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# taz.de -- Arbeitnehmer:innenrechte: Die Fesseln des Streikrechts
> Es gibt Dinge, die in Deutschland nicht zum intuitiven Allgemeinwissen
> gehören. Zum Beispiel der Fakt, dass Menschen mehr Geld verdienen
> sollten.
Bild: Nur tariffähige Gewerkschaften dürfen einen Streik ausrufen, hier strei…
Seit Kurzem verfolgt mich ein kleiner, unscheinbarer Satz. Eigentlich war
es bei dem Telefonat um ein konkretes Anliegen gegangen, doch meine
Bekannte und ich hatten uns zuletzt zu Beginn der Pandemie gesprochen, und
so verfielen wir bald in eines dieser gegenwärtig so typischen
Blitz-Aufholgespräche.
In unter zehn Minuten tauschten wir Trennungen, Todesfälle und andere
Alltagsumbrüche, als seien es Panini-Karten. „Ach so, ich wusste nicht,
dass du da nicht mehr bist. Und ist der neue Job denn okay?“, fragte meine
Bekannte. „Ja schon. Aber eben wieder nur Mindestlohn, es bleibt also
stressig.“ – „Was, echt? Soll jetzt nicht blöd klingen, aber du könntest
doch mehr verdienen.“ Es soll hier nicht um meine individuellen Chancen und
Hinderungen gehen, der Satz hallt anders nach. Morgens, während ich beim
Warten am überfüllten U-Bahnhof dabei zusehe, wie ein junger, nicht-weißer
Typ mit der Reinigungsmaschine Muster auf den Boden zeichnet.
Als ich in der U-Bahn dann Zeugin werde, wie eine unübersichtlich wackelnde
Kleinkindbande von einer Erzieherin und einem Praktikanten auf die freien
Sitze verteilt und bei Anfahrt des Zuges bereits mit Apfelschnitzen
versorgt wird. Und auch, als ich nach Feierabend in den Supermarkt springe
und der Kassierer die Waren roboterschnell über den Scanner zieht, als
wolle er ein sagenhaftes nächstes Level freispielen.
IHR MÜSSTET ALLE MEHR VERDIENEN. Es gibt statistische Wahrheiten, die in
diesem Land nicht in das intuitive Allgemeinwissen einfließen. Mit der
neoliberalen Umstrukturierung des Arbeitsmarktes und der massiven
Privatisierung von staatlicher Infrastruktur wurde die soziale Landschaft
Deutschlands grundlegend umgegraben. Viele einst gut bezahlte
Mittelstandsjobs wie etwa bei der Deutschen Post wurden so in den
Niedriglohnsektor geschoben, der folgende allgemeine Lohnverfall lässt sich
durchaus als kalkuliert beschreiben.
Das Bekenntnis zum aggressiven Lohndumping verschaffte Deutschland ohne
Zweifel einen klaren Wettbewerbsvorteil innerhalb des europäischen
Staatengefüges. Erarbeitet wird er vor allem von Frauen, Migrant*innen
und ostdeutschen Arbeiter*innen. Sind also diese Gruppen gemeint, [1][wenn
Bundesfinanzminister Christian Lindner mal wieder von den Leistungsträgern]
spricht, für die er Politik machen will?
Tatsächlich arbeitet in Deutschland jede*r Fünfte für einen Stundenlohn,
der unter 12,50 liegt. Ein Aufstieg in höhere Gehaltsklassen gelingt nicht
etwa zufällig nur den wenigsten, er steht von vorneherein im Gegensatz zum
wirtschaftlichen Interesse „unseres Landes“. Nur in Lettland, Litauen,
Estland, Polen und Bulgarien ist die Lohnungerechtigkeit ausgeprägter.
Lohnbeschäftigte werden oft zu individueller Anstrengung zur Verbesserung
ihrer Lage ermutigt, dabei läge ihre tatsächliche Macht im kollektiven
Zusammenschluss. Doch auch die Arbeitnehmerrechte sind in Deutschland
stärker beschnitten als beispielsweise in Ländern wie Frankreich oder
Italien. Gerade anlässlich der aktuellen Entscheidung der
Post-Beschäftigten zum Streik sollte an die reaktionäre Schlagseite des
deutschen Streikrechts erinnert werden. Streikformen, die anderswo als
selbstverständlich gelten und wichtige demokratische Mittel von
Arbeitnehmer*innen darstellen, sind [2][im Land der strukturellen
Ungleichheit] verboten.
Beamt*innen dürfen nicht streiken und Arbeiter*innen sich nicht
selbst zum streikenden Arbeitskampf organisieren – nur tariffähige
Gewerkschaften können die Arbeitsniederlegung ausrufen. An diesen
undemokratischen Fesseln des Streikrechts muss kollektiv und solidarisch
gerüttelt werden, so wie es die Initiative [3][„Kampagne für ein
umfassendes Streikrecht“] vorschlägt. Gerade für uns
Niedriglohnarbeiter*innen ist es wichtig, vom Ich zum Wir zu kommen.
Unsere Kraft zeigt sich im Streik. Schauen wir, dass wir ihn uns
zurückholen.
12 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/hohes-einkommen-leistungstraeger-mytho…
[2] https://ungleichheit.info/deutschland?fbclid=IwAR2DhWr8P0c0yjzFt4j4gFwhMUTE…
[3] https://rechtaufstreik.noblogs.org/
## AUTOREN
Elisa Aseva
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