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# taz.de -- 78. Jahrestag der Befreiung: Und jährlich grüßt das Murmeltier
> Am 8. Mai gedenkt man des Kriegsendes und der Opfer des deutschen
> Faschismus. Beim Blick auf die Gegenwart fehlt es allerdings an
> Achtsamkeit.
Bild: Blumen in Erinnerung ans Kriegsende am Sowjetischen Ehrenmal am Tiergarten
Seit Jahrzehnten löst der 8. Mai wiederkehrend Beklommenheit in mir aus:
Die Nation gedenkt des Kriegsendes und der Opfer des deutschen Faschismus,
ohne dabei mit der gleichen Achtsamkeit auch auf die Gegenwart zu blicken.
Warnungen gelten besonders dem Wahnsinn verstorbener Alt-Nazis, ihre
Ideologie geistert aber auch heute noch dank Neonazis und anderer
Rechtsextremer durchs Land.
Das von [1][der taz enttarnte Hannibal-Netzwerk] und die aufgeflogenen
[2][Umsturzpläne] um Prinz Reuß sowie der Berliner Richterin Birgit
Malsack-Winkemann sind nur zwei Beispiele von zu vielen. Sind das
Ermüdungserscheinungen als Folge ritualisierten Mahnens? Ist es ein
dissoziativer Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart oder bereits eine
manifeste Störung?
Es heißt, kaum ein Land stelle sich seiner Vergangenheit so beständig wie
die Deutschen. Es gab den Frankfurter Auschwitzprozess, das „Unter den
Talaren der Muff von tausend Jahren“ der Studentenbewegung, Brandts
Kniefall, den Historikerstreit… Aber reicht das aus? Der bitterböse Witz
ist ja, dass die meisten Aufklärungsversuche gegen die empörte Mehrheit der
Deutschen unternommen wurden: [3][Fritz Bauer] war kein Liebling seiner
Zeit, Rudi Dutschke kein Volksheld.
Sollte ein Maß gelungener Erinnerungskultur nicht eher sein, wie
faschistoid, völkisch und rassistisch Teile unserer Gegenwart sind – ohne
dabei die Shoah aus dem Blick zu verlieren? Wären wir damit einer
ganzheitlicheren Erinnerungskultur nicht näher? Wie ließen sich „Nie
wieder!“ und „Der Schoß ist fruchtbar noch …“ denn sonst noch ernst ne…
Die einst von Merkel versprochene vollständige Aufklärung der NSU-Morde ist
bis heute ausgeblieben, mit NSU 2.0 und dem mutmaßlichen
[4][Neukölln-Komplex] gibt es allem Anschein nach Spin-offs der
ursprünglichen Idee. Im Osten setzt sich eine rechtsextreme Partei als
stärkste Kraft fest, beklemmend bleiben die andauernden Schutzmaßnahmen für
jüdische Einrichtungen, unvergessen Horst Seehofer, der ums Verrecken eine
Studie über Rassismus ablehnte …
## Es braucht keinen Hitler für faschistische Verbrechen
Sagt Ihnen der Name Paul Dickopf etwas? Der Kriminalpolizist aus dem
Dritten Reich und Angehörige der SS war ab 1950 Regierungs- und Kriminalrat
im Bundesinnenministerium. Er baute maßgeblich das BKA mit auf. 1965 wurde
er dessen Präsident, wenig später außerdem Chef von Interpol. Es liegt auf
der eben noch zum Hitlergruß gereckten Hand, dass er in diesen Funktionen
etliche Kollegen vor Strafverfolgung schützen und ihre Identität
verschleiern konnte, unter ihnen NS-Kriegsverbrecher. Dies ergab eine 2012
veröffentlichte Studie, die das Amt selbst beauftragte. Ja, auch
Institutionen lassen über ihre Historie forschen. Das ist gut, aber reicht
das auch aus? Wie gesagt, das Stichwort lautet: Dissoziation.
In der Zusammenfassung [5][der Studie] heißt es, die alten Nazis hätten
„auf den radikalen Umbau des Amtes in den 1970er Jahren“ keinen Einfluss
mehr besessen, „zugleich aber ging im BKA das Bewusstsein für die mit ihnen
verbundene historische Belastung verloren“. Die physischen Kontinuitäten
mag es also nicht mehr geben, jedoch stellt sich mir die Frage, wie es in
Teilen solcher Behörden um die Geisteswelt bestellt ist.
Meine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat eine Standleitung
in die Gegenwart. Natürlich liegt es vor allem an meiner Herkunft, als
nicht-weißer Migrant passe ich nur als Fremdkörper ins völkische Weltbild
Rechtsextremer. Es braucht nicht erst einen Hitler, eine NS-Diktatur oder
Vernichtungslager für faschistisch motivierte Verbrechen. Es heißt ja auch
nicht „Wehret dem Ende!“, sondern den Anfängen.
8 May 2023
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Hannibals-Schattennetzwerk/!t5549502
[2] /Razzia-bei-Reichsbuergern/!5901865
[3] /Kommentar-Todestag-des-Staatsanwalts/!5514236
[4] /Brandstiftungen-in-Neukoelln/!5929079
[5] https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/Publikationen/BKA-Historie/bka-…
## AUTOREN
Bobby Rafiq
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Kolumne Bobsens Späti
8. Mai 1945
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