken durchaus selbstkritisch auf die handwerklichen Fehler, | |
die im Wirtschaftsministerium gemacht wurden – auch jenseits des Fall | |
Graichen. | |
„Wenn wir antizipiert hätten, dass der unfertige Gesetzentwurf | |
durchgestochen wird, dann hätten wir ihn nicht ohne das fertige Konzept für | |
den Sozialausgleich in die Ressortabstimmung gegeben“, sagt Fraktionschefin | |
Dröge. „Daraus haben wir gelernt.“ | |
Nicht ganz so diplomatisch ist Umweltpolitiker Jan-Niclas Gesenhues. „Wir | |
müssen besser vorbereitet sein. Das Sozialkonzept kam zu spät.“ Ein anderer | |
Grüner drückt es noch klarer aus: „Wir müssen einkalkulieren, dass es im | |
Kern so wenige Verbündete gibt“, sagt er. Man sei zu gutgläubig und nicht | |
ausreichend vorbereitet gewesen. „Wir müssen klug, trickreich und geschickt | |
vorgehen – das haben wir ein paar mal nicht gemacht.“ Das könnte an Habecks | |
Politikansatz liegen, zu dem ein gewisser Vertrauensvorschuss für die | |
anderen politischen Player gehört. An Hybris, die es im | |
Wirtschaftsministerium durchaus geben soll. Oder schlicht an mangelnder | |
Erfahrung und Professionalität. | |
Habeck muss sich nun auf weitere Angriffe einstellen; wer geschwächt ist, | |
wird angegriffen, so ist das im politischen Berlin. Die Union hat schon | |
verkündet, dass sie das GEG kippen will. Die FDP setzt auf Verzögerung. Die | |
Länder haben Änderungsbedarf angemeldet. Teile der SPD auch. | |
Bei den Grünen werden zunehmend Stimmen laut, die einen robusteren Kurs in | |
der Ampel fordern. „Wir sollten nicht alle Angriffe runterschlucken“, meint | |
Umweltpolitiker Gesenhuis. „Manchen ist fast jedes Mittel Recht, um | |
Klimaschutz auszubremsen. Da müssen wir mit voller Härte gegenhalten.“ Man | |
habe die besten Argumente, müsse sie aber besser rüberbringen – „mit | |
einfachen Botschaften, nicht mit zehn Spiegelstrichen“. | |
Ein anderer Grüner meint: Robuster in der Ampel aufzutreten, heiße „nicht | |
weinerlich“, sondern mit „selbstbewusstem Selbstverständnis“. Das kann m… | |
durchaus als Seitenhieb auf Habeck verstehen. Der hatte jüngst beklagt, | |
dass der Gesetzentwurf durchgestochen worden sei und es eine miese Kampagne | |
gegen sein Haus gebe. Da steckt man schnell in der Opferfalle. | |
## Neue Härte | |
Doch nicht alle in der Partei finden eine neue Härte richtig. Die grüne | |
Spitze hatte sich eigentlich darauf verständigt, sich als | |
verantwortungsbewusste und staatstragende Kraft zu positionieren. Attacken | |
könnten das gemeinsame Regieren noch schwerer machen, sorgt man sich etwa | |
in der Parteizentrale. Und Fraktionschefin Dröge sagt: „Grundsätzlich bin | |
ich der Ansicht, dass dieses ganze öffentliche Streiten einer Regierung | |
nicht gut tut. In den Verhandlungen sind wir robust.“ | |
Politikwissenschaftler Schroeder sieht noch ein Problem. „Wesentliche | |
Wissensressourcen zum Thema Klimapolitik sind bei den Grünen monopolisiert. | |
Das führt zu Unbehagen.“ Das könne man der Partei nicht vorwerfen – sie | |
habe sich eben um Kompetenz bemüht, mehr als andere Parteien. Jetzt werde | |
gefragt: „Brauchen wir nicht mehr Pluralität?“ | |
Trotz aller Kritik geht Schroeder davon aus, dass die Grünen grundsätzlich | |
auf das gesellschaftliche Bewusstsein setzen können, dass eine Klimawende | |
notwendig sei. „Bei den Instrumenten und beim Tempo aber müssen sie | |
nachjustieren“, rät er. „Der Erfolg der Klimapolitik hängt ja davon ab, ob | |
sie gelingt. Und sie gelingt nur, wenn man die Bürger zumindest nicht gegen | |
sich aufbringt.“ | |
„Der Zeitplan steht“, drängt dagegen Kassem Taher Saleh, der zuständige | |
Berichterstatter der grünen Fraktion. Dreimal hab man bereits mit der der | |
Ampel über das GEG verständigt. „Es muss jetzt mit der Wärmewende weiter | |
gehen.“ | |
„Ich halte es für klug, dass das Gesetz am 1. Januar 2024 in Kraft treten | |
soll“, sagt auch Fraktionschefin Katharina Dröge. „Sonst würden wir das | |
falsche Signal an die Menschen senden, dass es schlau ist, sich noch mal | |
eine Gasheizung einzubauen. Das wäre nicht nur schlecht für den | |
Klimaschutz, sondern auch ganz klar eine Fehlinvestition.“ Und: „Ich bin | |
mir sicher, dass wir das Gesetz vor dem Sommer im Bundestag verabschieden, | |
wie wir es in der Koalition gemeinsam mit dem Kanzler verabredet haben.“ | |
Laut diesem Zeitplan soll das Gesetz in der kommende Woche im Bundestag | |
eingebracht werden. Ob das wirklich passiert? Darüber wird ampelintern noch | |
gerungen. | |
20 May 2023 | |
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