Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kriegsende 8. und 9. Mai 1945: Das Gedenken wird entwertet
> Russland instrumentalisiert die Erinnerung an den Tag des Sieges über
> Nazi-Deutschland – um den Angriffskrieg auf die Ukraine zu rechtfertigen.
Bild: Unter der Fahne: Vorbereitungen auf eine Militärparade in Moskau zum 9. …
Tallinn taz | Ich werde den [1][Tag des Sieges am 9. Mai] nie mehr feiern.
Diese Erkenntnis kam mir nicht erst 2023 oder 2022. Es scheint, dass meine
damalige Freundin und ich das letzte Mal vor mehr als zehn Jahren einen
Strauß roter Nelken gekauft haben – das muss so 2009 oder 2010 gewesen sein
– und wir dann zum Denkmal „Für die heldenhaften Verteidiger Leningrads“
gegangen sind. Wir liefen damals über den Moskowski-Prospekt in St.
Petersburg zu der „Ewigen Flamme“, die in einem Ring aus Granit brennt.
Auf dem Weg dorthin schenkten wir älteren Menschen Blumen – nicht nur
einzelnen Veteranen, die bereits auf der Straße waren, sondern einfach
allen. Blumen für diejenigen, die von der traumatischen Erfahrung in der
Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt worden waren. Ich erinnere mich, dass
ich, schon fast ein Teenager, beschwingt, wenn auch weit entfernt von
Enthusiasmus war. Etwas Ähnliches habe ich später nur noch bei
Protestkundgebungen erlebt. Vielleicht ist Verbundenheit das richtige Wort.
Schon bald darauf wurde die Last der zusätzlichen Bedeutungen, mit denen
die russischen Behörden dieses Datum aufluden, unerträglich. Der Gedenktag
wurde von Jahr zu Jahr mehr zu einem Fest des Militarismus. Der „Sieg“
wurde immer mehr vom Gedenken an den Krieg als solchem überlagert – nicht
blutig, lang und zerstörerisch, sondern fast glamourös erschien der Krieg
dabei, gesellschaftsfähig. Daher stammt der heutige berüchtigte Ausspruch:
„Wir können das wiederholen.“ Es ist unwahrscheinlich, dass viele von
denen, die diesen Slogan auf Autos geklebt haben, wirklich bereit wären,
Verluste in Höhe von vielen Millionen Menschen zu wiederholen und ganze
Länder in Schutt und Asche zu verwandeln.
Aber vielleicht hat es eine beträchtliche Anzahl von Russen schnell
geschafft, sich unterbewusst daran zu gewöhnen, keine Angst mehr vor einem
militärischen Vormarsch (auf Berlin, Kyjiw, Brüssel, Washington) zu haben –
ähnlich einem Kriegsspiel am Computer, das man am Bildschirm verfolgt.
Dieses Narrativ lässt sich in der Propaganda finden, mit der der
Ukrainekrieg gerechtfertigt wird: Es gibt keinen Krieg, sondern nur eine
„militärische Spezialoperation“. Wir können aufatmen. Der 1945 geschmiede…
öffentliche Konsens, „solange es keinen Krieg gibt“, scheint nach wie vor
gültig zu sein.
Mit jedem weiteren 9. Mai, der ins Land ging, scheute die
Kreml-Beamtenschaft in Bezug auf ihr Erinnerungskonzept immer weniger einen
echten Konflikt: Der Feind veränderte sich. An die Stelle des Dritten
Reiches oder gar der „faschistischen deutschen Eindringlinge“ trat eine
Koalition europäischer Staaten. Die USA sind jetzt zu einer Art Feind
Nummer zwei geworden. Zwar ist es bislang nicht zu einem „heißen Kampf“
gekommen. Jedoch ist die Operation „Undenkbar“ zu einer Kategorie des
Denkbaren, Wahrscheinlichen und bereits Vollendeten geworden.
Es fiel mir leicht, mich des 9. Mai samt seiner wechselnden Bedeutungen und
Losungen zu entledigen. Keiner meiner Vorfahren hat am Zweiten Weltkrieg
teilgenommen. Einer meiner Großväter, ein Bürgerkriegsveteran, der ein
Lazarett leitete und 1946 aus Deutschland zurückkehrende und unter
Geschlechtskrankheiten leidende Generäle behandelte, war noch am nächsten
dran.
Mein 9. Mai war nie ein persönlicher Feiertag. Er war ein nationales
Ritual, das mir immer fremder wurde. Aber was ist mit denjenigen, für die
dieser Tag ein Teil der persönlichen und familiären Geschichte ist? Die
Anstifter eines neuen Krieges haben es geschafft, diesen Tag mit echter
spiritueller Bedeutung aufzuladen – und das fast ohne Widerstand.
Eine mögliche Antwort aus der russischen Gesellschaft, ein persönlicheres,
weniger institutionelles Gedenken wurde schnell vom Staat unterdrückt: das
„Unsterbliche Regiment“, ein Gedenkmarsch (Menschen tragen Bilder ihrer
Familienmitglieder, die 1941–45 im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg
gegen die Nazis gekämpft haben, Anm. d. Red.).
Die Idee wurde schnell in Beschlag genommen und für Propaganda genutzt.
Anstelle von Fotos ihrer eigenen kämpfenden Vorfahren tauchten bei den
Märschen von oben ausgewählte „richtige“ Veteranen auf und sogar
sowjetische Führungspersönlichkeiten mit Stalin an der Spitze.
Nichts entwertet die Erinnerung an die wahren Heldentaten des Zweiten
Weltkriegs so sehr wie deren Verwendung für die Propaganda eines neuen
Krieges sowie als Vorwand für [2][den Einmarsch in die Ukraine], bei dem
auch Veteranen und ehemalige KZ-Häftlinge von russischen Bomben getötet
werden.
Wenn (falls überhaupt) der gegenwärtige Krieg enden wird, werden die
Bewohner Russlands oder dessen, was von ihrem Land noch übrig sein wird,
hinsichtlich des „Großen Vaterländischen Krieges“ ihre Erinnerungskultur
komplett neu definieren müssen. Das wird ein schmerzhafter und schwieriger
Prozess werden.
Und wieder kommt mir das Jahr 2010 in den Sinn. Als wir zu dem Denkmal
gingen, sagte ich zu meiner zukünftigen Frau: „Noch ein paar Jahre, und
dieser Krieg wird zu der gleichen vagen Erinnerung werden wie der Krieg
gegen Napoleon.“ – „Das ist schon passiert“, antwortete sie. Niemand von
uns hätte sich vorstellen können, welche Monster mit den Überresten des
kollektiven Gedächtnisses genährt werden würden.
Der Autor ist russischer Journalist und lebt derzeit im Exil
Aus dem Russischen Barbara Oertel
7 May 2023
## LINKS
[1] /Tag-der-Befreiung-am-8-und-9-Mai/!5932602
[2] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5932560
## AUTOREN
Alexey Schischkin
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
8. Mai 1945
GNS
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Opfer
Faschismus
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
Nachtwölfe
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gedenken am 8. und 9. Mai in Berlin: Spassiba sagen – aber wie und wo?
Berlin feiert den Tag der Befreiung, nicht nur mit einem einmaligen
Feiertag, sondern auch mit vielen Veranstaltungen – und Konfliktpotenzial.
Totalitarismus-Mahnmal in Brüssel: Das Echo der Opfer
Architekt Tszwai So hat seinen Entwurf für das „Mahnmal für die Opfer des
Totalitarismus“ vorgestellt. Es soll nächstes Jahr in Brüssel entstehen.
Kriegsgeschichte in Norditalien: Kompliziertes Gedenken in Triest
Die Wendungen der Geschichte sind im italienischen Triest zahlreich,
mitunter bizarr. Ein Besuch in einer Stadt zwischen K.-u.-k. und
Ex-Jugoslawien.
Grenzfluss zwischen Estland und Russland: Der Wind bringt Sowjetschlager
Der Fluss Narwa trennt Estland und Russland voneinander. Entsprechend
unterschiedlich wird an beiden Ufern der „Tag des Sieges“ begangen. Ein
Besuch.
78. Jahrestag der Kapitulation: Kampf um Deutungshoheit
Auch in Berlin erinnern sich am 9. Mai Hunderte an den Sieg über
Hitler-Deutschland. Überschattet wird das Gedenken vom russischen
Angriffskrieg.
Filmemacher über den Kampf um Berlin 1945: „Ein Schlachtfeld im Stadtgebiet�…
Für die Doku „Kurz vor Schluss – Schlachtfeld Berlin 1945“ hat Christian
Grasse Zeitzeug:innen befragt. Die Kinopremiere ist am 8. Mai in
Hamburg.
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Von der Leyen plant Kyjiw-Besuch
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen will an diesem Dienstag nach Kyjiw
reisen. Trotz Sicherheitsrisiko hält Moskau an der morgigen Militärparade
fest.
Tag der Befreiung am 8. und 9. Mai: Gericht erlaubt russische Flaggen
Die Polizei hatte das Zeigen von russischen und ukrainischen Flaggen
verboten. Doch das Verwaltungsgericht kippte beide Verbote.
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Sachar Prilepin durch Bombe verletzt
Auf den nationalistischen Autor wurde in Russland ein Attentat verübt. In
Bachmut sollen die Wagner-Söldner von tschetschenischen Kämpfern abgelöst
werden.
Prorussischer Motorradclub am 9. Mai: Putins Biker touren zu Gedenkstätte
Der Motorradclub „Nachtwölfe“ plant eine Fahrt durch Thüringen, Sachsen u…
Brandenburg. Die Rocker wollen Shoah-Gedenkstätten besuchen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.