# taz.de -- Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Schadenersatz für Thermofen… | |
> Der EuGH hat entschieden, dass Käufer von Dieselautos mit manipulierter | |
> Abgasreinigung leichter klagen können. Für Hersteller kann das teuer | |
> werden. | |
Bild: Dieselkäufer deren Abgasreinigung manipuliert war, können leichter gege… | |
FREIBURG taz | Wahrscheinlich haben Millionen Dieselkäufer Anspruch auf | |
Schadenersatz gegen die Kfz-Hersteller. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) | |
hat an diesem Dienstag in einem Grundsatzurteil entschieden, dass die | |
illegale Manipulation der Abgasreinigung von Dieselmotoren im Prinzip zu | |
Schadenersatz berechtigt. Damit ist der EuGH kundenfreundlicher als die | |
bisherige deutsche Rechtsprechung. | |
Bisher hat der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe nur Dieselkäufern mit | |
dem VW-Motor EA 189 Schadenersatz zugebilligt. Bei diesen Motoren hatte VW | |
eine Betrugs-Software eingesetzt, die dafür sorgte, dass die Abgasreinigung | |
nur auf dem Prüfstand richtig funktionierte, im normalen Straßenverkehr | |
aber nicht. Darin sah der BGH im Mai 2020 eine „vorsätzliche sittenwidrige“ | |
Schädigung der Kunden. Die Handlung sei verwerflich gewesen, weil auch das | |
Kraftfahrbundesamt getäuscht wurde. | |
Bei den sogenannten Thermofenstern hat der BGH bisher Schadenersatz | |
verweigert. [1][Thermofenster nennt man eine Software], die dafür sorgt, | |
dass die Abgasreinigung bei tiefen und hohen Temperaturen nicht | |
(vollständig) funktioniert. Da die Thermofenster dem Kraftfahrbundesamt | |
bekannt waren, liege hier keine Täuschung und daher auch keine | |
Sittenwidrigkeit vor, so der BGH im Januar 2021. | |
Nun hat der EuGH aber einen neuen Weg zum Schadenersatz eröffnet, bei dem | |
es nicht auf die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung ankommt. Im Fall | |
eines Daimler C 220 CDI aus Ravensburg entschied der Gerichtshof, dass die | |
EU-Vorschriften zur Typengenehmigung auch „die Einzelinteressen des | |
individuellen Käufers“ gegenüber dem Hersteller schützen. Dies hatte der | |
BGH bisher anders gesehen: das EU-Recht diene nur dem Umweltschutz und der | |
Verkehrssicherheit, aber nicht den Interessen des konkreten Autokäufers. | |
## Urteil könnte Klagen leichter machen | |
Mit diesem EuGH-Urteil öffnet sich nun eine ganz neue Welt möglicher | |
Schadenersatzklagen. Ab jetzt genügt schon der Nachweis, dass die | |
Hersteller fahrlässig das EU-Recht verletzt haben. Neue Anspruchsnorm ist | |
nun Paragraf 823 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). | |
Damit werden nun auch [2][Klagen wegen der Thermofenster aussichtsreich]. | |
Und da fast alle Dieselhersteller solche temperaturbezogenen | |
Abschalteinrichtungen nutzen, geht es hier um Millionen Fahrzeuge. Die | |
Deutsche Umwelthilfe (DUH) sprach bereits von „bis zu 10 Millionen Autos in | |
Deutschland“. Spezialisierte Anwaltskanzleien jubeln über das | |
„Sensationsurteil“, das ihnen eine noch unüberschaubar große Zahl an | |
Mandaten bringen dürfte. | |
Sicher ist allerdings noch gar nichts. Der EuGH hat eine bisher versperrte | |
Tür geöffnet. Die konkrete Anwendung des Grundsatzurteils auf einzelne | |
Konstellationen und Fahrzeuge bleibt den deutschen Gerichten überlassen. So | |
wird der Bundesgerichtshof bereits am 8. Mai über das weitere Vorgehen | |
beraten, aber vermutlich im konkreten Fall (es geht um einen VW aus | |
Osnabrück) aussetzen oder an die unterinstanzlichen Gerichte | |
zurückverweisen. Denn vieles muss noch geklärt werden. | |
So muss bei jedem einzelnen Kfz-Typen zunächst festgestellt werden, ob das | |
Thermofenster wirklich illegal war – was aber die Regel sein dürfte. So ist | |
die Abschalteinrichtung nach einem EuGH-Urteil aus dem Juli 2022 nur dann | |
nicht rechtswidrig, wenn sie akute verkehrsgefährdende Motorausfälle | |
verhindern soll. Dass der Verschleiß des Motors reduziert wird, reicht als | |
Grund nicht aus. Und ohnehin sei eine temperaturbezogene | |
Abschalteinrichtung immer illegal, wenn sie dazu führt, dass die | |
Abgasreinigung die meiste Zeit des Jahres nicht funktioniert. | |
## Autobauern drohen hohe Schäden | |
Auf dieser Grundlage hat das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig im | |
[3][Februar in einem Musterverfahren entschieden], dass das Thermofenster | |
in einem VW Golf Plus TDI illegal war. Das Urteil ist allerdings noch nicht | |
rechtskräftig. Wenn das Kraftfahrbundesamt durch die Instanzen geht, kann | |
dies zwei bis drei Jahre dauern. Außerdem gilt das Urteil nur für dieses | |
konkrete Thermofenster. Die DUH hat beim VG Schleswig auch gegen 119 andere | |
Freigabebescheide des Kraftfahrbundesamts geklagt. | |
Auch die Fahrlässigkeit der Kfz-Hersteller muss nachgewiesen werden. Die | |
Autobauer werden sich vermutlich darauf berufen, dass das | |
Kraftfahrbundesamt informiert war und keine Einwände hatte. Falls die | |
Gerichte dem folgen (was noch völlig offen ist), käme aber auch eine | |
Amtshaftungsklage gegen den Staat infrage, weil das Kraftfahrbundesamt | |
fahrlässig das EU-Recht falsch ausgelegt hat. | |
Der drohende Schaden ist recht eindeutig. Den Diesel-Eigentümern droht die | |
Stilllegung ihrer Fahrzeuge, sobald die Rechtswidrigkeit der jeweiligen | |
Thermofenster rechtskräftig festgestellt ist. Eine Nachrüstung dürfte in | |
den meisten Fällen nicht möglich oder nicht wirtschaftlich sein. | |
21 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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