| # taz.de -- Armin Thurnher zur Politik in Österreich: „Es gibt keinen Lernef… | |
| > Die Ära von Sebastian Kurz war ein Einschnitt, sagt der Journalist Armin | |
| > Thurnher. Er erklärt, warum die Linke in Österreich auf eine Ampel hofft | |
| Bild: Im Angriffsmodus: FPÖ-Chef Herbert Kickl beim Protest gegen Corona-Maßn… | |
| wochentaz: Herr Thurnher, Ihr neues Buch heißt „Anstandslos“. | |
| Offensichtlich ein Wortspiel. Auf wen bezieht es sich? | |
| Armin Thurnher: Auf die Ära Sebastian Kurz. Da hat das österreichische | |
| Bürgertum oder die Reste davon oder der österreichische Konservativismus | |
| eine Grenze überschritten, und zwar die Grenze zum Trumpismus. Unter Kurz | |
| wurden gewisse Selbstbeschränkungen fallengelassen. In der Politik wurde | |
| immer schon gelogen. Aber es war bisher nicht so, dass man die Lüge eiskalt | |
| als Mittel einsetzt, um die Karriere und politische Werbung zu befördern. | |
| Ist zur Ära Kurz nicht schon alles gesagt? | |
| Nein. Es ist viel zu wenig bekannt, wie sehr da bereits US-amerikanische | |
| Polittrends hereinspielen, Social Media und das Voranschreiten der | |
| politischen Unvernunft. Auch das evangelikale Moment spielte auf | |
| Österreichisch eine Rolle. In einer Religionsshow in der Stadthalle stieg | |
| Sebastian Kurz auf die Bühne, und ein evangelikaler Prediger dankte seinem | |
| Herrn für diesen Mann. Das letzte Indiz war dann das Engagement von Kurz | |
| beim rechten Investor Peter Thiel, der auch stark evangelikal geprägt ist. | |
| Diese Leute streben nicht Demokratie an, sondern The Kingdom of God. Und da | |
| passt Kurz gut hinein, ohne dass man das hierzulande als politische | |
| Willenskundgebung erkannt hätte. Er hat zwar gern an Wallfahrtsorten | |
| posiert, seine Religiosität aber nicht ausgestellt. Das Evangelikale ist | |
| einfach so passiert, quasi anstandslos. | |
| Kurz ist weg. Die ÖVP ist in den Umfragen bei um die 20 Prozent, also dort, | |
| wo sie vorher war. Auch die FPÖ ist wieder dort, wo sie vorher war. Also | |
| alles wieder normal? Oder war die Ära Kurz ein Einschnitt? | |
| Sie war ein Einschnitt. Gewisse Zerstörungen sind nicht mehr gutzumachen, | |
| [1][zum Beispiel in den Medien]. Die politische Vereinnahmung des | |
| öffentlich-rechtlichen Rundfunks passiert jetzt mit einer Unverschämtheit, | |
| die vorher nicht da war. Die gesamte politische Kommunikation, nicht nur | |
| der ÖVP, sondern insgesamt des Landes, wurde durch diese Jahre einigermaßen | |
| zerstört. | |
| Würde das Wahlvolk ein weiteres Mal auf so einen Typen hereinfallen? | |
| Jederzeit. Es gibt überhaupt keinen Lerneffekt. Es ist ja ein Fortschreiten | |
| der allgemeinen Irrationalität zu beobachten, auch aufgrund der Schwäche | |
| der Linken und der Sozialdemokratie. Diese steigende Irrationalität | |
| begünstigt natürlich polarisierende und charismatische Typen. Dieses | |
| Charisma ist ja kein echtes, sondern oft nur ein fauler Zauber. Die | |
| Trump-Anhänger wissen ja, dass Trump lügt. Faszinierend. Sie haben einfach | |
| beschlossen, ihm zu glauben. Und das ist präaufklärerisch. Inmitten einer | |
| hochtechnisierten Welt. Da ist Österreich durchaus auf der Höhe der Zeit, | |
| mit dieser Gleichzeitigkeit von atavistischem und völkischem Zeug auf der | |
| rechtsextremen Seite und modernen technischen Mitteln, mit denen das | |
| verbreitet wird. | |
| Angesichts der Widersprüche in den Aussagen von ÖVP-Politikern wundert man | |
| sich, warum die nicht mehr Stimmen verloren haben. Da heißt es, das Geld | |
| wachse nicht auf den Bäumen, wenn es um die Existenz des | |
| öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht. Aber für Steuergeschenke an | |
| Milliardäre wie René Benko scheint es ganze Plantagen von Geldbäumen zu | |
| geben. | |
| Das liegt wohl an den dominierenden Boulevardmedien. Der Boulevard | |
| wirtschaftet in die Taschen der Eigentümerfamilien, die sind doch lauter | |
| Millionäre und Milliardäre, um Bernie Sanders zu zitieren. Die haben kein | |
| Interesse an gerechter Besteuerung oder vernünftiger Medienförderung. Auf | |
| die Interessen dieser Leute wird sehr stark Rücksicht genommen. Im | |
| Eigeninteresse der handelnden PolitikerInnen, aber nicht im Interesse der | |
| Bevölkerung. | |
| Vor Kurzem ist in Niederösterreich eine [2][schwarz-blaue Regierung | |
| zustande gekommen]. Warum wird das als besonderer Dammbruch gesehen? Es ist | |
| ja nicht die erste rechtskonservative Regierung in diesem Jahrhundert. | |
| Bei der niederösterreichischen FPÖ gibt es dauernd „Ausrutscher“. Da zieh… | |
| Abgeordnete in den Landtag ein, die sich mit Hitlergruß fotografieren | |
| lassen. Der Spitzenmann Udo Landbauer gehört einer schlagenden Verbindung | |
| an, bei der ein Liederbuch mit antisemitischen und rechten Gesängen | |
| gefunden wurde. Zahllose Einzelheiten zeigen, dass die FPÖ Niederösterreich | |
| ein extrem rechter Flügel innerhalb der FPÖ ist, was schon einiges heißen | |
| will. Mit so einer Partei ohne Not zu koalieren, ist ein Tabubruch, der | |
| darauf schließen lässt, dass das eine Probe ist für die nächste | |
| Bundesregierung nach den Wahlen 2024. Unter Umständen auch mit einem | |
| Kanzler Herbert Kickl von der FPÖ. | |
| Für die Linke ist jetzt die Ampel – SPÖ, Grüne und Neos – die einzige | |
| Perspektive, die noch Mut macht. Warum ist es in Österreich so absolut | |
| unüblich zu sagen, mit wem man nach der Wahl koalieren will? | |
| Das ist eine üble Tradition, die ich nie verstanden habe. Wenn man sich | |
| vorher festlegt, würde man mehr politische Perspektive in die Arbeit | |
| bringen, aber perspektivisches Denken ist der österreichischen Politik | |
| fremd. Die SPÖ hat zumindest lange Zeit gesagt, mit der FPÖ würde sie nicht | |
| koalieren. Damit hat sie zwar Wahlen gewonnen, aber dann die Verhandlungen | |
| verloren. Jetzt reden Hans Peter Doskozil und Andreas Babler, die beide | |
| Pamela Rendi-Wagner als SPÖ-Chefin ablösen wollen, von einer Ampel als | |
| Wunschkoalition. | |
| In den sozialen Medien werden die Grünen dafür geprügelt, was die ÖVP macht | |
| und sie nicht verhindern können. Auch in der politischen Debatte sieht es | |
| aus, als wären für die SPÖ die Grünen die eigentlichen Gegner. | |
| Die Grünen sind in einer beschissenen Lage. Sie können aus der Koalition | |
| mit der ÖVP nicht heraus, weil sie bei Neuwahlen massiv verlieren würden. | |
| Gleichzeitig verlieren sie aber weiter, wenn sie drinbleiben. Wir können | |
| nur hoffen, dass irgendwas Unvorhergesehenes passiert, das ihnen | |
| vielleicht doch zu einem besseren Ergebnis verhilft. Zum Teil konnten sie | |
| ja erstaunliche Dinge durchsetzen, vor allem klimapolitisch. Aber das wird | |
| ihnen nicht angerechnet. In der Sozialpolitik können sie sich nicht | |
| durchsetzen, weil die ÖVP einfach die Hausherrenpartei ist. Immerhin, ohne | |
| den Druck der Grünen wäre Sebastian Kurz noch immer Bundeskanzler. Das | |
| allein ist schon ein ganz fetter Pluspunkt. Kann man natürlich schwer in | |
| einer Koalition laut vor sich hertragen. Allenfalls vielleicht im | |
| Wahlkampf. Dann ist es aber zu spät. | |
| Was ist in der SPÖ los? Da gibt es ab nächster Woche eine | |
| [3][Mitgliederbefragung zum Parteivorsitz], ursprünglich wollten sich 69 | |
| Kandidaten und 4 Kandidatinnen stellen. Chaostage, wie der Boulevard | |
| schreibt, oder kreativer Aufbruch mit Basisdemokratie? | |
| Es ist natürlich beides. Ich habe mich gegen die Etikettierung „Chaostage“ | |
| gewehrt, weil das ein typisches ÖVP-Framing war, das von allen Medien | |
| begeistert aufgegriffen wurde. Die Rivalität zwischen Pamela Rendi-Wagner | |
| und Hans Peter Doskozil ist natürlich aus dem Ruder gelaufen. Gefühlsmäßig | |
| können’s beide nicht. Und das bei einer Themenkonjunktur, die für die SPÖ | |
| ein Geschenk war: Ermittlungen gegen Spitzenpolitiker der ÖVP, ein | |
| vollkommen gescheitertes Coronamanagement, eine Koalition, die wankt, eine | |
| Umverteilung nach oben, explodierende Preise, Inflation. Ein aufgelegter | |
| Elfmeter nach dem anderen. Und die SPÖ macht nichts daraus. Die haben ja | |
| wirklich erwartet, dass die objektive Lage ihnen die Massen zutreibt. | |
| Tatsächlich lagen sie schon bei fast 30 Prozent. Aber dann kam Herbert | |
| Kickl von der FPÖ. Kickl ist ein aktiver Politiker, ein Demagoge, ein | |
| Verführer. Er hat die Situation zu seinen Gunsten gedreht, mithilfe von | |
| Corona und Migration. | |
| Es heißt, Donald Trump wird nicht gewählt, weil er sympathisch ist, sondern | |
| weil er ohne Beißhemmung jede Schwäche des Gegners ausnutzt. Kickl hat ja | |
| auch extrem niedrige Sympathiewerte. | |
| Bei Kickl spürt man diesen unbändigen Willen, an die Macht zu kommen, den | |
| man auch bei Kurz gespürt hat. Der steht für was. Die Leute spüren da was. | |
| Bei Frau Rendi-Wagner, die sehr sympathisch ist, spüren sie nichts. | |
| 26 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Leonhard | |
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