| # taz.de -- Ausstellung über Expressionistin: Intuitiv das Ganze erfasst | |
| > Mehr als Kandinskys Muse: Anhand ihrer Porträts zeichnet eine Ausstellung | |
| > in Hamburg die stilistische Entwicklung der Malerin Gabriele Münter nach. | |
| Bild: Schwarze Konturen: „Schlafendes Mädchen (braun, blau)“ von 1934 | |
| Sie hat unglaublich scharf hingesehen, die Malerin Gabriele Münter, als sie | |
| von 1898 bis 1900 mit ihrer Schwester durch den Süden der USA reiste, um | |
| ausgewanderte Verwandte zu besuchen. Wobei das Besondere und Emanzipierte | |
| nicht nur die Reise selbst war; möglich aufgrund des elterlichen Erbes, so | |
| wie Münters unabhängiges Künstlerinnenleben insgesamt. | |
| Künstlerisch wichtig war daran auch, dass sie die Fotografie entdeckte, | |
| dort schon viel weiter verbreitet als in Europa. Münter nutzte die Kamera, | |
| die ihr Verwandte geschenkt hatten, hoch professionell: Über 400 Aufnahmen | |
| hat sie gemacht, von denen einige – bis heute selten gezeigt – nun in | |
| Hamburg zu sehen sind. Was sie fotografierte? Menschen in deren Umgebung: | |
| auf einer Wiese, im Zimmer, auf der Straße. Und was zunächst nach | |
| touristischen Gruppenfotos aussieht, entpuppt sich als [1][Spiegel | |
| zwischenmenschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse]. | |
| Das fängt damit an, das die Frauen mit streng zurückgezwungenen Haaren, | |
| hochgeschlossen Blusen und langen Röcken erscheinen, wie man sie | |
| Pfingstlern und anderen Erweckungsbewegungen zuschreibt, die unter | |
| deutschen Auswanderern des 19. Jahrhunderts verbreitet waren. Es geht damit | |
| weiter, dass die Kamera wie zufällig den gewölbten Bauch einer jungen, | |
| vermutlich schwangeren Frau fokussiert. Der Leib einer gestrengen Alten auf | |
| einem anderen Gruppenfoto ist ähnlich gewölbt – Relikt etlicher Geburten? | |
| Die jüngere Frau daneben trägt als einzige kein Korsett, sondern ein | |
| verdächtig weites Gewand. Und das kleine Mädchen an ihrer Seite schaut | |
| eingeschüchtert auf den Bauch der Alten, als ahne es, dass auch ihr mal die | |
| Rolle der Gebärerin zufallen wird. | |
| ## Neugierig, nicht voyeuristisch | |
| Auf anderen Fotos reiten Männer oder lungern entspannt auf Bänken herum. | |
| „Willie“ kippelt mit dem Stuhl – eine Szene, die Münter auch gezeichnet | |
| hat: aus der Perspektive eines Kindes, dem Willies Beine riesengroß | |
| erscheinen. Anderswo durchschneidet eine Frauengruppe im Gänsemarsch | |
| diagonal das Bild; sie laufen auf ein Ausflugsschiff zu wie auf ein | |
| unabwendbares Schicksal, keine tanzt aus der Reihe. Kommentare Münters zum | |
| eng gerahmten Leben dieser Frauen sind nicht überliefert. Vorurteilsfrei | |
| hat sie vielmehr fotografiert, was sie vorfand: weiße und schwarze | |
| Erwachsene und Kinder, neugierig, aber nie voyeuristisch. | |
| Das gilt auch für ihre gezeichneten Porträts, die zu ihren stärksten | |
| Arbeiten zählen. Eine Wand mit 20 von ihr selbst kommentierten Porträts | |
| zählt zu den Höhepunkten der [2][Ausstellung „Gabriele Münter. | |
| Menschenbilder“]. Linien umreißen Raum, modellieren ein Gesicht aus dem | |
| Weiß – und lassen es, wenn genug angedeutet ist, wieder zurücksinken: Da | |
| genügt es, wenn vom „Lesenden Dichter“ nur der halbe Kopf und die Hände | |
| erscheinen, sofort erfasst man das selbstzufriedene Lächeln und das | |
| selbstverliebte Gestikulieren eines Narziss, der immer neu entzückt ist von | |
| sich selbst. | |
| Scharf beobachtet auch die einen Brief lesende rauchende Frau – ein schon | |
| im 17. Jahrhundert gemaltes Sujet, damals ohne Zigarette. Genau die aber | |
| macht Münters Modell zu einer emanzipierten Frau der 1920er-Jahre – | |
| eigentlich. Denn man spürt auch die angestrengt hinarrangierte Haltung, mit | |
| der die Porträtierte dem Klischee zu entsprechen sucht. „Ich habe die | |
| Aufgabe niemals darin gesehen, ‚den Menschen unserer Zeit‘ zu malen“schri… | |
| Münter. „Nirgends habe ich jemanden gefunden, der mir als Typus des | |
| Heutigen gegolten hätte.“ Und sie sei nicht gewillt, „einem Vorurteil | |
| zuliebe alle gleich zu frisieren“. | |
| Die Zeichnung blieb Münters Elixier, auch später, als sie neue Maltechniken | |
| lernte – in einer Privatakademie, weil Frauen hierzulande erst ab 1919 | |
| staatliche Kunstakademien besuchen durften. Ob Landschaften oder Porträts, | |
| zunächst spätimpressionistisch, später expressionistisch, nur selten | |
| neosachlich: Fast immer hat sie zuerst gezeichnet und die Bilder danach um | |
| Farbe bereichert. | |
| Nicht nur Gesichter erfasste sie intuitiv als Ganzes, auch Szenen wie den | |
| „Mann im Sessel (Paul Klee)“ malte sie als Komposition aus Formen, | |
| gleichberechtigt nebeneinander stehend. So ist der Kopf des Mannes kaum von | |
| den Bildern an der Wand des gemalten Raums zu unterscheiden; das gemalte | |
| eckige Konterfei wird selbst zum Gemälde. | |
| Völlig zu Recht gilt Münter neben [3][Paula Modersohn-Becker] als | |
| bedeutendste deutsche Expressionistin. Sie war kein so passives Anhängsel | |
| wie oft kolportiert: Während der Zeit im oberbayerischen Murnau mit | |
| Wassiliy Kandinsky – dessen Geliebte sie von 1903 bis 1916 war –, Alexej | |
| Jawlensky und Marianne von Werefkin war sie Mitbegründerin der Neuen | |
| Münchner Künstlervereinigung und des Blauen Reiters. Früher als andere | |
| entdeckte sie die bayerische Hinterglasmalerei und integrierte deren | |
| schwarze Konturen in ihre Bilder. Wie anderswo etwa die „afrikanische“ | |
| Kunst, symbolisierte auch die bayerische Volkskunst die „Ursprünglichkeit“, | |
| nach der viele Expressionisten suchten. | |
| ## Ambivalent im NS-Staat agiert | |
| Recht flüchtig gehen Ausstellung und Katalog indes über Münters | |
| ambivalentes Agieren im NS-Staat hinweg. Dabei trat sie 1934 der | |
| Reichskammer der bildenden Künste bei und eröffnete 1935 eine | |
| Wanderausstellung. Auch steuerte sie, dem Vernehmen nach „auf Anraten“ | |
| ihres neuen Lebenspartners Johannes Eichner, mehrere Gemälde zur | |
| Ausstellung „Die Straßen Adolf Hitlers in der Kunst“ bei. | |
| In diesen Kontext passt das in Hamburg präsentierte, sehr gegenständliche | |
| Porträt der „urdeutsch“ wirkenden Käte Wölfel mit brav geflochtenen Zöp… | |
| von 1940. Nach dem Besuch der Ausstellung „Entartete Kunst“ dann stellte | |
| Münter bis 1949 nicht mehr aus – und versteckte stattdessen Arbeiten des | |
| „Blauen Reiters“. | |
| 22 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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