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# taz.de -- Bürgermeisterwahl in Chicago: Gute Kinder, böse Stadt
> 695 Menschen wurden 2022 in Chicago getötet. Bei der Wahl des neuen
> Bürgermeisters dreht sich alles um die Frage: Was tun gegen die Gewalt?
> Die einen wollen mehr Polizei, die anderen wollen sie abschaffen.
Bild: Chicago ist die drittgrößte Stadt der USA. Kann man hier auf die Polize…
Die erste Schusswaffe hatte Camiella Williams mit elf Jahren. Ein
9-mm-Kaliber, für 25 Dollar vom Taschengeld gekauft. Nichts Besonderes in
Englewood, sagt sie. Hatten die Jungs ja auch.
Wenn sie die anderen einschüchtern wollte, holte sie die Pistole aus ihrem
Rucksack und wedelte damit herum. Muss sie sich abgeguckt haben, sagt
Williams. Wer zu einer Gang gehört, sorgt besser für Angst, als sie zu
zeigen.
In Englewood gibt es kein Leben ohne Gewalt. Gewalt ist draußen und
zwischen den Menschen und irgendwann auch in einem drin, sagt Williams. Als
Trauma, kalt und glühend. Man weiß, dass Personen, die schwere physische
Gewalt ausüben, fast immer selbst Gewalt erfahren haben. In Englewood
erlebt man es.
Wer mit Camiella Williams, die heute 35 Jahre alt ist, zwei Söhne hat und
als Lehrerin arbeitet, durch ihre alte Heimat im Süden von Chicago fährt,
spürt, wie sehr sie an Englewood hängt. Sie zeigt auf den Kiosk, an dem sie
damals Fruchtgummis für 75 Cent kaufte, die Marke, die sie jetzt immer noch
holt. Sie erzählt vom Shoppingcenter, das es nicht mehr gibt, Evergreen
Plaza, „von allen nur Everblack genannt“. Erinnerungen an jeder Ecke. Und
an jeder zweiten nennt sie einen neuen Namen.
Deonte. Rekia. Porshe. Terrell. Starkesia. Tyshawn.
Wie viele Menschen sie in ihrem Leben durch Gewalttaten verloren hat? „Es
müssten über 50 sein.“ Freundinnen, Cousins, Lehrerinnen, Bekannte.
„An manchen Tagen weiß ich einfach nicht mehr weiter“, sagt Williams, als
sie an einer Ampel hält. Angst, schiebt sie wie im Reflex hinterher, habe
sie aber keine. Williams zeigt links neben sich auf das kleine Fach in der
Autotür. Dort liegt ihre Pistole. Dass Selbstbewaffnung keine langfristige
Lösung ist, muss man ihr nicht erzählen. Kaum jemand weiß das besser als
sie.
## ***
Wenn Chicago, mit 2,7 Millionen Einwohner*innen die drittgrößte Stadt
der USA, am 4. April einen neuen Bürgermeister wählt, wird die Southside
eine entscheidende Rolle spielen. Es sind allerdings nicht die Leute in
Englewood, ihre Perspektiven, die im Mittelpunkt der Debatten stehen.
Maßgebend ist auch nicht in erster Linie die Gewalt, die sich hier durch
Armut, fehlende Angebote und oft rassistische Repressionen der Polizei ins
Leben der Menschen drückt und dann zwischen ihnen explodiert. Gewalt wird
von den politischen Verantwortlichen als Problem nur sehr selektiv
wahrgenommen.
[1][Das dominierende Thema dieser Wahl ist Crime, also Kriminalität.]
Kriminalität und Gewalt haben natürlich etwas miteinander zu tun, aber es
sind doch ganz verschiedene Denkgrößen, verschiedene Rahmen. Besonders
deutlich wird das in Vierteln wie Englewood, wo das Label „crime hotspot“
eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt geradezu verhindert.
2022 wurden in Chicago 695 Menschen getötet. Im Jahr davor waren es 804. So
hoch waren die Zahlen zuletzt in den 90er Jahren. Dass die Zahl der
Straftaten in den vergangenen Jahren laut Polizei gestiegen ist, wird vor
allem mit der Pandemie erklärt. 2022 wurden pro Tag durchschnittlich 59
Autodiebstähle gemeldet. Schießereien gehören zur Normalität. Laut
aktueller Umfragen fühlen sich zwei Drittel der Einwohner*innen von
Chicago unsicher.
Hat man diese Statistiken im Kopf, überrascht es kaum, dass das Thema den
Wahlkampf bestimmt. Und doch ist dieses Jahr etwas Besonderes. Zum ersten
Mal seit Jahrzehnten gibt es einen aussichtsreichen Kandidaten auf das
höchste Amt der Stadt, der anders über Gewalt und Kriminalität nachdenkt –
der nicht noch mehr Polizei in Viertel wie Englewood schicken will, sondern
im Gegenteil, so viele Beamt*innen wie möglich durch
Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen und Lehrer*innen ersetzen
will.
## Linker Wandel oder Recht und Ordnung?
Brandon Johnson heißt der Mann, der einen linken Wandel für Chicago
anstrebt. Der 47-jährige Afroamerikaner war Lehrer an einer öffentlichen
Schule und Gewerkschaftsaktivist, bevor er Politiker wurde. Aktuell sitzt
er im Parlament von Cook County, so heißt der Verwaltungsbezirk, in dem
Chicago liegt. Johnson wohnt mit seiner Familie in Austin, einem
überwiegend prekären Viertel im Westen der Stadt. Er weiß, wie sich Schüsse
aus der Nähe anhören. Und er gibt zu, dass er manchmal Angst hat, wenn
seine Kinder draußen spielen.
„Glaubt mir“, sagt Johnson bei jeder Gelegenheit, „mir liegt persönlich
daran, dass wir das Problem lösen“.
Sein Kontrahent, der 69-jährige Paul Vallas, will keinen Bruch, sondern den
Strafapparat weiter ausbauen. Vallas war in den vergangenen Jahrzehnten in
verschiedenen US-Metropolen als Chef der Schulbehörde im Einsatz und sorgte
in Chicago, Philadelphia und New Orleans dafür, dass Teile des
Bildungssystems privatisiert wurden. Statt großflächig in öffentliche
Schulen zu investieren, ließ Vallas sogenannte Charter Schools eröffnen,
die von privaten Trägern gemanagt werden. Darüber hinaus führte er rigidere
Teststandards ein und kürzte beim Rentenfonds der Lehrer*innen.
Damit Chicago zurück zu „Gesetz und Ordnung“ kommt, will Vallas Tausende
weitere Polizist*innen einstellen. Mit diesem Versprechen konnte er im
ersten Wahlgang Ende Februar vor allem die wohlhabenden, überwiegend weißen
Wähler*innen im Zentrum und im Norden Chicagos überzeugen. Vallas
landete – bei einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent – vor Johnson auf
Platz eins. Amtsinhaberin Lori Lightfoot, die in ihren vier Jahren im
Rathaus weitestgehend orientierungslos agierte, stürzte ab.
In der Stichwahl kommt es nun zu einem Duell der politischen Visionen.
Johnson und Vallas sind zwar beides Demokraten, könnten aber innerhalb der
Partei kaum weiter voneinander entfernt stehen. Der eine kommt aus der
Bewegung, der andere aus der Bürokratie. Der eine wird von progressiven
Graswurzelgruppen unterstützt, der andere von der Polizeilobby. Er sei
„mehr ein Republikaner als ein Demokrat“, hat Vallas mal über sich gesagt.
## Es funktioniert
Von Bedeutung ist diese Wahl weit über die Grenzen von Chicago hinaus. Der
Umgang mit Gewalt ist eine zentrale Frage der amerikanischen Politik.
Republikaner und rechte Medien haben in den vergangenen Jahren – auch als
Antwort auf die Schwarzen, linken Massenproteste im Sommer 2020 nach dem
Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten – ihre Crime Panic
intensiviert: Weil die Demokraten in den Städten nicht hart genug
regierten, versinke das Land im Chaos, lautet ihre Erzählung.
Das Unheimliche an der Crime Panic ist, dass sie nichts löst und trotzdem
funktioniert: Die meisten Demokraten lassen sich bereitwillig treiben,
mindestens so oft treiben sie die Aufrüstung selbst voran. Es gilt: Auf
keinen Fall soft on crime wirken. Präsident Joe Biden hat das Polizeibudget
insgesamt um mehrere Milliarden erhöht. Seinem Plan nach sollen in den
kommenden Jahren 100.000 neue Polizist*innen eingestellt werden.
In Chicago, ausgerechnet dort, könnte nun ein Gegenexperiment beginnen.
Johnson verspricht zwar keinen radikalen Abbau der Polizei, aber einen
radikalen Wandel im Umgang mit der Gewalt. Sollte er gewinnen, hätte die
linke Bewegung Macht demonstriert – und stünde sofort unter enormen Druck.
Sie müsste gegen alle Widerstände beweisen, dass es anders geht.
## ***
Wenn Camiella Williams lacht, und ihre Zahnlücke zum Vorschein kommt, dann
wirkt sie mit ihrem runden Gesicht für einen kurzen Moment wie ein Kind.
Das passiert nicht oft an diesem Nachmittag.
Sie trägt einen blauen Kapuzenpullover, auf dem „GoodKidsMadCity“ steht, so
heißt die Community-Organisation, bei der sie als Mentorin arbeitet. Der
Name ist eine Anspielung auf Kendrick Lamars legendäres Album, natürlich
ist es auch eine politische Botschaft: Nicht die Kids sind das Problem,
sondern die Umstände, in die sie geworfen werden.
GoodKidsMadCity wurde 2018 in Englewood gegründet, mehrere hundert
Jugendliche sind dort mittlerweile aktiv. Sie treffen sich, um über
Konfliktlösungen zu sprechen, organisieren Basketballturniere und Proteste,
unterstützen die Angehörigen von Gewaltopfern. Sie setzen sich dafür ein,
dass in ihre Nachbarschaften investiert wird: neue Jobs, bessere Bildung,
Zugang zu Gesundheitsversorgung, mehr Sportplätze. Sie wollen Gewalt
präventiv entgegenwirken. Und sie fordern eine Abschaffung der Polizei.
Williams versucht, ihre Erfahrung an die jungen Aktivist*innen
weiterzugeben. Sie sagt ihnen nicht: Gebt eure Waffen weg. Sie sagt: Fangt
keinen Streit an. Sie fordert nicht: Verlasst eure Gangs. Sie weiß: So was
passiert nicht einfach so. „Ich nehme sie ernst“, so Williams, „indem ich
ihnen meine Verletzbarkeit zeige.“
Williams war zehn, als ihr Vater an Aids starb. Ihre Eltern waren da schon
eine Weile geschieden. Dann erfuhr sie, dass ihre Mutter Brustkrebs hat. Zu
viel für ein Kind, sagt sie, vor allem, wenn es keine professionelle Hilfe
bekommt. Williams suchte Prügeleien, egal mit wem. In der High School fing
sie an, mit Drogen zu dealen, schloss sich einer Gang an, deren Namen sie
lieber nicht verraten möchte. Sie entwickelte eine „Vorliebe zur Gewalt“,
wie sie im Rückblick sagt.
## Die Bewegung ist stark
Im März 2006, Williams war 19 und zum ersten Mal schwanger, wurde ein
14-jähriges Mädchen in der Nachbarschaft durch einen Irrläufer eines
Sturmgewehrs getötet. „Sie bringen jetzt auch Kinder um?“ Williams wusste,
dass sie irgendwie rausmuss. Sie wandte sich an den Pastor der
St.-Sabina-Kirche, deren angeschlossene Schule Williams besucht hatte.
Zusammen installierten sie vor dem Gebäude eine Gedenkwand mit Fotos von
getöteten Jugendlichen aus Chicago. Knapp 200 Bilder hängen dort heute in
sechs Glasvitrinen. Für Williams war es der Einstieg in den Aktivismus.
Sie zog aus Englewood in einen Vorort südlich der Stadt, schrieb sich in
ein Community-College ein. In den folgenden Jahren trat sie verschiedenen
aktivistischen Gruppen bei. Black Lives Matter nahm seinen Lauf. Der Glaube
an eine Reform der Polizei war damals noch da.
„Als ich als politische Organizerin angefangen habe, wurde mir beigebracht,
dass man seine Wut besser nicht zeigt“, sagt Williams. „Die Kids von heute
sind zum Glück radikaler.“
Und in kaum einer Stadt ist die Bewegung so stark wie in Chicago.
Neben GoodKidsMadCity gibt es in der Windy City, so Chicagos Spitzname,
diverse Organisationen, die für den Abolitionismus kämpfen, also die
Überwindung von Polizei und Gefängnissen. Da wäre zum Beispiel das Project
NIA, von der Vordenkerin Mariame Kaba initiiert, das sich dafür einsetzt,
Kinder und Jugendliche aus dem Strafsystem zu holen. Da wären Assata’s
Daughters, benannt nach der Schwarzen Freiheitskämpferin Assata Shakur, die
politische Bildung anbieten und Aktivist*innen trainieren. Auch
Kollektive wie BYP100, Love & Protect oder das Rampant Magazine setzen sich
dafür ein, den jetzigen Strafapparat obsolet zu machen.
Chicago ist wieder einmal Wegbereiter. So war es ja schon im 19.
Jahrhundert, als dort Zehntausende Arbeiter*innen für einen
Acht-Stunden-Tag kämpften und damit den Tag der Arbeit aus der Taufe hoben.
So war es in den 1960er Jahren, als Fred Hampton die revolutionäre Rainbow
Coalition ins Leben rief. So war es auch 2012, als Zehntausende
Lehrer*innen – organisiert durch die Gewerkschaft CTU – streikten und
damit der amerikanischen Arbeiter*innenbewegung Schwung verpassten.
In Chicago sitzt der linke Verlag Haymarket Books, benannt nach dem
blutigen Aufstand 1886. Hier findet auch die alljährliche
Sozialismuskonferenz statt. Chicago ist die Stadt, in der eine
wiedererstarkte Gewerkschaftsmacht auf einen Schwarzen, linken Feminismus
trifft. Sollte Johnson die Wahl zum Bürgermeister gewinnen, hätte er das
vor allem der Graswurzel-Organisierung der vergangenen Jahre zu verdanken.
## ***
Als Johnson und Vallas Mitte März in einem dicht besetzten Saal der
University of Illinois im Zentrum Chicagos über öffentliche Sicherheit
diskutieren, wird der Unterschied zwischen den Kontrahenten sofort
sichtbar.
Johnson schwingt sich locker auf die Bühne, deutet mit dem Zeigefinger ins
Publikum, hey, hey, hey. Er ruckelt sich auf einer Mischung von Barhocker
und Dekostück zurecht, was gar nicht so einfach zu sein scheint. „Kann mal
jemand einen Stuhl für die arbeitende Klasse bringen?“ Die Leute lachen.
„Die sichersten Städte der Welt haben eine Sache gemeinsam: Sie investieren
in die Menschen“, sagt Johnson und nennt zwei Rechtsverordnungen, die er
als Bürgermeister durchsetzen will, durch Steuererhöhungen für Reiche
finanziert: Im „Peace Book“ steht, dass vom 2 Milliarden Dollar schweren
Polizeibudget 35 Millionen abgezogen und in Jugendprogramme gesteckt
werden. Die „Treatment Not Trauma“-Gesetzesinitiative hat das Ziel,
geschlossene psychiatrische Einrichtungen wieder zu eröffnen und eine neue
Krisenhotline einzuführen.
Vallas wirkt dagegen blass und verbissen, er redet zu schnell und
verhaspelt sich oft. Immer wieder spricht er von „Community“, doch das
kauft ihm hier niemand ab. Die rund 2.000 Zuschauer*innen bestrafen
Vallas’ Forderung nach mehr Polizei mit Unmut.
Nimmt man nur diesen Abend zum Maßstab, müsste Johnson am 4. April haushoch
gewinnen. Doch die Stimmung im Saal der Uni spiegelt die Stimmung in der
Stadt nur bedingt wider. Vallas lag bei der ersten Wahl im Februar
schließlich vorne, in aktuellen Umfragen liegen die beiden Kopf an Kopf.
Ein Großteil der Bevölkerung unterstützt zwar deutliche Reformen. Für eine
Abschaffung von Polizei und Gefängnissen finden sich aber keine Mehrheiten.
Noch nicht, sagen Aktivist*innen.
Wer sich in den USA gegen Polizei und Gefängnisse einsetzt, hat viele
Gegner. Einer davon ist die amerikanische Geschichte. Man hat es mit
Jahrhunderten zu tun, in denen diese Institutionen physisch und ideologisch
in der Gesellschaft verankert wurden. Man ist mit einer „Kultur der
Kontrolle“ konfrontiert, wie der Kriminologe David W. Garland die
Kombination von neoliberaler Austeritätspolitik, Solidaritätszerfall und
Vergeltungsmentalität nennt. Man muss auch dagegen ankämpfen, dass viele
Reformen in den vergangenen Jahrzehnten die Straf-und-Überwachungslogiken
in andere Bereiche wie die Bildung übertragen haben. Niemand Geringeres als
der jetzige Bürgermeisterkandidat Vallas führte in den 1990er Jahren eine
„Null-Toleranz-Regel“ für Chicagos Schulen ein: Wer Ärger machte, wurde
schnell suspendiert. Auch die Zahl der Cops in den Schulen ist gestiegen.
## „Wir leben in einer Strafgesellschaft“
Die wohl größte Herausforderung für die abolitionistische Bewegung könnte
jedoch darin liegen, verlässliche Sicherheitsstrukturen jenseits der
jetzigen Institutionen zu entwickeln. Wen ruft man an, wenn man bedroht
wird? Wie schützt man Menschen, die Opfer von Gewaltverbrechen wurden? Wie
könnte ein System aussehen, in dem Täter Verantwortung übernehmen? Will der
Abolitionismus Mehrheiten, muss er für diejenigen funktionieren, die
primär unter Gewalt leiden: arme und nichtweiße Menschen, Frauen und
Queers.
Abolitionistische Organisationen haben in zahlreichen US-Städten bereits
Verfahren der „restaurativen Gerechtigkeit“ entwickelt. Was das bedeutet?
Statt Gewalttäter wegzusperren, nehmen sie an langfristigen Programme teil,
zu denen psychologische Betreuung, Community-Arbeit und Gesprächskreise
gehören – oftmals mit den Opfern, wenn diese dazu bereit sind. Laut Studien
ist die Rückfallquote bei solchen Bedingungen deutlich geringer. Ein großer
Teil der Opfer sagt, dass sie am Ende der Verfahren ein Gefühl von
wirklicher Gerechtigkeit spüren.
In den USA gibt es zudem auch immer mehr Politiker*innen, die sich zur
abolitionistischen Bewegung zählen. Robin Wonsley ist eine davon, sie sitzt
im Stadtrat von Minneapolis. Tiffany Caban eine andere, sie ist Teil des
Parlaments von New York City. In verschiedenen Städten, unter anderem in
Philadelphia, sind Bezirksstaatsanwälte im Einsatz, die zwar keine
Abschaffung des derzeitigen Apparats wollen, aber immerhin Strafmaße
verringern und Drogen entkriminalisieren.
Wie es aussehen könnte, wenn die Regierung selbst Abolitionismus betreibt,
kann man im Norden Chicagos beobachten – zumindest im Kleinen. Dort, im 33.
Wahlbezirk, wo rund 55.000 Menschen leben, wurde 2019 die Kommunistin
Rossana Rodriguez zur Stadträtin gewählt. Sie hatte sich in den Jahren
zuvor einen Namen als Community-Organizerin und Leiterin eines lokalen
Theaters gemacht. Um sich herum hat Rodriguez nun ein Team von Linken, das
auf unorthodoxe Weise den Bezirk führt.
„Wir leben in einer Strafgesellschaft“, sagt einer aus diesem Team, Eric
Ramos, „und da kommen wir nur dialektisch raus.“ Heißt: Schritt für Schri…
aus der alten Welt das Neue entwickeln.
Der 33-jährige Ramos ist seit Herbst Superintendent des Bezirks, eine Art
Hausmeister für alle also. Früher war diese Position Prestige, erzählt er.
Heutzutage weiß kaum noch jemand, dass es sie gibt. Ramos, der zuvor als
Stahlbauarbeiter arbeitete, interpretiert den Job des Superintendenten
anders als seine Vorgänger: aktiver, sorgender, politischer.
## Ramos ist der Staat
Zu seiner Arbeit gehört einerseits Bürokratie, zum Beispiel vermittelt
Ramos zwischen Behörden wie der Müllabfuhr und dem Schneedienst. Der andere
Teil seiner Arbeit ist eine Form von Beziehungsarbeit. Ramos fährt mit
seinem weißen Truck durch den 33. Bezirk und schaut, wo er versöhnend
eingreifen kann, ohne dass die Polizei eingeschaltet wird. Er kümmert sich,
wenn Nachbarn heftig streiten, versucht die Rechte von Mieter*innen
durchzusetzen. Er besucht Häuserblocks, wenn es dort eine Schießerei gab,
um zu fragen, wie es den Leuten geht. Und er wird irritiert angeschaut,
wenn er das tut. Von der Verwaltung sind sie so etwas nicht gewöhnt.
Besonders wichtig ist Ramos der Kontakt zu den obdachlosen Menschen in
seinem Bezirk. „Wer auf der Straße lebt, wird kriminalisiert“, sagt er.
„Nach dem Gesetz darf es obdachlose Menschen gar nicht geben.“ Als im
Februar ein junger, wohnungsloser Mann namens Russell starb, fand Ramos in
dessen Handy, das er ihm besorgt hatte, nur einen gespeicherten Kontakt:
„Es war meine Nummer.“
Man könnte nun einwenden, dass Ramos das macht, was unzählige Ehrenamtliche
auch machen. Sie helfen, wo der Staat versagt. Was also ist hier besonders?
Der Unterschied liegt darin, dass Ramos gerade der Staat ist.
Als Teil der Bezirksverwaltung steht sein Job unter demokratischer
Kontrolle, er wird vernünftig bezahlt und ist weder von Einzelspenden
noch von Fördergeldern abhängig. In dieser Position, vor allem wie Ramos
sie interpretiert, zeigt sich also nicht weniger als eine neue Idee von
Staat. Weg von einer Politik des Kontrollierens und Bestrafens, die die USA
schon so lange prägt. Hin zu einer Politik, die Gewalt tatsächlich ernst
nimmt.
Genau in diese Richtung will Bürgermeisterkandidat Johnson nun mit der
ganzen Stadt. Beim Forum zur öffentlichen Sicherheit vor ein paar Wochen
versprach er, Chicago zum Vorreiter zu machen – und definierte damit gleich
mal die Fallhöhe. „Wenn wir das hier in Chicago schaffen“, so Johnson,
„schaffen wir es überall.“
4 Apr 2023
## LINKS
[1] /Shooting-Epidemic-in-den-USA/!5814293
## AUTOREN
Lukas Hermsmeier
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