| # taz.de -- Wahlnacht in Berlin: Hier bangt die alternative Türkei | |
| > Die linke türkische Community verfolgt den Wahlabend am Kotti: eine Nacht | |
| > zwischen Hoffnung, Anspannung und Misstrauen. | |
| Bild: Es geht um die Macht, unter anderem in Istanbul | |
| Berlin taz | „Aufgeregt, glücklich und besorgt“, beschreibt Isa Artar seine | |
| Gefühlslage am Sonntagabend kurz vor Bekanntgabe der ersten | |
| [1][Wahlergebnisse aus der Türkei]. Aufgeregt sei er wegen der Wahlen, | |
| besorgt wegen der Menschen in der Türkei und glücklich aufgrund der | |
| greifbaren Möglichkeit, dass Langzeit-Präsident Recep Tayyip Erdoğan | |
| verliert. | |
| Artar lebt seit sechseinhalb Jahren in Berlin im Exil. Er ist Journalist, | |
| studiert an der Freien Universtität Publizistik. In der Türkei droht ihm | |
| Haft. Er spricht von der „Wahl meines Lebens“. Und das sowohl politisch als | |
| auch privat. „Ich würde gern mal wieder meine Mama sehen“, sagt er und | |
| betont im gleichen Atemzug: „Die Wahl ist die letzte Chance, das autoritäre | |
| Präsidialsystem abzulösen.“ | |
| Mit Hunderten anderen ist Artar [2][im Südblock am Kotti] zusammengekommen. | |
| Die links-grüne Yeşil Sol Parti hatte zur Wahlparty geladen. Gekommen sind | |
| Junge, Alte, Arbeiter*innen, Studierende, Queers und Heten, ins Exil | |
| geflüchtete Journalist*innen und Abgeordnete. | |
| Isa Artar hat den Abend mitorganisiert und war in den Vorwochen im | |
| Wahlkampf aktiv. Das sei jedoch nicht einfach gewesen, auch hier in | |
| Kreuzberg nicht, erklärt er. Immer wieder habe es Anfeindungen von | |
| Anhänger*innen der Regierungspartei AKP gegeben. „Ihr seid | |
| Terroristen“, sei ihm und seinen Freund*innen beim Flyerverteilen auf | |
| offener Straße zugerufen worden. | |
| ## Schwierigkeiten bei der Wahl in Berlin | |
| Eine dieser Freund*innen, ebenfalls Mitorganisatorin des Abends, ist Mehtap | |
| Erol. Auch sie berichtet von Schwierigkeiten während der Wahl in Berlin. | |
| Fast zwei Wochen lang konnten die etwa 100.000 in Berlin lebenden und in | |
| der Türkei wahlberechtigten Menschen im türkischen Generalkonsulat | |
| abstimmen. Auch dort gab es Einschüchterungsversuche: Rechtsextremisten der | |
| Grauen Wölfe und Erdogan-Anhänger*innen versammelten sich davor, | |
| provozierten und brüllten kurd*innenfeindliche Parolen. An einem Abend | |
| musste das Konsulat vorzeitig schließen. | |
| Immerhin: Das Generalkonsulat in Berlin ist das einzige von 14 türkischen | |
| Konsulaten deutschlandweit, in dem Erdoğan am Ende nicht vorne liegt. 49 | |
| Prozent der Berliner Türk*innen haben für ihn gestimmt, ebenso viele wie | |
| für seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen | |
| CHP. | |
| ## Entspannte Atmosphäre | |
| Von der Zweiteilung der türkischen Community ist am Kotti wenig | |
| mitzubekommen. Nur vereinzelt rufen Vorbeifahrende etwas aus dem Auto, als | |
| draußen, zwischen Südblock und U Bahnhof Kottbusser Tor, zu kurdischer | |
| Musik getanzt, geklatscht und „Jin Jiyan Azadî“ („Frau Leben Freiheit“) | |
| gerufen wird. Sonst bleibt es ruhig und der Südblock für alle offen. | |
| Sichtbare Sicherheitsmaßnahmen, wie die Taschenkontrollen beim Wahlabend | |
| der CHP in Schöneberg, gibt es nicht. | |
| Während Erol ihren Blick durch den prall gefüllten und bunt geschmückten | |
| Biergarten schweifen lässt, erklärt sie: „So, wie es hier heute ist, | |
| wünsche ich mir die Türkei. Eine demokratische Türkei, in denen sich alle | |
| Minderheiten zu Hause fühlen. In der sich alle als Menschen erster Klasse | |
| fühlen – Kurd*innen, Alevit*innen, Armenier*innen und Menschen der | |
| LGBTIQ Community.“ | |
| Während des Gesprächs begrüßt Erol neue Gäste. Die Gesten sind | |
| eindrücklich: feste Umarmungen, tiefe Blicke in die Augen und ebenso tiefes | |
| Durchpusten. Die Mischung aus Herzlichkeit, Hoffnung und Anspannung ist | |
| spürbar. „Alle hier haben gemischte Gefühle – und ich auch“, erklärt s… | |
| „Mein Herz sagt, Erdoğan: bye-bye. Aber alles ist möglich. Der AKP kann man | |
| nicht trauen.“ Die negativen Erfahrungen der vergangenen Jahre haben sie | |
| das gelehrt. | |
| ## Große Emotionalität | |
| Die gebürtige Kurdin Erol, deren Familie noch in der Türkei lebt, war aus | |
| Angst vor politischer Verfolgung seit 15 Jahren nicht mehr in der | |
| ostanatolischen Heimat. „Ich habe Hoffnung, dass ich irgendwann | |
| zurückkehren kann“, sagt sie und erklärt damit die große Emotionalität | |
| dieser Wahl. „Nur drei Stunden habe ich in der letzten Nacht geschlafen.“ | |
| Die gemischten Gefühle von Erol, Artar und vielen anderen ziehen sich durch | |
| den Abend. Die Ergebnisse aus der Türkei weisen erhebliche Varianzen auf. | |
| Regierungsnahe Medien sahen Erdoğan weit vorn. Oppositionsnahe Medien | |
| berichteten von guten Zahlen für Kılıçdaroğlu und ließen die kollektive | |
| Hoffnung im Südblock unter Jubel wieder aufflammen. | |
| Nach und nach ergab sich jedoch ein ernüchterndes Bild, das am Montagmorgen | |
| von der türkischen Wahlbehörde YSK bestätigt werden sollte: 49,4 Prozent | |
| für Erdoğan, 45 für Kılıçdaroğlu. Ein Ergebnis, das die Sorgen verstärk… | |
| „Erdoğan kann alles machen, um wieder zu gewinnen“, schätzt Artar die Lage | |
| ein. In den kommenden zwei Wochen vor der Stichwahl könnte es Konflikte | |
| geben. Ein Sieg Erdoğans hieße: „Die Unterdrückung geht weiter. Unsere | |
| Freund*innen müssen im Knast oder Exil bleiben.“ | |
| Mehtap Erol hat die Hoffnung nicht aufgegeben: „Die kurdischen Gebiete | |
| waren gut organisiert und haben geschlossen den Oppositionskandidaten | |
| gewählt.“ Das sei im Hinblick auf die Stichwahl wichtig. Ihre Analyse, | |
| weshalb die AKP so viel Zulauf hat, beschreibt sie in einem kurdischen | |
| Sprichwort, das übersetzt lautet: „Ein Hund hat Angst, seinen Herrn zu | |
| verlieren, weil er verhungern könnte.“ Bedeutet so viel wie: Die | |
| unterdrückten Profiteure des Systems Erdoğan seien zu sehr von seinem | |
| Erfolg abhängig, um von ihm abzulassen. Ob es dennoch für einen Wechsel | |
| reicht, wird sich in zwei Wochen zeigen, wenn erneut gewählt – und auch in | |
| Berlin gezittert – wird. | |
| 15 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Bachmann | |
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