# taz.de -- Die Brüche zweier Weltkriege: Eine, die sich den Farben hingab | |
> Eine Retrospektive in Hannover widmet sich dem Gesamtwerk der Künstlerin | |
> Gabriele Münter. | |
Bild: Winterlandschaft. | |
Sie soll in Düsseldorf mit dem Fahrrad unterwegs gewesen sein – in Hosen. | |
Für eine Frau war das Ende des 19. Jahrhunderts nicht selbstverständlich. | |
Ebenso wenig wie die künstlerische Entwicklung von Gabriele Münter | |
(1877-1962). Sie fing früh an zu zeichnen, zog für ihre Ausbildung als | |
20-Jährige von Koblenz nach Düsseldorf – weit weg von ihrer Familie. Ein | |
Jahr später brach sie zu einer zweijährigen Amerikareise auf, nur in | |
Begleitung ihrer älteren Schwester. Münters früh verstorbene Eltern kamen | |
von dort, Verwandte und Kontakte gab es noch. Während der Reise entstanden | |
viele Skizzen und auch Fotografien. Münter nutzte sowohl die Zeichnung als | |
auch die Fotografie für Vorstudien ihrer Gemälde und Druckgrafiken. | |
Die Stiftung Ahlers Pro Arte widmet sich in der Retrospektive „Kontur, | |
Farbe, Licht: Das Wesentliche zeigen“ Münters Gesamtwerk, von ihrer | |
experimentellen Münchner Zeit über ihre Zeit im Exil bis hin zum Spätwerk. | |
Die Stiftung zeigte in Hannover bereits 2008 in der Ausstellung „Gabriele | |
Münter: Die Jahre mit Kandinsky – Bilder und Fotografien“ die fotografische | |
Seite der in Berlin geborenen Künstlerin. | |
Nun hat Ahlers Pro Arte 100 Werke Münters zusammengetragen, davon 50 | |
Ölgemälde. Die privat finanzierte Ausstellung ist auch eine Hommage an den | |
2013 plötzlich verstorbenen Stiftungsgründer Jan Ahlers. Er begegnete | |
Münter als junger Sammler und pflegte einen freundschaftlichen Kontakt mit | |
ihr. Eine Hälfte der gezeigten Werke stammt direkt aus der Sammlung Ahlers, | |
die andere von 20 Leihgebern. Desweiteren geben Postkarten und andere | |
persönliche Gegenstände, auch von der Gabriele Münter- und Johannes | |
Eichner-Stiftung, einen Einblick in diese Zeit des deutschen | |
Expressionismus. | |
Aus Amerika zurück ging Münter nach München und landete 1901 – für eine | |
akademische Kunstausbildung waren Frauen nicht zugelassen – schließlich an | |
der Kunstschule „Phalanx“. Diese hatte Wassily Kandinsky mitbegründet. In | |
der Malklasse von Kandinsky begegnete die 24-Jährige der Farbe und lernte | |
die Freilichtmalerei kennen, die er mit seinen Schülern in der bergigen | |
Seenlandschaft rund um Kochel am See pflegte. Ihre Sehweise und die | |
Flächenaufteilung hatte Münter schon durch das Zeichnen und Fotografieren | |
trainiert, nun konnte sie sich der Wirkung der Farben hingeben, gut bereits | |
zu sehen in „Ansicht bei Murnau“ (1903-1905). Kandinsky schrieb ihr: „Du | |
bist hoffnungslos als Schüler – man kann dir nichts beibringen“ und weiter: | |
„Du hast alles von Natur“. Münter verlobte sich 1903 mit ihm, weil | |
Kandinsky noch nicht geschieden war, allerdings nur heimlich. Sie lebte mit | |
ihm bis zu ihrer Trennung 1914 – unverheiratet – zusammen. | |
Münter und Kandinsky reisten viel, nach Holland, Tunesien, Italien. Es | |
entstanden erste kleine, pastose und naturalistische Ölgemälde im Stil der | |
Spätimpressionisten, wie „Hafen von Rapallo“ (1906). Dann folgte ein | |
besonders für Münter intensiver Aufenthalt des Paares in Paris. Sechs | |
Gemälde, darunter „Saint-Cloud“ (1906/07), stellte sie 1907 im Salon des | |
Indépendants aus. | |
Von ihren vielen Druckgrafiken zeigte sie im gleichen Jahr sechs auf dem | |
Salon d’Automne. Anhand von drei farbigen Handdrucken von „Kandinsky“ | |
(1906) wird sichtbar, inwieweit Münter das Porträt auf Linoleum weiter | |
überarbeitete. Außerdem kam sie in Paris mit dem Fauvismus und seinen | |
leuchtenden Farben in Berührung. Sie lernte mit der Gewichtigkeit der | |
Farben zu spielen, wie in dem mit großzügigem Pinselstrich entstandenen | |
Porträt „Kopf eines alten Mannes, Paris“ (1906). | |
Während eines längeren Aufenthalts im oberbayerischen Murnau am Staffelsee | |
mit dem befreundeten Künstlerpaar Alexej von Jawlensky und Marianne | |
Werefkin verfeinerte und abstrahierte Münter 1908 ihre Malweise. Sie malte | |
flächiger und experimentierte mit kräftigen Farben, die sie durch dumpfe | |
Mischfarben flankierte. Ganz in der Tradition der von ihr geschätzten und | |
gesammelten Murnauer Hinterglasmalerei setzte sie dunkle Trennlinien | |
zwischen die Farbflächen. | |
1909 kaufte sie Kandinskys „Traumhaus“ in Murnau. Dorthin lud Münter | |
Künstler und Sammler ein, auch war die Zeit von den Ausstellungen und ihrem | |
Mitwirken in der Redaktionsgruppe des Kunst-Almanachs „Der Blaue Reiter“ | |
geprägt. Es entstehen wegweisende Gemälde wie „Seelandschaft mit drei | |
Kugelbäumen“ (um 1909), „Winterlandschaft“ (1909), „Wind und Wolken“… | |
oder „Das gelbe Haus“ (1911). Kandinsky begann zu dieser Zeit mit seinen | |
ersten abstrakten Arbeiten. Münter hingegen zog die Abstraktion dem | |
Figürlichen vor, auch wenn sie etwa mit „Stillleben mit Vase Nr.2“ (1914) | |
Werke schuf, die rein aus Farbflächen bestehen. | |
1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, flohen Münter und Kandinsky über | |
die Schweiz. Während der Künstler in seine Heimatstadt Moskau zurückkehrte, | |
reiste Münter ins neutrale Schweden. Nur einmal noch besuchte Kandinsky | |
1915 seine Lebensgefährtin in Stockholm. | |
Münter fand in Schweden Anschluss an die örtliche Kunstszene und lernte | |
Schüler des französischen Malers Henri Matisse kennen. Als Mitglied der | |
Redaktionsgemeinschaft „Der Blaue Reiter“ erhielt sie schnell | |
Ausstellungsmöglichkeiten, auch später in Kopenhagen. Die Arbeiten der Zeit | |
sind Radierungen, „Suchende“ (1916) oder „Kinderwagen“ (1916), und flä… | |
Blumenstillleben in Öl, „Blumenstillleben“ (1916). | |
Als Münter Anfang 1920 nach Deutschland zurückkehrte und erfuhr, dass | |
Kandinsky inzwischen geheiratet hatte, reiste sie zwischen Berlin, München, | |
Murnau und Köln hin und her, ohne festes Atelier. Der Stil ihrer | |
Zeichnungen und Gemälde ist ähnlich unstet. So schuf sie unter dem Einfluss | |
des Berliner Kunstlebens um 1925 eine Reihe mit Nähe zur Neuen | |
Sachlichkeit, wie „Röschen“ (um 1926). | |
Nach einem erneuten Parisaufenthalt, 1929, und dem Kennenlernen ihres neuen | |
Lebensgefährten Johannes Eichner entdeckte sie die Malerei wieder für sich. | |
In ihrem neuen-alten Domizil in Murnau entstehen mehr als 600 Arbeiten: | |
Landschaften, wie „Häuser im Schnee“ (1933) und Stillleben, wie „Puppe, | |
Katze, Kind“ (um 1937), die an die erste Murnauer Zeit anknüpfen. Während | |
des Nationalsozialismus erhielt Münter Ausstellungsverbot. Nach dem Zweiten | |
Weltkrieg malte sie, um von den Verkäufen leben zu können. Später verhalf | |
Eichner, er war Kunsthistoriker, dem Werk seiner Lebensgefährtin mit | |
Ausstellungen und Publikationen zu Geltung. | |
Münter hat, wie in der Ausstellung sichtbar wird, eine eigenständige | |
stilistische Entwicklung verfolgt, unabhängig von Kandinsky oder dem | |
„Blauen Reiter“. In ihren Werken zeigt sich ihr offenes Wesen und der | |
Spannungsbogen zwischen förderndem Elternhaus, Ausbildung und | |
Künstlerfreundschaften, aber auch den Brüchen zweier Weltkriege. | |
www.ahlers-proarte.com/home | |
15 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Beate Barrein | |
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