| # taz.de -- Leipziger Buchpreis für Dinçer Güçyeter: Genug Nudeln im Schrank | |
| > Dinçer Güçyeter, Schriftsteller und Gabelstaplerfahrer, wird für „Unser | |
| > Deutschlandmärchen“ ausgezeichnet. Regina Scheer für das beste Sachbuch. | |
| Bild: Der Autor Dinçer Güçyeter in der Glashalle auf dem Leipziger Messegel�… | |
| Er flog ja schon seit Wochen, ach, Monaten auf einer Welle der Liebe: | |
| Dinçer Güçyeter, vor einem Jahr noch Peter-Huchel-Preisträger, der | |
| wichtigsten Auszeichnung hierzulande für Lyrik, für seine Poesie in „Mein | |
| Prinz, ich bin das Ghetto“, hat nun auch in Leipzig abgeräumt. Die Jury | |
| erkannte ihm, dem Mann, der mit seiner Familie in Nettetal lebt, wie es | |
| abseitiger für die üblichen Literatur-Catwalks kaum geht, nun ihren Preis | |
| der Leipziger Buchmesse zu, für seinen Roman „Unser Deutschlandmärchen“ �… | |
| ein Preis außerdem für einen Verlag, der nicht zu den Arrivierten zählt, | |
| sondern buchstäblich zum Underground der Schriftstellerei, den | |
| mikrotext-Verlag in Berlin. | |
| Der Erfolg kam nicht ganz unerwartet. Tag für Tag war auf Facebook über | |
| Dinçer Güçyeters Performances in Buchhandlungen, auf Festivals, auf | |
| Literaturteffen zu lesen – und buchstäblich alle mochten und mögen ihn, der | |
| auch als Schauspieler arbeitet und aus familienbudgetären Gründen, sowieso | |
| aus purer Lust am Sein unter proletarischen Kollegen, als | |
| Gabelstapelfahrer, den Mann, der am Niederrhein geboren wurde und dort | |
| immer Heimat haben wollte. | |
| Selten ist es in der Literaturszene, dass da die Branche einem die | |
| Qualität, diese Mischung aus Originalität und Handwerk, zuerkennt und | |
| zugleich es eben nicht mit einem Mann zu tun hat, der sich nicht einmal auf | |
| die subtilste Form der Gefallsüchtigkeit zu verstehen scheint. Dinçer | |
| Güçyeter ist Dinçer Güçyeter, ein Sonderbarer – ein Lob, bitte, nicht | |
| anders verstehen! – aus deutschen Landen, der mit „Unser | |
| Deutschlandmärchen“ das Buch der Stunde verfasst hat. | |
| Dinçer Güçyeters Gedichte sind schon gut, nahbar, wie blood, sweat & tears | |
| in Versmaßen fein, aber dieses sein Deutschlandmärchen ist von solcher | |
| Unmittelbarkeit, dass es einem buchstäblich beim Lesen die Sprache | |
| verschlägt: Da erzählt einer, [1][wie schon im taz-Gespräch] vom Leben in | |
| Nettetal als Gastarbeiterfamilie, vom Leben und Schuften und | |
| Am-Leben-Bleiben der Mutter, die im Stahlwerk arbeitet und abends noch auf | |
| den Kohlfeldern, um Geld für die Familie zu verdienen. | |
| ## Ein Bildungsaufsteiger größter Charmanz | |
| Der Vater? Ein Hallodri, Gelegenheitsphantast, gescheiterter Kneipenwirt, | |
| Parvenue der kleinen Münzen. Das aber als Familienroman nicht sattelfest | |
| nur chronologisch erzählt, als klassisches Opus vom Opferdasein in fremden | |
| Landschaften und unter falschen Bedingungen, sondern als immer ein bisschen | |
| surreal arrangierte Geschichte darüber, wie es in der Familie und deren | |
| Drumherum wirklich funktioniert. | |
| Da werden Leiden gelitten und Freuden empfunden, und der Autor, eben Dinçer | |
| Güçyeter, berichtet über das Wahrhaftige, das echte Leben, über Sex und wo | |
| er fehlt, den sehnenden Frauen vor allem, über die abwesenden Männer und | |
| Väter, die Ansprüche der Mutter an den Sohn, die er schließlich gründlich | |
| sabotiert, um er selbst zu werden, eben, der Schriftsteller Dinçer | |
| Güçyeter. | |
| In Nettetal, wo der Preisgekrönte wirklich eine Werkzeugmechanikerlehrer | |
| machte und von den Kollegen als „Schwuchtel“ verspottet wurde, weil er | |
| nicht von „Muschis“ pornografoid ausgestellt an den Spinden in den | |
| Fabrikumkleideräumen träumte oder die Behauptung zu weiblicher | |
| Verfügbarkeit in kargen Männerphantasien mitbediente, da lebt er noch. Er | |
| hat Geld aus seinen Lehrlingsvergütungen damals für Bücher ausgegeben, nach | |
| Köln fahrend in Buchhandlungen schmökernd, Dostojewski und Tschechow und | |
| viele andere entdeckend, dies übrigens meist geleitet von den Klappentexten | |
| in den Büchern. | |
| So oder so: Da ist einer durchs Leben gegangen und hat offenbar mit jeder | |
| Sekunde seines Lebens dieses selbst zum Beobachtungsobjekt gemacht: Ein | |
| Bildungsaufsteiger größter Charmanz und von teils bukolischem Humor, ohne | |
| je seine Herkunft zu verraten, was ihn im Übrigen von Autoren wie Didier | |
| Eribon oder Édouard Louis so unterscheidet wie die Venus vom Mars. Dinçer | |
| Güçyeter ist souverän genug, die neuen Welten jenseits von Nettetal zu | |
| ersehnen, Köln, Düsseldorf, Berlin oder Istanbul, ohne je zu glauben, dort | |
| sei es für einen wie ihn besser. | |
| Er lebt sogar noch in seiner Heimat mit seiner Mutter zusammen, nicht in | |
| der gleichen Wohnung – womöglich ihr signalisierend, dass er kein räudiger | |
| Mann werden muss, um doch der zu werden, der seine Familie trägt, weil er | |
| sie liebt. | |
| Dinçer Güçyeter ist der glamouröseste Preisträger, der sich nur denken | |
| lässt. Er verweigert jedes Dementi, queer zu sein, weil er seine eigene | |
| Körperlichkeit nie verraten würde, und rief, als er als Preisträger auf die | |
| Bühne gebeten wurde, seine in der Tat für sein Werk zwingend ihn | |
| begleitende und tragende Frau Ayşe zu sich. Eigentlich und streng genommen | |
| – wahrscheinlich hatten sie Schule – wären deren beide Kinder Fatma und | |
| Yılmaz dort perfekt am Platz gewesen. | |
| ## Johanna Schwering bekommt Preis für beste Übersetzung | |
| Und die Leute aus Nettetal, aus der Fabrik, aus dem famosen | |
| Pommes-Frites-Laden oder der städtischen Bücherei dabei sein müssen. Sie | |
| alle, so ist es auch auf Facebook durch Dinçer Güçyeter überliefert, machen | |
| ja die Lesungen vom Preisträger in seinem Städtchen zu kommunalen | |
| Stolzhappenings – und wer dabei war, weiß, wie wangenglühend schön sich | |
| solch eine Art von Literaturveranstaltung anfühlen kann. | |
| Dinçer Güçyeter erzählte in seinen Dankesworten, seine Frau Ayşe habe ihn | |
| immer ermutigt, auch vor zwölf Jahren, als er mit seinen spintisierenden | |
| Ideen vom eigenen Verlag, von eigenen Geschichten und Gedichten glaubte zu | |
| scheitern. Sie haben gesagt, mach weiter, glaub an dich, denn, auf diese | |
| Pointe kommt es an, „wir haben noch genug Nudeln im Schrank“. Wer dieses | |
| drastische Sprachbild nicht versteht, muss auch „Unser Deutschlandmärchen“ | |
| nicht lesen. Für die anderen sei gesagt: Diese Lektüre ist ergreifend – | |
| weil sie dem Leben entnommen wurde und diesem alle Ehre einlegt. | |
| Dinçer Güçyeter ist ein würdiger Preisträger in der Kategorie Belletristik. | |
| Als bestes Sachbuch wurde in Leipzig „Bittere Brunnen“ von Regina Scheer | |
| ausgezeichnet. Ein Frauengesicht ist auf dem Cover, strenger Mund, wache | |
| Augen, ondulierte Haare, ein etwas müder, aber auch selbstbewusster | |
| Ausdruck. Es ist das Gesicht der Politikerin Hertha Gordon-Walcher, die in | |
| den 1920er Jahren Sekretärin von Clara Zetkin war, die, als die Nazis an | |
| die Macht kam, als Kommunistin und als Jüdin fliehen und im Exil leben | |
| musste, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrte, in die | |
| DDR ging und dort 96-jährig starb. | |
| Regina Scheer hat hier die Biografie einer Frau geschrieben und gibt | |
| zugleich Einblicke in die Geschichte der linken Bewegungen im 20. | |
| Jahrhundert. Hertha Gordon-Walcher war, als die Weltrevolution noch das | |
| Ziel war, eng mit Rosa Luxemburg vertraut, sie kannte den jungen Willy | |
| Brandt und später Bertolt Brecht. Regina Scheer, 1950 in Ost-Berlin | |
| geboren, hat bereits einige andere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte | |
| geschrieben und 2014 den Roman „Machandel“ veröffentlicht. | |
| Und der Preis in der Kategorie Übersetzung geht an Johanna Schwering für | |
| ihre Übertragung von Aurora Venturinis Roman „Die Cousinen“ aus dem | |
| argentinischen Spanisch. Aurora Venturini war bereits 85 Jahre alt, als sie | |
| diesen „hinreißenden Coming-of-Age-Roman“ (so die Jury) schrieb. Er handelt | |
| von einer jungen Künstlerin, die sich aus armen und von Gewalt geprägten | |
| Verhältnissen allmählich herausschreibt. „Dieser harte, dabei aber niemals | |
| zynische Roman braucht die kongeniale Übersetzung, weil er die Aufklärung | |
| in der sprachlichen Entwicklung der Erzählerin bis in die Kommasetzung | |
| hinein konkret vorführt“ (noch einmal die Jury). | |
| Mitarbeit: Dirk Knipphals | |
| 27 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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