| # taz.de -- Lebensweisheiten in heiliger Schrift: Erkenntnis mit Götzenfleisch | |
| > Wow. Im ersten Korintherbrief von Paulus finden sich erstaunlich aktuelle | |
| > Handlungsanweisungen für ein besseres Leben und eine bessere Welt | |
| Bild: Altkleider in der Atacama-Wüste in Chile | |
| Am Palmsonntag stand ich in der Stadtkirche zu Darmstadt und hielt die | |
| Predigt. Die keine Predigt war. Der Pfarrer lädt vor Ostern Auswärtige ein, | |
| das Wort an die Gemeinde zu richten, unabhängig von ihrer Konfession. Eine | |
| willkommene Gelegenheit, sich mal wieder ins Neue Testament zu vertiefen. | |
| In diesem Fall in den ersten Korintherbrief von Paulus. | |
| Das Thema erscheint nebensächlich. Darf man Götzen geopfertes Fleisch | |
| essen? Eigentlich nein, und somit wäre alles gesagt, aber was auf das | |
| Verbot folgt, ist erstaunlich: Die Erkenntnis bläht auf; aber die Liebe | |
| baut auf. Wow. | |
| Was für eine Ohrfeige gegen die Löffel, mit denen manche von uns die | |
| Weisheit fressen. Gegen das Dogma der reinen Vernunft. Fast eine polemische | |
| Beschreibung der pompösen Selbstherrlichkeit jener unter uns, die meinen, | |
| das wahre Wissen gepachtet zu haben. Stattdessen der Bezug auf die Liebe. | |
| Liebende sind geneigt, mit Mitgefühl zu verstehen und Nachsicht zu üben, | |
| sich Gedanken und Sorgen zu machen. Es gehört zu den fatalen | |
| Missverständnissen im Patriarchat, dass Apodiktik und Liebe zusammengehen. | |
| Der zweite Vers lässt die Antwort noch komplexer erscheinen: Wenn jemand | |
| meint, er habe etwas erkannt, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen | |
| soll. Doppelwow. Was ist das? Erkenntnistheorie? Warnung vor | |
| Selbstherrlichkeit im öffentlichen Diskurs? Postmoderne Skepsis des | |
| Schreibenden, der sich damit auch selbst infrage stellt? Ein Schlag ins | |
| Kontor orthodoxer Autoritäten? Die tiefere Frage lautet an dieser Stelle: | |
| Was ist Wahrheit? Und die Anregung von Paulus ist verwirrend klar: Wahrheit | |
| ist ein Prozess. Entscheidend ist das Verfahren der Erkenntnis. Wahrheit | |
| ist kein Diplom, das man an die Wand hängen kann. Sie ist die Betrachtung | |
| des Vogelflugs und nicht der Kolibri im Käfig. | |
| Erkenntnis sollte nicht sesshaft werden. | |
| Der nächste Vers – Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt – | |
| überfordert mich, weil ich nicht verstehen kann, wie wir Gott lieben | |
| sollen, ohne seine Schöpfung zu lieben. Und das tun wir nicht. Nicht als | |
| Individuen, nicht als Gesellschaft. Nicht als Wirtschaftssystem. Als hätte | |
| Paulus dieses Unbehagen vorausgeahnt, schreibt er im achten Vers: Essen wir | |
| nicht, so fehlt uns nichts, essen wir, so gewinnen wir nichts. Das ist eine | |
| Provokation, die es in sich hat. Vielleicht sogar für uns mehr als für die | |
| Korinther. Was ist wesentlich, was ist notwendig, was ist überflüssig, und | |
| wieso tun wir uns so schwer, zwischen beidem zu unterscheiden? Wieso | |
| zerstören wir das Wesentliche, um das Überflüssige zu produzieren? Unsere | |
| Drogerien sind voller Produkte, deretwegen [1][das göttliche Wunder eines | |
| Regenwalds abgeholzt wurde], ersetzt durch die Monokultur einer | |
| Palmölplantage. Für viele der Waren, die wir kaufen, konsumieren, | |
| wegwerfen, gilt dieser Satz. Ob wir sie im übertragenen Sinn „essen“ oder | |
| nicht, ist aus essenzieller Sicht für unser Leben irrelevant. Wir | |
| versündigen uns an der Natur, um meist gedankenlos im übertragenen Sinn | |
| „Götzenfleisch“ zu essen. | |
| Vor Kurzem sah ich ein Foto von der Atacama-Wüste im Norden Chiles. So weit | |
| das Auge reichte ein bunter Fleckenteppich, der zunächst fröhlich aussah, | |
| bis die Bildunterschrift mich ernüchterte: Altkleidung, in der Wüste | |
| deponiert, weil [2][viel mehr in den Warenkreislauf gelangt], als wir | |
| tragen, spenden oder zu Putzlappen zertrennen können. Bald werden wir | |
| unseren Kindern die Wüste neu erklären müssen: Einst eine trockene | |
| Landschaft voller Dünen, heute eine Mülldeponie. Kaufen wir es nicht, so | |
| fehlt uns nichts, kaufen wir es, so gewinnen wir nichts. Triplewow. | |
| Wenn wir Luxus als existenzielle Notwendigkeit betrachten, gibt es zudem – | |
| auch das deutet Paulus an – ein Problem der gesellschaftlichen | |
| Selbstdisziplin. Es ist fast unmöglich, zu verzichten und zu verweigern, | |
| wenn dies um einen herum kaum jemand tut. Vers 10: Denn wenn jemand dich, | |
| der du die Erkenntnis hast, im Götzentempel zu Tisch sitzen sieht, wird | |
| dann nicht sein Gewissen, da er doch schwach ist, verleitet, das | |
| Götzenopfer zu essen? Eine Erkenntnis, die bei jedem ökologischen Diskurs | |
| in verschiedenen Variationen bestätigt wird. Was bringt das schon (so heißt | |
| es)? Wieso sollen gerade wir damit anfangen …? Verzicht gilt als Mundraub | |
| an einem selbst. | |
| Im Gegensatz zur frühchristlichen Gemeinde in Korinth haben wir nicht | |
| einmal ein schlechtes Gewissen, wir haben – was exzessiven Konsum betrifft | |
| – überhaupt kein Gewissen. Gelegentliche Anregungen, sich auf bescheidenste | |
| Weise zu bescheiden, werden in einem Sturm der Entrüstung ertränkt. Und | |
| weil wir konditioniert sind, den eifrigen Verzehr von Götzenfleisch stets | |
| relativ zu betrachten, also im Vergleich mit unseren Nachbarn, bilden wir | |
| uns ein, noch lange nicht zu jenen zu gehören, die den Bogen überspannen. | |
| Übertreiben tun immer nur die anderen. | |
| Darin besteht unsere Freiheit, und sie ist den Schwachen längst zum Anstoß | |
| geworden. In unserem Land, wo [3][die Zahl der Tafeln und der Menschen, die | |
| von diesen abhängen, kontinuierlich zunimmt]. Zwar haben wir die Sklaverei | |
| in Europa abgeschafft, aber wir haben uns innerlich einem Selbst | |
| unterworfen, das in hohem Maße fremdbestimmt ist, manipuliert von den | |
| Algorithmen des Internets, den Verführungen des Wachstumswahns. Wie viel | |
| freien Willen braucht es, um nichts zu verändern? | |
| Und wieso das alles? Weil wir das Götzenfleisch heute essen, weil es uns | |
| heute so gut schmeckt, weil es heute im Sonderangebot ist. | |
| Eine der für mich einleuchtenden Definitionen von Freiheit lautet: | |
| „Freiheit ist, zwischen dem zu wählen, was man jetzt will, und dem, was man | |
| am meisten will.“ In meinem Fall wäre Letzteres, ein Leben im Wesentlichen | |
| zu führen, zum Wohl anderer Menschen, zum Wohl einer besseren Zukunft, | |
| bevor wir diesen Planeten gänzlich ausgebeutet, verbraucht und vergiftet | |
| haben. | |
| 7 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
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