# taz.de -- Der Fall Graichen: War da was, liebe Union? | |
> Die Aufregung um Graichen ist aufgeblasen und unangemessen. Wenn | |
> Postenvergaben künftig aber kritischer beleuchtet werden, wäre etwas | |
> gewonnen. | |
Bild: Die CSU-Amigos Streibl und Stoiber im Jahr 1993 | |
Ist der [1][Fall Graichen eine Affäre]? Aber ja. Der inzwischen | |
zurückgetretene Staatssekretär Patrick Graichen hat sich falsch verhalten, | |
und seine Partei hat ringsherum Fehler gemacht. Natürlich war es falsch und | |
unprofessionell von den Grünen, dass sie nicht daran gedacht haben, was es | |
in Regierungsfunktionen für Folgen hat, wenn Graichen bei Posten- und | |
Auftragsvergabe auf seine Familie trifft. | |
Aber die Affäre Graichen wird eben auch gnadenlos aufgeblasen. Das | |
Spektakel, das Opposition (die FDP als Opposition innerhalb der Koalition | |
kann inzwischen dazugerechnet werden) und andere darüber veranstalten, dass | |
Graichen Berufliches und Privates nicht hinreichend getrennt hat, steht in | |
keinem angemessenen Verhältnis zur sonstigen bundesrepublikanischen | |
Realität. | |
Oder glaubt etwa jemand, all die Töchter und Schwiegersöhne von | |
Unions-Granden seien ohne – auch verdeckten – väterlichen Einfluss auf ihre | |
ersten Posten gekommen? Doch aktuell wirkt es, als sei Compliance etwas, | |
das nur von Grünen verlangt werden könne, während dies etwa bei CDU und CSU | |
den Ruch des Quatschig-Unrealistischen hätte – als wollte man die britische | |
Thronfolge diskutieren. Für Graichens Nachfolge müsse jetzt jenseits der | |
Kreise von Agora Energiewende und Öko-Institut gesucht werden, verlangen | |
manche ernsthaft. Ob die Union schon mal die Forderung gehört hat, sie | |
müsse ihre Drähte zum Mittelstandsverband endlich kappen? | |
Nun heißt es, die Grünen müssten sich aber an ihren eigenen Maßstäben | |
messen lassen, und die lägen ja auch höher als etwa die der Union. | |
Interessanterweise sagen das auch Grüne selbst. Sie scheinen entweder nicht | |
zu merken, dass sie damit den Vorwurf nur bestärken, sie pflegten eine | |
arrogant-akademische Wohlstandsmoral – oder sie nehmen das bewusst in Kauf. | |
Schön blöd von den Grünen, wenn sie auf diese Weise das Geschäft ihrer | |
Gegner betreiben. | |
## Die Heuchelei der anderen | |
Es ist schließlich ein Unterschied, ob ich laut verkünde, keinen Bissen | |
Wurst mehr essen zu wollen, um mich dann frohlockend am | |
Industriefleisch-Grill einzufinden – oder [2][ob ich Anstandsregeln breche, | |
die grundsätzlich für alle gelten müssen]. Rechts der politischen Mitte | |
jedoch gibt es für moralisches Fehlverhalten eher noch Wohlwollendes: „A | |
Hund is er scho.“ | |
Sollte die Affäre Graichen zur Folge haben, dass ab sofort die | |
Postenvergabe in allen Parteien gleichermaßen kritisch verhandelt wird, so | |
wäre das doch etwas wert. Den Parteien, die sich selbst gern bürgerlich | |
nennen, ihre Augenzwinkergeschäfte durchgehen zu lassen, während sich die | |
komplette Republik gemeinsam über Verfehlungen der Grünen echauffiert – das | |
ist genau die Heuchelei, die aktuell nur den Grünen vorgeworfen wird. | |
19 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
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