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# taz.de -- Nach der Wahl in der Türkei: Der türkische Frühling muss warten
> Der türkische Präsident Erdoğan hat seinen Herausforderer Kılıçdaroğlu
> auf Distanz gehalten. Für die liberalen Kräfte im Land ist das ein harter
> Schlag.
Bild: Sie können jubeln: Anhänger*innen Erdogans schwenken Fahnen vor dem Hau…
Ankara taz | Zehntausende sind gekommen. Sie tanzen Sonntagnacht auf den
Straßen und schwenken Türkeifahnen. Musik dröhnt durch das nächtliche
Ankara. Junge Frauen liegen sich in den Armen. Halbstarke stürzen sich in
die Menge und zeigen den Wolfsgruß, das Zeichen der türkischen Faschisten.
Eltern tragen ihre verschlafenen Kinder durch das Gedränge. Alle sind da,
um [1][vor der Zentrale der AKP ihren Sieg zu feiern]. Es ist die
Wahlparty, die eigentlich die türkische Opposition für sich erhofft hatte.
Doch es ist die Nacht von Recep Tayyip Erdoğan.
Der türkische Präsident steht auf dem [2][vorläufigen Höhepunkt seiner
Macht]. Entgegen fast aller Prognosen hat Erdoğan die
Präsidentschaftswahlen am Sonntag mit sicherem Abstand gewonnen – auch wenn
er nicht zur nötigen absoluten Mehrheit gereicht hat und Erdoğan in die
Stichwahl muss. Doch seine religiös-konservative AKP wird erneut als
stärkste Kraft in das Parlament einziehen, auch das ein Sieg.
Die Kritik am [3][Katastrophenschutz nach dem verheerenden Erdbeben], die
massive Wirtschaftskrise, die geeinte Opposition: Sie sind am Präsidenten
abgeprallt. Die Allianz um Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu wird am 28.
Mai geschwächt in die Stichwahlen um das Präsidentenamt ziehen. Seine CHP
ist erschüttert. Eigentlich hatte sich die Opposition das alles ganz anders
vorgestellt.
Gegen halb drei Uhr am Montagmorgen geschieht das, worauf die Massen vor
der AKP-Zentrale in Ankara hingefiebert haben: Erdoğan spricht vom Balkon
des Gebäudes zu seinen Anhänger*innen. Als der amtierende Präsident dann
aber noch vor seiner Ansprache zu singen beginnt, wird der Jubel der Massen
auf dem Vorplatz frenetisch. Erdoğan stimmt tatsächlich in ein Lied über
sich selbst mit ein, und seine Anhänger*innen singen mit ihm: „An alle
die es hören und die, die es nicht hören / An alle die nach ihm fragen und
die, die nicht fragen. Wir lieben ihn, wir lieben ihn sehr. Wir lieben ihn,
wir lieben ihn.“
Die Genugtuung dieses Moments muss für die Menschen hier, den Präsidenten
inklusive, unglaublich sein. Denn einige hatten Erdoğan bei diesen Wahlen
stolpern gesehen.
Im Westen des Stadtzentrums von Ankara liegt die Parteizentrale der AKP,
nur etwa 1,5 Kilometer vom Sitz der kemalistischen CHP entfernt. Die
Slogans von der AKP-Wahlparty schallen in der Nacht fast bis dort hin.
Anders als beim Erdoğan-Lager versucht hier in der Nacht nur eine Handvoll
Menschen vor dem Gebäude mit Sprechchören die Stimmung aufrecht zu
erhalten. Eine große Wahlparty hatte die Opposition auch gar nicht
vorgesehen, die Parteizentrale ist weitgehend von der Bevölkerung
abgeschirmt.
Am Sitz der CHP treten nach Schließung der Wahllokale am Sonntagnachmittag
die Bürgermeister von Ankara und Istanbul, Mansur Yavaş und Ekrem Imamoğlu,
im Stundentakt vor die Kameras. Beide sind designierte Stellvertreter des
Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu. Während am Abend die
Auszählung der Stimmen läuft, arbeiten sich die beiden an der staatlichen
Nachrichtenagentur Anadolu ab. Diese meldet um 18.30 Uhr Ortszeit, nach
Aufhebung der in der Türkei an Wahltagen geltenden Nachrichtensperre, einen
deutlichen Vorsprung Erdoğans und sieht ihn bei 59 Prozent.
Kılıçdaroğlu liegt diesen ersten Angaben der Agentur zufolge dagegen weit
abgeschlagen bei Werten um die 44 Prozent. Ankaras Bürgermeister Yavaş
wirft der staatlichen Anadolu Manipulation vor. Sein Parteikollege Imamoğlu
sieht in dem Vorgehen der Nachrichtenagentur eine Strategie, den Rückhalt
der Opposition am Wahlabend zu brechen. Er fordert deshalb die
Wahlhelfer*innen und die Gesandten der CHP in den Wahlbüros dazu auf,
sich nicht demotivieren zu lassen und die Auszählungen der Stimmen genau zu
verfolgen.
Dabei gibt sich die CHP den ganzen Abend kämpferisch und hoffnungsvoll. Der
Bürgermeister von Istanbul, Imamoğlu, selbst ein großer Hoffnungsträger der
Partei und einst auch als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt,
avanciert zum Sprecher des breiten Oppositionsbündnisses aus sechs
Parteien. „Ich sehe große Chancen, dass wir im ersten Wahlgang gewinnen
werden“, sagt er noch am späten Sonntagabend gegenüber der im Gebäude
versammelten Presse.
Doch es kommt anders, der Trend hin zu einem Wahlerfolg für den amtierenden
Präsidenten verfestigt sich am Montagmorgen weiter: Die Wahlkommission YSK
sieht Erdoğan da bei 49,4 Prozent der Stimmen. Kemal Kılıçdaroğlu erhielt
demnach 44,9 Prozent, der Nationalist Sinan Oğan 5,2 Prozent. Die Stimmen
für Muharrem Ince, der sich am vergangenen Donnerstag kurz vor dem Wahlgang
aus dem Rennen zurückgezogen hatte, wurden noch mitgezählt. Er erhielt nach
Angaben der YSK 0,44 Prozent.
Am Nachmittag dann, nur noch wenige Zehntausend Stimmen sind noch nicht
ausgezählt, teilt die Wahlbehörde offiziell mit: Erdoğan muss in die
Stichwahl. Er schrammt knapp an der absoluten Mehrheit der Stimmen im
ersten Wahlgang vorbei.
In den Prognosen hatte das anders ausgesehen, die meisten Umfrageinstitute
hatten Kılıçdaroğlu als Wahlsieger gesehen. Teilweise rechneten sie auch
bereits mit einer absoluten Mehrheit für ihn schon im ersten Wahlgang. In
den liberaleren Kreisen der türkischen Zivilgesellschaft spielte das
Wunschdenken mit hinein, nach 21 Jahren der Erdoğan-Herrschaft endlich ein
Ende zu setzen.
Die Wechselstimmung im Land war zuletzt so greifbar wie lange nicht mehr.
Kemal Kılıçdaroğlu, der „demokratische Opa“, wie er von seinen jüngeren
Anhänger*innen liebevoll genannt wird, hatte sich einen breiten
Rückhalt in der türkischen Opposition verschafft. Seine „Allianz der
Nation“, ein Bündnis aus sechs Parteien unterschiedlicher Strömungen, stand
zuletzt fest hinter dem als bescheiden geltenden 74-jährigen Mann aus der
Provinz Dersim (Tunceli) im Osten der Türkei.
Dass [4][der Technokrat aus dem Ankaraer Beamtenapparat] trotz seines
offenen Bekenntnisses zum Alevitentum und trotz der ihm nachgesagten
Schwäche bei öffentlichen Reden der Spitzenkandidat des Bündnisses wurde,
sorgte für Aufsehen. Zuletzt wurde ihm immer wieder große Sympathie
zuteil, als er sich aus einem kleinen Arbeitszimmer oder aus der Küche in
seiner Wohnung in Ankara zu politischen Themen zu Wort meldete.
Seine Social-Media-Kampagne war voll auf ihn abgestimmt. Sie zielte darauf,
das Bild eines Mannes zu schaffen, der nicht etwa wie Erdoğan aus einem
gigantischen Palast in Ankara einsame Entscheidungen fällt. Er wurde als
ein Mann des Volkes inszeniert, der erst die Ärmel hoch- und dann das Land
umkrempelt. Kılıçdaroğlu trat mit dem Versprechen an, das von Erdoğan mit
einem Verfassungsreferendum 2017 eingeführte Präsidialsystem wieder
zugunsten einer parlamentarischen Demokratie zu ändern.
Seine Kandidatur beflügelte in linken Kreisen in der Türkei den Wunsch nach
einer liberaleren Gesellschaftsordnung, einer besseren Gewaltenteilung,
einer stärkeren Meinungsfreiheit. Der Wahlkampfspruch der Opposition
lautete: „Versprochen, es wird wieder Frühling werden.“ Dieser Frühling
muss in der Türkei noch warten. Die Hoffnung auf Demokratisierung hat nach
dem Wahlausgang am Sonntag einen entscheidenden Dämpfer erlitten.
Denn die Wahlen machen auch einen entschiedenen Rechtsrutsch innerhalb der
türkischen Parteienlandschaft deutlich. Auf die rechte Partei Iyi Parti,
die im Bündnis mit Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu antritt, und die
rechtsextreme MHP, die in einer Allianz mit Erdoğan steckt, entfallen den
vorläufigen Angaben zufolge bei den Parlamentswahlen jeweils etwa 10
Prozent der Stimmen. Und bei den Präsidentschaftswahlen erhielt mit Sinan
Oğan ein weiterer Rechtsaußen etwa 5 Prozent Zustimmung. Das sind die
Realitäten, denen sich die linken Kräfte in der türkischen Gesellschaft nun
stellen müssen.
Der Ausgang der Parlamentswahlen, die am Sonntag parallel zu den
Abstimmungen über das Staatsoberhaupt stattgefunden haben, kann der
türkischen Opposition ihre Kampagne für die zweite Tour der
Präsidentschaftswahlen am 28. Mai erschweren. Die AKP landet den
vorläufigen Angaben zufolge mit etwa 35 Prozent der Stimmen als stärkste
Kraft in der Nationalversammlung in Ankara. Sie läge damit ganze 10
Prozentpunkte vor der CHP, die nur bei 25 Prozent liegt. In den Prognosen
war ein Wahlsieg der AKP bei den Parlamentswahlen zwar vorhergesagt worden
– dass der Unterschied zwischen den Parteien aber so gewaltig ist, hat nun
viele überrascht.
Nach der nächtlichen Gesangseinlage vor seinen Anhänger*innen kann sich
Erdoğan am frühen Montagmorgen in Ankara Häme nicht verkneifen. „Manche
sprechen aus der Küche, wir sprechen vom Balkon“, sagt er an Kemal
Kılıçdaroğlu gerichtet. Viele Menschen auf dem Platz lachen laut auf.
Anschließend gibt sich der amtierende Präsident staatsmännisch. „Wenn aus
der Entscheidung unseres Volkes hervorgeht, dass die Präsidentschaftswahlen
abgeschlossen sind, dann gibt es ohnehin keinen Zweifel. Wenn unser Volk
sich für eine zweite Runde der Wahl entschieden hat, ist das ebenfalls zu
begrüßen“, ruft er den Menschen zu.
Die eher nüchterne Rede wirkt als harter Kontrast zum Fanatismus, der ihm
aus der Menge entgegenschlägt. Immer wieder wird er von Jubelchören
unterbrochen.
Das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR)
berichtete in seiner Wahlbeobachtungsanalyse am Montag von einem
„größtenteils friedlichen und reibungslosen Wahlgang, trotz einiger
Zwischenfälle in und rund um die Wahllokale“. Die Wahlen seien im
Allgemeinen gut organisiert gewesen, aber wichtige Sicherheitsvorkehrungen,
insbesondere während der Auszählungen, seien nicht immer eingehalten
worden.
Scharfe Kritik äußerten die internationalen Beobachter*innen am
rechtlichen Rahmen, in dem die Wahlen stattgefunden haben. „Der derzeitige
Präsident und die Regierungsparteien genossen einen ungerechtfertigten
Vorteil“, heißt es in dem Bericht. „Dies waren zwar kompetitive, aber
dennoch eingeschränkte Wahlen, da die Kriminalisierung einiger politischer
Kräfte, einschließlich der Inhaftierung mehrerer Oppositionspolitiker,
einen vollständigen politischen Pluralismus verhinderte“, erklärte Michael
Georg Link, FDP-Politiker und Leiter der parlamentarischen
OSZE-Beobachter*innen-Mission.
Bis Dienstagmittag werden die Parteien Zeit haben, das Wahlergebnis in der
Türkei offiziell anzufechten. Bereits am Sonntagabend wurde bekannt, dass
Kemal Kılıçdaroğlu mit dem Rechtsaußen Sinan Oğan telefoniert hatte. Auch
aus der AKP bekam der Zählkandidat der Rechten einen Anruf, vom
stellvertretenden Parteidirektor Binali Yıldırım. Beide Parteien sind also
noch vor der Verkündung des amtlichen Endergebnisses bereits wieder im
Wahlkampfmodus.
Die AKP sieht den Vorteil auf ihrer Seite, mit der Parlamentsmehrheit im
Rücken und dem jetzigen Vorsprung bei den Präsidentschaftswahlen. Doch die
CHP und die Oppositionsallianz lassen nicht locker: Erdoğan sei bei der
Wahl zum Präsidenten nicht gewählt worden, sagte der CHP-Abgeordnete aus
Ankara, Levent Gök. Der CHP-Chef Kılıçdaroğlu habe es in die zweite Runde
geschafft. „Der eigentliche Wahlkampf“, sagt er, „beginnt jetzt“.
15 May 2023
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## AUTOREN
Cem-Odos Güler
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