# taz.de -- Dokumentarfilm „Liebe Angst“: Überlebt und doch gebrochen | |
> In dem Film „Liebe Angst“ erzählt Sandra Prechtel von einer | |
> Mutter-Tochter-Beziehung, die von einer traumatischen Erfahrung im | |
> Holocaust geprägt ist. | |
Bild: Komplexe Beziehung: Kim Seligsohn und ihre Mutter Lore Kübler in einer S… | |
„Dein Leben ist eine dauernde Flucht vor dem, was schon passiert ist!“ Das | |
sagt Kim Seligsohn zu ihrer Mutter Lore Kübler, und dieser Satz ist | |
grausam, gerade weil er so hellsichtig ist. Als Sechsjährige wurde Lore | |
Kübler auf einem Berliner Dachboden versteckt, nachdem ihre Mutter Marianne | |
Seligsohn als Jüdin verhaftet und nach Theresienstadt deportiert worden | |
war. | |
Dieses Trauma beherrschte danach nicht nur Küblers eigenes Leben, sondern | |
auch das ihrer Kinder. Sie selbst wurde eine antifaschistische Aktivistin, | |
und da war kein Platz für den Sohn und die Tochter, die sie in den | |
1960er-Jahren bekam. | |
Wenn die Tochter der Mutter ein altes Familienfoto zeigt, erkennt diese | |
nicht mal das eigene Baby im Kinderwagen. Kim Seligsohn ist abgehauen, als | |
13-Jährige, und nach Berlin gezogen. Ihr Bruder, Tom, blieb bei der Mutter | |
in Bremen, entwickelte eine Psychose und nahm sich mit 20 Jahren das Leben. | |
Eine weiß Gott nicht unbeschwerte Geschichte also, die sich Sandra Prechtel | |
vorgenommen hat für ihren Film „Liebe Angst“. Wie zwanghaft sammelt Kübler | |
heute [1][selbst geschriebene Notizen]. Und sie schreibt täglich Artikel | |
aus dem Weser-Kurier ab, für ihr „Archiv“: Für sie gilt, dass nur, wer | |
etwas Geschriebenes aufbewahrt, danach nicht so spurlos verschwinden kann, | |
wie es damals mit ihrer Mutter geschah. | |
Spuren hinterlassen haben die Vernachlässigung und das Trauma, über das | |
ihre Mutter nie sprach, auch bei Kim Seligsohn. Ihr aber gelang es, sich in | |
die Kunst zu flüchten: Als Sängerin verarbeitet sie Namen und Adressen | |
deportierter Jüdinnen und Juden – oder auch Fragmente von Küblers | |
Notizzetteln – in klassisch anmutenden Liedern. | |
Auch Kim Seligsohn lebt prekär, hat lange unter einer Angstneurose gelitten | |
und verdient als 54-Jährige Geld vor allem dadurch, dass sie die Hunde | |
fremder Menschen spazieren führt. Ein von Seligsohn gesungenes Lied wird im | |
Film wie ein Leitmotiv eingesetzt: das Spiritual „Sometimes I Feel Like A | |
Motherless Child“. Es passt, als wäre es für sie geschrieben worden. | |
Sandra Prechtel dokumentiert in ihrem Film, wie diese beiden Frauen | |
versuchen, sich einander anzunähern. Kim Seligsohn fährt oft mit dem Zug | |
von Berlin nach Bremen, um ihre Mutter dort in ihrer mit Papier | |
vollgestopften Wohnung zu besuchen. Manchmal wird sie so ungnädig | |
empfangen, dass sie gleich wieder umkehrt und neun Stunden zurückfährt. | |
Manchmal sprechen die beiden Frauen aber auch miteinander: über ihre | |
Vergangenheit, ihr Leben und ihr Verhältnis zueinander. | |
Prechtel gelingt es, solche seltenen Momente mit der Kamera einzufangen, | |
ohne dass es jemals so wirkt, als käme sie ihren Protagonistinnen dabei zu | |
nah. Die Filmemacherin wird dem Vertrauen der beiden Frauen gerecht, indem | |
sie die beiden nicht als Opfer und psychisch Kranke porträtiert, sondern | |
als starke Frauen, die eine lebenslange Bürde mit Würde tragen: die | |
Schuldgefühle der [2][Überlebenden]. | |
Beide Frauen werden gezeigt in ihren Lebenswelten: Die eine sammelt, die | |
andere singt – und beide sind dabei fast immer allein. Nur einmal kommen | |
Familienangehörige aus Papua-Neuguinea zu Besuch, wohin ein Bruder Lore | |
Küblers ausgewandert ist: Weil er „nicht mehr in dem Land leben wollte, das | |
seine Mutter ermordete“. | |
Also kommt einmal eine große Familie mit kleinen Kindern und Kims Kusinen | |
nach Berlin. Aber die herzlich-familiäre Atmosphäre macht nur noch | |
deutlicher, wie einsam das Leben von Lore und Kim ansonsten ist. Und noch | |
etwas fällt auf: Auch bei den Besucherinnen fehlen die Männer – und die | |
Frauen erzählen, wie sehr auch Lores ausgewanderter Bruder ein ruhelos | |
Getriebener war, der sich nicht um seine Familie kümmern wollte oder | |
konnte. | |
Sandra Prechtel hat sich als Autorin von Radiofeatures und mit der Regie | |
des Künstlerporträts [3][„Roland Klick – The Heart is a Hungry Hunter“] | |
einen Namen gemacht. Mit viel Empathie, aber auch dem Stilgefühl einer | |
guten Filmemacherin, erzählt sie nun die Geschichte eines schwierigen | |
Verhältnisses. | |
Viele Sequenzen, etwa der Familienbesuch aus Übersee mögen arrangiert sein; | |
und wenn Lore einen einsamen Spaziergang durch den nächtlichen Bremer Hafen | |
macht, dann tut sie dies für offensichtlich gestellte Stimmungsbilder. Aber | |
dennoch hat man das Gefühl, die beiden Protagonistinnen sind bei den | |
Aufnahmen immer ganz bei sich – und in den letzten Bilden des Films dann | |
sogar beieinander. Und Lore Kübler, die glaubte, sich nur durch das Sammeln | |
und Bewahren vor dem Verschwinden retten zu können: Sie wird nun, dank | |
dieses Films, nicht vergessen werden. | |
27 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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