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# taz.de -- Grüne Klimapolitik: Wer macht weiter?
> Mit Graichen verlässt der wichtigste Experte und Anwalt für
> Klimaneutralität die Regierung. Eine Neubesetzung könnte jedoch auch eine
> Chance sein.
Bild: Am 10. Mai verteidigte Habeck seinen Staatssekretär noch – nun braucht…
Weil er Berufliches und Privates nicht strikt getrennt hat, muss Patrick
Graichen nun gehen. Viele hielten ihn für Habecks wichtigsten Mitarbeiter.
Denn quer durch alle politischen Lager und Meinungen zur „Affäre Graichen“
ist das Urteil einhellig: Patrick Graichen sei [1][„der Mastermind der
Energiewende“] und „fachlich unverzichtbar“.
Wie also geht es weiter mit der Energiewende, wenn der zentrale Lotse über
Bord geht? Stockt mit dem Ende der kurzen Ära Graichen auch der Umbau
Deutschlands Richtung Klimaneutralität?
Nein, sagt das Wirtschaftsministerium auf Anfrage: „Wir haben nach Jahren
des Stillstands und der Blockaden in der alten Bundesregierung eine neue
Dynamik ausgelöst und wesentliche Weichen in Richtung Energiewende und
Klimaneutralität gestellt“, heißt es. „Daran arbeiten wir mit unveränder…
Kraft und Konzentration weiter.“
Tatsächlich hat das Wirtschaft- und Klimaschutzministerium (BMWK) unter
Patrick Graichen in nur eineinhalb Jahren ein extrem ehrgeiziges Programm
umgesetzt. Fast alle der Vorgaben aus dem Kapitel Energie des
[2][Ampel-Koalitionsvertrags] sind angeschoben oder umgesetzt. Graichen
wollte die Versäumnisse und Verzögerungen der Vorgängerregierungen
aufholen.
Und zu einem ordentlichen Teil sei das auch gelungen, sagt Andreas Löschel,
Professor für Umweltökonomik an der Uni Bochum und seit Langem Mitglied in
der Expertenkommission der Regierung zum „Monitoring der Energiewende“.
„Das Ministerium hat angefasst, was dringend nötig war, und die größten
Baustellen umfangreich abgearbeitet.“ Löschel sagt aber auch: „Die dicksten
Brocken kommen erst noch.“
Mit einer [3][Flut von 22 Gesetzen und 19 Verordnungen] bis Ende 2022
(„Osterpaket“, „Sommerpaket“) hat das BMWK der Energiewende einen Neust…
verordnet. Zentral dabei ist etwa die Umsetzung folgender Pläne: höhere
Ausbauziele bei Wind an Land und auf See und bei PV-Strom, also Strom, der
mit einer Photovoltaikanlage erzeugt wird; Abschaffung der EEG-Umlage; die
Beschleunigung im Verfahren beim Windausbau, schnellere Planung der
Stromnetze; die Normen für die Bekämpfung der Gasknappheit inklusive
Baubeschleunigung bei den LNG-Terminals; die Ausweitung des nationalen
Emissionshandels; die Regelung, Kohlekraftwerke aus der Reserve zu holen,
und das jetzt heftig umkämpfte „Gebäude-Energiegesetz“ (GEG), das als
„Habecks Heizungsverbot“ für viel Unruhe und Kritik gesorgt hat – und
dessen rasche Umsetzung [4][noch vor dem Sommer den nächsten
Koalitionskrach bringen wird]: Habeck geht davon aus, dass gilt, was im
Kabinett beschlossen wurde. Die [5][FDP will nachverhandeln].
Das zeigt: Graichen hat viel erreicht, aber es bleibt noch sehr viel mehr
zu tun. „Das ist ein Marathon, und wir sind vielleicht bei der Hälfte der
Strecke“, sagt Umweltökonom Andreas Löschel. Einerseits müsse Graichens
NachfolgerIn manche Details nacharbeiten, etwa beim PV-Ausbau oder
eventuell bei den Flächen für Windkraft.
Vor allem gebe es aber auch Fragen, die „muss man nicht übers Knie brechen,
aber bis Jahresende abräumen: die zukünftige Förderung der Erneuerbaren,
die regionalen Strompreise und die Frage des Industriestroms, der
schnellere Ausbau der Netze, die Investitionsanreize für neue Kraftwerke“.
Auch fehle immer noch das Energie-Effizienz-Gesetz, Klarheit über den
Verlauf des Kohleausstiegs, der Aufbau der Wasserstoff-Wirtschaft – und der
Konflikt rund um das neu formulierte Klimaschutzgesetz ist in der Ampel
auch noch nicht entschieden.
Kritische Phase
Für Martin Kaiser, Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, kommt
Graichens Abgang „in einer kritischen Phase der Energiewende, wo die
konkreten Veränderungen bei den Menschen ankommen“. Deshalb müsse die
Regierung etwa bei der Wärmewende „einen klaren Kompass“ zeigen, ihr
Handeln besser erklären und anschlussfähig bleiben. „Ein Personalwechsel in
so einer Phase ist nie eine gute Nachricht“, so Kaiser. Aber die
Energiewende „darf nicht aufgeschoben werden, weder von Minister Habeck
noch von Kanzler Scholz oder Finanzminister Lindner“. Das Heizungsgesetz
müsse mit einem gut erklärten Förderprogramm verabschiedet werden, der Bau
neuer LNG-Terminals und neue Gasbohrungen müssten beendet werden.
Und auch der CDU-Energieexperte Andreas Jung sieht als „unerledigte
Baustellen“ die „Wärmewende, den geplanten Hochlauf der
Wasserstoff-Wirtschaft, die Frage der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie
und die Haltung zur CO2-Abscheidung (CCS/CCU)“.
Der Tenor vieler vertraulicher Gespräche: Graichens Abgang ist ein Verlust,
aber vielleicht auch eine Chance. Die Fundamente seien gelegt, die Trümmer
der Vergangenheit mit schwerem Gerät weggeräumt. Jetzt komme es darauf an,
das leichtere Besteck auszupacken, also besser zuzuhören, zu erklären, die
Leute mitzunehmen, weil die Heizung im Keller und das Auto vor der Tür sehr
viele Menschen direkter betreffe, als der Bau von Windanlagen auf dem Land.
Das gehe mit einem neuen Gesicht vielleicht sogar besser.
Ob Graichens Aus die Energiewende ausbremst, wird sein Nachfolger oder
seine Nachfolgerin entscheiden. Er oder sie trifft auf ein Ministerium, in
dem die Mitarbeitenden seit Amtsantritt der Grünen viel, lange und
engagiert gearbeitet haben. Schließlich haben sie – unter Führung und in
Verantwortung von Patrick Graichen – Deutschland in einem Crashkurs von der
Abhängigkeit von russischem Gas befreit, genug Gas für Heizungen und
Industrie besorgt und ein Preischaos verhindert. Und gleichzeitig die
geplante und ohnehin anspruchsvolle Agenda zum Klimaschutz erstaunlich
planmäßig umgesetzt.
Auch wegen dieser Leistung nimmt Habeck immer wieder seine Mitarbeitenden
gegen Kritik in Schutz. Der viel geschmähte Graichen hinterlässt große
Fußstapfen. Denn wie kaum ein anderer hat er sich seit Jahrzehnten mit
Energie- und Klimafragen beschäftigt und ein Netz von Beziehungen
aufgebaut, das für effektives Arbeiten unerlässlich ist – auch wenn es
jetzt durch seine Fehler in Misskredit geraten ist und als „Familienclan“
oder „Mafia“ verunglimpft wird.
Ein Beispiel ist dafür auch das Öko-Institut, bei dem Graichens Geschwister
Verena und Jakob als Energieexperten arbeiten – ein seriöses und bewährtes
Forschungsinstitut, das seit Jahrzehnten seine Expertise Regierungen aller
Couleur und vielen Unternehmen zur Verfügung stellt. Plötzlich muss sich
wegen der „Graichen-Affäre“ auch Expertise aus dem Öko-Institut oder dem
parteiübergreifenden und konsensorientierten Thinktank „Agora Energiewende“
gegen Stimmen wehren, sie seien parteiisch und zu nah an den Grünen. Den
klimaneutralen Umbau Deutschlands wird diese vergiftete Debatte erschweren.
Agora-Konzept als Grundlage
Denn Graichen steht für weit mehr als nur „die Energiewende“. Als
Agora-Chef ließ er 2020 die bahnbrechende Studie [6][„Klimaneutrales
Deutschland 2050“] erstellen. Die rechnete detailliert für alle Sektoren
der Volkswirtschaft durch, wie Deutschland sein Ziel erreichen könne, bis
Mitte des Jahrhunderts auf Nullemissionen zu kommen. Die offizielle
Regierungspolitik der Ampel, das Klimaschutzgesetz (KSG) aus der Großen
Koalition von 2021, welches das Netto-Null-Ziel auf 2045 vorzog, und das
wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 fußen letztlich
alle auf der Grundlage dieses Agora-Konzepts.
Diese Urheberschaft hat Patrick Graichen großen Überblick und tiefe
Einblicke in die einzelnen Fachgebiete eingebracht – und eine Menge Ärger.
Denn ein Klimaschutzministerium muss sich bei den anderen Ressorts
einmischen, wenn diese den Klimaschutz vernachlässigen.
Und das passiert laufend: Das Verkehrsministerium etwa hat bislang keine
echten Lösungen für seine Emissionen angeboten; das Finanzministerium
denkt über den Abbau von klimaschädlichen Subventionen nur sehr langsam
nach; selbst das grün geführte Landwirtschaftsministerium scheut sich
davor, den zentralen Beitrag zum Klimaschutz – weniger Tierhaltung –
offensiv zu fordern. Und das Kanzleramt kümmert sich lieber um Gasimporte,
als offensiv das [7][erklärte Ziel der Ampelkoalition] zu propagieren, ihre
Politik auf den „1,5-Grad-Pfad auszurichten“.
Vielen Ressortverantwortlichen fehlt eine Eigenschaft, die Patrick
Graichens Arbeit geprägt hat: Die Konzentration auf das Ziel der Zukunft,
Netto-Null in 2045. Kein anderes Ministerium hat eine ähnlich klare
Vorstellung davon, was es heute und sofort tun muss, um die Ziele in 22
Jahren nicht zu reißen.
Mit Graichen verschwindet aus der Regierung nicht nur der Manager der
Energiewende, sondern vor allem auch eine zentrale Figur, die Politik
konsequent vom Ende her denkt.
19 May 2023
## LINKS
[1] /Nach-Graichen-Entlassung/!5932103
[2] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_…
[3] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Meldung/2022/20220923-uberblick-gesetzesvo…
[4] /Graichen-Aus-entfacht-Heizungsstreit-neu/!5932104
[5] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/heizungsgesetz-koalition-stre…
[6] https://www.agora-energiewende.de/veroeffentlichungen/klimaneutrales-deutsc…
[7] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_…
## AUTOREN
Bernhard Pötter
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