# taz.de -- „Shooting Epidemic“ in den USA: Schüsse, Schuld und Sühne | |
> In Philadelphia setzt ein Staatsanwalt auf Prävention statt auf Haft. | |
> Doch die Zahl der Schießereien steigt drastisch. Sind seine Reformen | |
> gescheitert? | |
Wenn Larry Krasner auf seine erste Amtszeit als leitender Staatsanwalt von | |
Philadelphia zurückblickt, klingt Stolz in seiner Stimme durch. „Wir haben | |
die Zahl der Gefängnisjahre, die in Philadelphia als Strafe verhängt | |
wurden, halbiert“, sagt er und lehnt sich in seinem Büro in einem blauen | |
Ledersessel zurück. | |
Mit diesem Vorhaben war er vor vier Jahren angetreten, als er District | |
Attorney werden wollte, der oberste kommunale Staatsanwalt der | |
1,6-Millionen-Stadt im Nordosten der USA. Krasner versprach, unschuldig | |
Verurteilte aus den Gefängnissen zu holen, bei Sexarbeit und kleineren | |
Drogendelikten keine Anklage mehr anzustreben und die Zahl der vor Gericht | |
geforderten Haftjahre stark zu reduzieren. Der Fokus müsse auf Prävention | |
und Rehabilitation liegen, nicht auf Bestrafung. | |
Der District Attorney wird direkt von der Bevölkerung gewählt. Larry | |
Krasner kandidierte 2017 als Außenseiter, unterstützt von mehreren | |
Graswurzelbewegungen, aber nicht vom Establishment der Demokratischen | |
Partei, die in Philadelphia politisch dominiert. Zuvor hatte er drei | |
Jahrzehnte als Anwalt gearbeitet, politische Aktivisten vertreten und die | |
Polizei von Philadelphia 75-mal wegen der Verletzung von Bürgerrechten | |
verklagt. | |
Kaum im Amt, feuerte Krasner 30 Staatsanwälte, die seinen neuen Kurs nicht | |
mittragen wollten. Er legte sich mit der Polizeigewerkschaft an und klagte | |
in diesem Sommer drei Polizisten an, die mit Falschaussagen dafür gesorgt | |
hatten, dass ein unschuldiger Mann 25 Jahre im Gefängnis saß. | |
Durch Krasners Amtsantritt ist Philadelphia zu einem Kampfplatz geworden, | |
auf dem darum gerungen wird, mit Justizreformen die Gesellschaft der USA zu | |
verändern – Reformen, die vor allem darauf abzielen, das System der | |
Masseninhaftierungen zu beenden: In den USA sitzen so viele Menschen im | |
Gefängnis wie in keinem anderen Land der Welt, in absoluten Zahlen und auch | |
pro Einwohner. | |
Vor allem in den großen Städten wächst die Überzeugung, dass es so nicht | |
weitergeht. Als ein Hebel für Veränderungen nutzen Reformbefürworter Wahlen | |
der Staatsanwälte. Auch in Chicago, San Francisco und Brooklyn wurden in | |
den vergangenen Jahren progressive Kandidaten zu District Attorneys | |
gewählt. „Die Graswurzelbewegung für Justizreformen ist die wichtigste | |
Bürgerrechtsbewegung unserer Zeit. Und ich bin nur einer ihrer vielen | |
Techniker“, sagt Larry Krasner. | |
Anfang November wurde er mit 69 Prozent der Stimmen für eine zweite | |
Amtszeit gewählt. Doch seine Reformen werden überschattet von einer | |
shooting epidemic, einer Epidemie der Schießereien: Wie in allen | |
Großstädten der USA ist seit Beginn der Coronapandemie auch in Philadelphia | |
die Zahl der Morde stark gestiegen. 499 Menschen wurden hier 2020 durch | |
Mord oder Totschlag getötet, 40 Prozent mehr als im Vorjahr. In diesem Jahr | |
zählte man bis Mitte November bereits mehr als 470 Tote. Philadelphia steht | |
vor dem blutigsten Jahr seiner jüngeren Geschichte. | |
Woher kommt diese Explosion der Gewalt? Und was bedeutet sie für die | |
Justizreformen und den Versuch, das System der Masseninhaftierungen zu | |
überwinden? In der Stadt hört man sehr unterschiedliche Antworten auf diese | |
Fragen. | |
„Da schießen Kids aufeinander, die einen Streit aus den sozialen Medien auf | |
die Straße tragen“, sagt Ikey Raw. Durch seine rechte Augenbraue verläuft | |
eine Narbe, sein langer Bart ist grau, die schwarze Baseballkappe trägt er | |
verkehrt herum. 44 Jahre ist er alt. | |
Raw ist so etwas wie eine Ein-Mann-NGO, „Mann des Volkes“ nennt er sich. | |
Auf Facebook und Instagram betreibt er die Seite [1][„Unsolved Murders in | |
Philly“]: Familien, die Angehörige bei einem Verbrechen verloren haben, das | |
nicht aufgeklärt wurde, können sich an ihn wenden. Er postet | |
Fernsehausschnitte über die Fälle, trägt Informationen zusammen, erinnert | |
mit Bildern der Toten an sie und nimmt Videos von sich auf, in denen er die | |
Schießereien wütend und wortreich verdammt. | |
Er habe seiner Community früher geschadet, jetzt wolle er ihr helfen, sagt | |
Raw. „Ich habe gedealt. Auf mich wurde geschossen. Ich habe auf andere | |
geschossen.“ Die Straße habe ihre eigenen Regeln, sagt er. Aber heute gebe | |
es eine neue Art der Gewalt, befeuert durch den Austausch in den sozialen | |
Medien. Aufgewachsen ist er mit einer Mutter, die cracksüchtig war. Der | |
Vater hatte die Familie früh verlassen. „Meine Geschwister und ich wussten | |
oft nicht, ob es am nächsten Tag was zu essen gibt.“ | |
Mit elf rauchte Raw das erste Mal Marihuana, seine Cousins engagierten ihn | |
für ihre Drogengeschäfte. Seine Schicht ging nach der Schule los, von drei | |
Uhr nachmittags bis elf Uhr abends. „Ich stand an der Ecke und sollte | |
warnen, wenn die Cops kämen. 500 Dollar pro Woche habe ich dafür gekriegt.“ | |
13 Jahre lang war er immer wieder im Gefängnis, mal raus, dann wieder rein. | |
Seine letzte Haftstrafe endete 2012. Da war er verheiratet und hatte zwei | |
kleine Kinder. „Als Familienvater aus dem Gefängnis zu Hause anzurufen, | |
war etwas ganz anderes, als früher bei meiner Mutter oder Schwester | |
anzurufen.“ Er entschied, dass mit „der Straße“ Schluss sein musste. | |
Für das Gespräch hat er eine leere Tribüne am Rand eines Footballfelds im | |
Norden Philadelphias vorgeschlagen. Die Gegend sei sicher, seine Kinder | |
gingen in der Nähe zur Schule, sagt er. Die Gewalt ist in der Stadt | |
ungleich verteilt, es gibt Viertel, in denen es seit Jahrzehnten keine | |
Morde gab. Die Stadtverwaltung hat eine [2][Karte ins Netz] gestellt, auf | |
der die Verteilung abgebildet ist. Gelbe Punkte für nicht tödliche | |
Schießereien, rote für tödliche. Viele Punkte ballen sich in besonders | |
armen Gegenden nördlich und westlich des Stadtzentrums. Philadelphia ist | |
die ärmste Millionenmetropole der USA. Fast ein Viertel der Einwohner lebt | |
unter der Armutsgrenze. | |
Zu viele Waffen auf den Straßen und Teenager, die damit als harte Gangster | |
in sozialen Netzwerken posen, ergeben eine tödliche Mischung, sagt Raw. | |
Natürlich gebe es nach wie vor auch die Schießereien der Gangs, die um ihre | |
Drogengeschäfte kämpften, „die gab es in Philly immer“. Die Drogen seien | |
aber nicht entscheidend für den Anstieg der Mordrate. | |
## Die Rolle der sozialen Medien | |
In sozialen Netzwerken würden Teenager sich bedrohen und beleidigen, in | |
Rapvideos auf Youtube sich gegenseitig fertigmachen – und dieser Streit | |
ende immer öfter tödlich. Auf seinem Handy hat Raw fünf Bilder gespeichert | |
von Jungen unter 18, die vergangenes Jahr erschossen wurden. Alle hatten | |
zuvor in sozialen Medien mit Waffen posiert, der jüngste von ihnen war elf. | |
Ikey Raw schüttelt den Kopf. Er beschäftigt sich jeden Tag mit dieser neuen | |
Gewalt, wirklich verstehen kann er sie nicht. | |
Im Netz ruft er dazu auf, dass alle, die Hinweise zur Aufklärung eines | |
Mordes geben können, sich damit an die Polizei wenden. Denn ein weiterer | |
Grund für die sich immer weiterdrehende Gewaltspirale ist, dass die | |
Mehrheit der tödlichen Schießereien nie aufgeklärt wird. „Oft weiß jemand | |
in der Community, wer geschossen hat“, sagt Raw. „Die Leute reden nur nicht | |
mit der Polizei.“ Es gilt: No snitching – kein Verpfeifen. „Doch man | |
verpfeift niemanden, wenn man als Zeuge etwas sieht. Verpfeifen wäre es | |
nur, wenn ich in einer Gang jemand an die Cops auslieferte.“ | |
Aber die No-snitching-Regel habe sich in der schwarzen Community leider | |
verselbstständigt. Anfang Oktober hat eine Mutter der Polizei ihren | |
15-jährigen Sohn übergeben, der auf jemanden geschossen hatte. Als Raw ein | |
Nachrichtenvideo dazu postete, sammelten sich darunter entsetzte | |
Kommentare: „Da schrieben Menschen, die sonst immer rufen, wir müssten auf | |
unsere Kinder aufpassen: ‚Wie kann sie das tun? Sie hat ihr Kind dem System | |
ausgeliefert, dem weißen Mann.‘ “ | |
Raw schüttelt wieder den Kopf. Er ist immer noch fassungslos: „Da war eine | |
Mutter, die Verantwortung übernommen hat. Wenn ihr Sohn auf der Straße | |
bliebe, wäre er der Nächste, auf den geschossen würde.“ Viele Morde sind | |
Vergeltungsaktionen. In einer [3][Studie aus Chicago] zeigten Kriminologen, | |
dass eine Schießerei meist zwischen drei und 60 Folgetaten auslöst, | |
manchmal sogar bis zu 500. | |
In Philadelphia sind 85 Prozent der Toten schwarz, erschossen meist von | |
anderen Schwarzen. „Wie können wir ‚Black lives matter!‘ rufen, wenn | |
schwarze Leben für uns nicht zählen?“, fragt Raw. Die | |
Black-Lives-Matter-Aktivisten hier interessierten sich nur für tote | |
Schwarze, die von weißen Polizisten getötet worden seien, sagt er. „Zeig | |
mir mal die großen Demos, wenn Schwarze Schwarze umbringen! Ich würde da | |
gern dieselbe Energie sehen.“ | |
Er konzentriere sich mit seiner Arbeit auf seine Community. Nur sie könne | |
das Problem wirklich lösen. Das könnte nicht allein die Polizei, nicht der | |
Bürgermeister – und auch nicht Staatsanwalt Larry Krasner mit seinen | |
Justizreformen. | |
Krasner arbeitet in einem Hochhaus mitten im Stadtzentrum, aus den Fenstern | |
im 18. Stock blickt man auf das Rathaus hinunter. An einer Wand hat Krasner | |
Bilder von Martin Luther King und Rosa Parks aufgehängt. Beide mit | |
Verhaftungsnummer, es sind Polizeifotos aus den 1950er Jahren. King und | |
Parks wurden damals nach friedlichen Protesten festgesetzt. Die Bilder | |
erinnern an die schwarze Bürgerrechtsbewegung, den Kampf für gleiche Rechte | |
und daran, dass Gesetze manchmal der Gerechtigkeit im Weg stehen. | |
„Ich bin arm aufgewachsen, das hat mich sensibel dafür gemacht, wie arme | |
Menschen und Minderheiten behandelt werden“, sagt Krasner. Auch wenn er, | |
wie er in einem Podcast scherzte, heute aussehe wie der kleine Bruder von | |
George W. Bush. Krasner trägt einen blauen Anzug mit Krawatte und eine | |
Brille mit Schildpattgestell, 60 Jahre ist er alt. | |
Er arbeitete lange als Pflichtverteidiger. Tag für Tag in Gerichtssälen | |
stehen, Tag für Tag Menschen in Gefängnissen besuchen – da sei es unmöglich | |
zu übersehen, dass „in den Zellen Klient für Klient für Klient pleite ist | |
und braun oder schwarz“. Die Bestrafung der Armut und den Rassismus des | |
Justizsystems könne niemand bestreiten, der hinschaue. | |
1987 begann Krasner seine Anwaltskarriere, etwa zur gleichen Zeit begannen | |
die Masseninhaftierungen in den USA. Mit Beginn der 80er Jahre und dem | |
„Krieg gegen die Drogen“ wurden immer mehr Gesetze mit langen | |
Mindesthaftstrafen verabschiedet. Sie ließen Richtern praktisch keinen | |
Spielraum mehr, mildernde Umstände zu berücksichtigen. Die wirkliche Macht | |
lag nun bei den Staatsanwälten, die entscheiden konnten, welche Verbrechen | |
sie anklagten und nach welchen Gesetzen sie welche Strafen forderten. | |
Die Gefängnisse füllten sich, weil es für viel mehr Vergehen Haftstrafen | |
gab und diese immer länger wurden. Pennsylvania hat diese Entwicklung voll | |
mitgemacht. In den Gefängnissen des Bundesstaates mit seinen rund 13 | |
Millionen Einwohnern verbüßen heute allein 5.200 Menschen eine lebenslange | |
Haftstrafe ohne eine Bewährungsmöglichkeit. Von [4][„Tod durch | |
Inhaftierung]“ sprechen Bürgerrechtsorganisationen. Zum Vergleich: In | |
deutschen Gefängnissen saßen 2020 rund 2.400 zu „lebenslänglich“ | |
Verurteilte, von denen aber die meisten nach spätestens 15 Jahren wieder | |
freikommen. | |
## Die Ungerechtigkeit des Justizsystems | |
Nach Jahrzehnten als Anwalt, erzählt Krasner, habe er zwar das Gefühl | |
gehabt, in Einzelfällen Gutes bewirkt zu haben – aber an der | |
Ungerechtigkeit des Systems insgesamt habe er nichts geändert. Er entschied | |
sich zu versuchen, es von innen zu verändern. Seine Behörde klage bei Mord | |
oder Vergewaltigung weiter hart an, auch wenn sie nicht immer die maximal | |
mögliche Strafe fordere. Bei der Reduzierung der Haftstrafen gehe es ihm | |
aber vor allem um kleinere Vergehen. „Welchen Nutzen hat es für die | |
Gesellschaft, wenn ein Obdachloser, der zum dritten Mal Essen stiehlt, | |
dafür ins Gefängnis geht?“ Das Geld dafür sei besser in Hilfsprogramme und | |
Wohnungen investiert. | |
Krasner hat [5][eine neue Abteilung aufgebaut, die alte Fälle aufarbeitet], | |
bei denen es Indizien für Fehlurteile gibt. In 20 Fällen hat sie | |
Freisprüche erwirkt – für Menschen, von denen manche bis zu 30 Jahre | |
unschuldig im Gefängnis saßen. „Nenn mich verrückt“, sagt Krasner, „ab… | |
ich bin überzeugt, dass nur Schuldige im Gefängnis sein sollten. | |
Unschuldige nicht!“ | |
Dass häufig Unschuldige verurteilt werden, oft Schwarze, liege an | |
Polizeipräsidenten und Staatsanwälten, die mehr an ihrer politischen | |
Karriere interessiert seien als an der Wahrheit. Wenn man den tatsächlich | |
Schuldigen nicht kriege, werde schnell ein anderer präsentiert, nur um sich | |
in der Öffentlichkeit als erfolgreicher Verbrechensbekämpfer feiern lassen | |
zu können, sagt Krasner. Seine neue Abteilung soll Vorschläge machen, wie | |
solche Fälle in Zukunft verhindert werden können. | |
Fragt man den District Attorney nach den vielen Toten in seiner Stadt, | |
spricht er erst mal über die Kriminalitätsrate, die insgesamt gefallen ist. | |
Auch schwere Gewaltverbrechen wie Vergewaltigung und Raubüberfälle seien | |
weniger geworden, nur Schießereien eben nicht. Dann verweist er auf die | |
anderen Städte. Insgesamt sei die Mordrate in den US-Millionenstädten 2020 | |
um 42 Prozent gestiegen, Philadelphia sei mit 40 Prozent Anstieg | |
Durchschnitt. Auch sei die Zahl der Morde dort, wo es Justizreformen gebe, | |
ebenso gestiegen wie dort, wo weiter der Ansatz tough on crime mit harten | |
Strafen gelte. | |
„Dennoch ist der Anstieg schrecklich – und er ist schrecklich hoch“, sagt | |
Krasner. Dann spricht er über die Lockdowns während der Pandemie. „Es sind | |
vor allem junge Menschen, die aufeinander schießen. Und was ist mit ihrem | |
Leben passiert? Die Schulen wurden geschlossen, es gab keine | |
Ferienfreizeiten mehr, keinen organisierten Sport, keine Fitnessstudios, | |
keine öffentlichen Schwimmbäder.“ Die Struktur ihres Alltags sei komplett | |
zerstört worden. Dazu komme ein allgemeines Gefühl der Angst: „Wir haben | |
während der Pandemie einen enormen Anstieg der Schusswaffenkäufe gesehen – | |
in einem Land, das sowieso schon mehr Waffen als Menschen hat.“ | |
Betrachte man zudem den Einfluss der sozialen Medien, wo Bilder und Videos | |
der Schießereien ständig zirkulierten und neue Gewalt triggerten, habe man | |
einen Erklärungsansatz. „Die perfekte Antwort habe ich aber auch nicht“, | |
sagt Krasner. | |
Für seine Gegner ist die Sache hingegen klar. Es liege an den zu geringen | |
Haftstrafen und den zu weichen Deals, die Krasner anbiete – sprich, es | |
fehle die Abschreckung. Als Krasner im Mai dieses Jahres zu den Vorwahlen | |
für seine zweite Amtszeit antrat, unterstützte die Polizeigewerkschaft FOP | |
seinen Gegenkandidaten mit 25.000 Dollar Wahlkampfhilfe. Und parkte einen | |
Eiswagen vor Krasners Behörde, der kostenlos Softeis verteilte, weil der | |
District Attorney so soft on crime sei. Krasner konterte mit einem | |
Unterstützerzitat von Ben Cohen, dem Co-Gründer der Eisfirma Ben & Jerry’s. | |
Der lokale Fernsehsender [6][sprach vom „Eiscremekrieg von Philly“]. | |
Dass sich ein leitender Staatsanwalt mit der mächtigen Polizeigewerkschaft | |
anlegt, war neu. Aus politischen Gründen hatten sich Krasners Vorgänger mit | |
der FOP stets gut gestellt. Das Amt des District Attorney gilt als | |
möglicher Startpunkt einer politischen Karriere in Pennsylvania. Und um bei | |
einer Wahl zum Gouverneur oder Senator auch in den ländlichen Gebieten des | |
Bundesstaats mit ihrem hohen Anteil an Anhängern der Republikaner eine | |
Chance zu haben, braucht man die Unterstützung der Polizeigewerkschaft. | |
Krasner gewann die Vorwahlen trotz des Widerstands der Gewerkschaft mit | |
einer Zweidrittelmehrheit. Die FOP repräsentiere auch nicht die heutige | |
Polizei in Philadelphia, betont er. Diese sei mittlerweile viel diverser, | |
während zwei Drittel der Gewerkschaftsmitglieder im Ruhestand seien, die | |
allermeisten weiß und glühende Trump-Anhänger, hängen geblieben in einem | |
Früher, als Polizisten sich noch alles hätten erlauben können. So ist der | |
FOP-Vorsitzende von Philadelphia 2017 dadurch aufgefallen, dass er | |
Black-Lives-Matter-Aktivisten als ein „Rudel tollwütiger Tiere“ | |
bezeichnete. | |
Sein Verhältnis zu der aktuellen Polizeipräsidentin von Philadelphia sei | |
aber gut, versichert Krasner. „Wir sind uns in 80 Prozent der Dinge einig, | |
in 20 Prozent nicht.“ Als Teil seiner Reformen ließ er auch eine Datenbank | |
mit Informationen darüber anlegen, welchen Polizisten als Zeugen vor | |
Gericht nicht zu trauen sei. Und er wies seine Mitarbeiter an, diese | |
Informationen mit der Verteidigung zu teilen. | |
Das Police Department und die Polizeigewerkschaft FOP wollten der taz zu | |
den Justizreformen und den Schießereien kein Interview geben. Der | |
Pressesprecher der Gewerkschaft sagt, seine Leute würden meist als die | |
Bösen dargestellt, daran habe man kein Interesse. Dann will er doch nach | |
einem Gesprächspartner suchen, um kurz darauf endgültig abzusagen – leider | |
habe niemand Zeit. | |
Anders Chris Rabb. In seinem Büro springt er erst mal auf und läuft zu dem | |
Stadtplan an der Wand. Er fährt mit seinem Zeigefinger die Grenzen des hell | |
markierten Bereichs entlang: Es ist der Wahlkreis 200 für das | |
Abgeordnetenhaus von Pennsylvania, gelegen im Nordwesten von Philadelphia. | |
Sein Wahlkreis. „Wir haben hier alles: von sehr armen Menschen über | |
Arbeiter- und Mittelklasse bis zu extrem reichen“, sagt er. 77 Prozent der | |
Wähler sind Afroamerikaner wie er, es gibt eine zivilgesellschaftlich sehr | |
engagierte jüdische Community und viele lesbische Paare. | |
Wie ganz Philadelphia ist auch Rabbs Wahlkreis fest in der Hand der | |
Demokraten. 2016 schlug er die republikanische Konkurrentin mit 95 Prozent | |
der Stimmen, 2020 stellten die Republikaner gar keinen Gegenkandidaten mehr | |
auf. | |
Sein Wahlkreis ist von den Schießereien nicht so hart betroffen wie der | |
Nachbardistrikt Germantown. „Aber die Gewalt strahlt aus“, sagt er. In | |
Pennsylvanias Abgeordnetenhaus in Harrisburg sitzt Rabb im Justizkomitee. | |
Er unterstützt die Reformen von Larry Krasner. „ Tough on crime hat noch | |
nie funktioniert. Sonst müssten die USA mit ihren riesigen Gefängnissen das | |
sicherste Land der Welt sein – aber das sind wir offensichtlich nicht.“ | |
Die Verbindung von Gewalt und Armut sei offensichtlich, wenn man sich die | |
Orte der Schießereien anschaue. Und Armut gehe oft mit einer fehlenden | |
Verbindung zur Gesellschaft einher. „Wenn man das Gefühl hat, nirgends | |
dazuzugehören, sich selbst auch nicht als wertvolles menschliches Wesen | |
sieht, weil man nie so behandelt wurde, dann sind einem auch andere Leben | |
egal.“ | |
Aber es komme noch etwas anderes hinzu: die Angst der Schwarzen vor der | |
Polizei. Rabb wuchs in den 70er und 80er Jahren in einer | |
Mittelklassefamilie in Chicago auf. Sein Vater war Arzt, seine Mutter | |
arbeitete für den Bürgermeister. Und trotzdem: Wenn er als Teenager das | |
Haus verlassen habe, habe er Angst gehabt, von der Polizei kontrolliert zu | |
werden. „Ich habe heute als schwarzer Mann mit 51 Jahren immer noch Angst, | |
von Cops angehalten zu werden. Ich habe nicht Angst vor einem bestimmten | |
Officer, aber vor der Institution. Ein furchtbares Gefühl.“ Es gebe keine | |
Sicherheit für die ganze Gesellschaft, solange ein Teil von ihr der Polizei | |
nicht vertrauen könne. | |
## Die Interessen der Abgeordneten | |
Rabb beschäftigt sich viel mit Möglichkeiten für Reformen. In beiden | |
Kammern des Parlaments von Pennsylvania haben aber die Republikaner seit | |
über 30 Jahren die Mehrheit. Und sie treiben Rabb bei seiner Arbeit im | |
Justizkomitee zur Verzweiflung: „In den vergangenen Jahrzehnten hat | |
Pennsylvania 1.500 Gesetze gegen neue Straftaten geschaffen. Die meisten | |
sind so verfasst, dass sie arme Menschen bestrafen.“ | |
Schwarze und braune Menschen aus Philadelphia sind die größte Gruppe in | |
Pennsylvanias Gefängnissen. Viele sitzen ihre Strafen in Haftanstalten auf | |
dem Land ab. Chris Rabb sagt, die Abgeordneten dieser ländlichen Wahlkreise | |
verbänden mit der Masseninhaftierung konkrete Wirtschaftsinteressen. Für | |
arme Gegenden sei das Gefängnis oft der einzige große Arbeitgeber, es gebe | |
Familien, die dort in der dritten oder vierten Generation als Wärter | |
arbeiteten. „Sie hängen an diesen Jobs, auch wenn es eine psychologisch | |
sehr belastende Arbeit ist.“ Deshalb würden immer neue Gesetze geschaffen, | |
um den Strom der Häftlinge aus Philadelphia nicht abreißen zu lassen. | |
Rabbs Bilanz der vergangenen Jahre ist bitter. „Eine Mehrheit der | |
Bevölkerung möchte weg von den Masseninhaftierungen, das zeigen Umfragen. | |
Aber solange sie nicht wählen gehen und dieser Überzeugung entsprechend | |
auch abstimmen, spielt das keine Rolle.“ Es habe an den Rändern positive | |
Veränderungen gegeben. „Aber insgesamt gehen wir in Pennsylania weiter in | |
die falsche Richtung. Andere Bundesstaaten kriegen das besser hin.“ | |
Prävention ist das Wort, das man von Anhängern der Justizreformen immer | |
wieder hört, wenn es um die Gewalt unter Jugendlichen in Philadelphia geht. | |
Ein Projekt wird oft als gutes Beispiel genannt: Yeah Philly, ein | |
Jugendzentrum in einem der ärmsten Viertel im Westen der Stadt. | |
An diesem Donnerstagabend führt Kizzy, schwarzes Kopftuch, schwarze | |
Leggings, weißer Hoodie, eine kleine Runde durch das Wohnhaus, wo Yeah | |
Philly untergebracht ist. Im Keller bedruckt eine Gruppe Jungs an einer | |
Maschine T-Shirts, im Erdgeschoss hängen ein paar Jugendliche vor einem | |
Flatscreen, im ersten Stock zeigt Kizzy die Küche, auf der engen Treppe | |
rennt ständig jemand rauf oder runter. | |
Kizzy ist 20 Jahre alt, sie setzt sich an einen langen Holztisch mit ihrer | |
Freundin Yanae, 17 Jahre alt. Ihre Nachnamen wollen sie nicht öffentlich | |
machen. „Ich komme jeden Tag hierher“, sagt Kizzy. „Das ist ein zweites | |
Zuhause für mich.“ In ihrem ersten gebe es zu viel Ärger. Yanae nickt. Eine | |
Richterin schickte Kizzy zu Yeah Philly, als letzte Auflage vor dem | |
Jugendgefängnis. „Ich habe eine Oma geschubst“, erzählt sie etwas | |
zögerlich. Eigentlich habe sie mit einem blöden anderen Mädchen auf dessen | |
Veranda gekämpft, die Großmutter sei dazwischengegangen, und, na ja, die | |
sei dann gestürzt. Zuvor war sie wegen mehrerer Handgreiflichkeiten von | |
ihrer Schule geflogen. Mittlerweile mache sie so was aber nicht mehr, | |
versichert Kizzy. Nur an ihrer scharfen Zunge müsse sie noch arbeiten. | |
Kendra Van de Water hat Yeah Philly 2019 zusammen mit ihrem Freund | |
gegründet. Sie arbeitete damals für die Stadtverwaltung in | |
Gewaltpräventionsprojekten für junge Leute. „Da gab es unzählige | |
Treffen und Besprechungen, aber junge Leute wurden nie dazu eingeladen,“ | |
erzählt Van de Water, 34, am Telefon, weil sie gerade nicht in der Stadt | |
ist. „Den Jungen wurde nicht zugehört.“ Sie entschloss sich, es anders zu | |
machen. | |
Bei Yeah Philly wird ohne Druck gearbeitet. „Wir schmeißen niemanden raus, | |
auch wenn er wieder Drogen nimmt oder mit Pistole von der Polizei | |
aufgegriffen wird.“ Sie seien eines der wenigen Jugendprogramme, die Leute | |
mit Anklagen oder Bewährungsstrafen wegen Schusswaffengebrauchs aufnehmen, | |
sagt Van de Water. „Zu einem frühen Zeitpunkt kann man jungen Leuten noch | |
am besten helfen, ihren Weg aus dem System der Gewalt zu finden.“ | |
Wer zu Yeah Philly kommt, kriegt individuell abgestimmte Angebote, einen | |
Tutor, Gespräche mit Therapeuten, Workshops, aber vor allem auch Hilfe bei | |
den Basics: Van de Water und ihre Mitarbeiterinnen helfen den Jugendlichen, | |
ihre Geburtsurkunden zu beantragen, ihre Sozialversicherungsnummern, | |
Dokumente, die man für jede Bewerbung auf Jobs, für Wohnungen oder | |
weiterführende Schulen braucht. „Viele haben ihr Viertel oder die Stadt | |
noch nie verlassen“, erzählt sie. „Deshalb machen wir auch viele Ausflüge. | |
Neulich waren wir in den Bergen zelten.“ | |
Viele machten die Erfahrung, dass sich das erste Mal in ihrem Leben jemand | |
um sie kümmere. „Manche nennen mich Mom“, sagt Van de Water. | |
Yanae und Kizzy nicken, wenn man sie nach den vielen Schießereien fragt, | |
klar kennen sie welche, auf die geschossen worden sei – und welche, die | |
geschossen haben. „Das passiert hier ja jeden Tag“, sagt Yanae. Während der | |
Lockdowns hätte keiner gewusst, was man den ganzen Tag machen sollte, | |
erzählt Kizzy. „Dann war man zu Hause nur im Internet, hat dort gequatscht, | |
auf dieser App Clubhouse. Dann hat einer 'Pussy’ zu einem anderen gesagt, | |
und schon ging es los.“ | |
Yanae hat im Dezember einen engen Freund verloren, er wurde beim Essenholen | |
in einem Asia-Imbiss erschossen. „Es ist diese Mentalität der Jungs, die | |
schießen. Da kann man nicht viel tun“, sagt sie. | |
Kendra Van de Water glaubt, dass man doch viel tun kann. „Wir müssen die | |
Bekämpfung der Schießereien als einen Teil der gesamtgesellschaftlichen | |
Gesundheitsvorsorge sehen.“ Sie habe die Erfahrung gemacht, dass man in | |
wenigen Monaten mit gewalttätigen Jugendlichen große Fortschritte mache, | |
wenn man sie aus dem Netz von Armut, Frust und Gewalt befreien könne. Dafür | |
müssten aber genug Mittel zur Verfügung gestellt werden. Am Ende sei das | |
eine Frage des politischen Willens. | |
Mit ihren Jugendlichen hatte sie im März dafür demonstriert, dass der | |
Bürgermeister die Schießereien als stadtweiten Notstand einstuft. Das hätte | |
mehr Gelder und eine bessere Koordination der verschiedenen | |
Antigewaltprojekte bedeutet. | |
Der Bürgermeister hat das abgelehnt. | |
Diese Recherche wurde ermöglicht durch das Transatlantic Media Fellowship | |
der Heinrich-Böll-Stiftung, Washington, DC. | |
21 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/usolvedinphillywithikeyraw/ | |
[2] https://controller.phila.gov/philadelphia-audits/mapping-gun-violence/#/2021 | |
[3] https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/fullarticle/2594804 | |
[4] https://ccrjustice.org/home/press-center/press-releases/people-serving-deat… | |
[5] https://medium.com/philadelphia-justice/da-krasner-conviction-integrity-uni… | |
[6] https://www.nbcphiladelphia.com/news/local/ben-jerrys-founder-backs-larry-k… | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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