# taz.de -- Streiks in Frankreich und Deutschland: Die Kräfteverhältnisse umk… | |
> Streiks sind mehr als der Kampf um Lohnerhöhung oder ein frühes | |
> Renteneintrittsalter. Sie sind Warnung davor, den Sozialstaat weiter zu | |
> schwächen. | |
Bild: Streik in Lyon am 7.3.2023: ein grundsätzlicher Kampf gegen den Abbau de… | |
Sie haben die Hebel wieder in der Hand: In Frankreich stehen die | |
Ölraffinerien still, AKWs werden bestreikt, kaum ein Zug fährt mehr. | |
Mitarbeiter*innen des streikenden Energiesektors greifen aktiv in die | |
Verhältnisse ein. Diese Woche wurden zuerst die [1][Arbeitsräume des | |
Senatspräsidenten Gérard Larcher kurzzeitig vom Strom abgeschnitten], dann | |
eine [2][Amazon-Zentrale]. | |
Im Februar schalteten die Arbeiter*innen mehrerer besetzter Zentralen | |
den Strom für jene [3][Armutsbetroffenen] wieder an, die wegen unbezahlter | |
Rechnungen im Dunkeln saßen. Was in Frankreich anlässlich einer geplanten | |
Rentenreform passiert, ist eine Umkehrung der politischen | |
Kräfteverhältnisse. | |
Mitten im Schlamassel erlaubte sich Präsident Emmanuel Macron, den | |
Multimilliardär und Amazon-Chef Jeff Bezos zum Mitglied der französischen | |
Ehrenlegion zu küren. Worin dessen Verdienst besteht, bleibt den | |
Französ*innen derweil ein Rätsel. Steuern, die etwa dringend für die | |
Rentenkassen gebraucht würden, zahlt Amazon auf seine monströsen Umsätze | |
dort jedenfalls nicht, und für faire Löhne ist das Unternehmen auch nicht | |
eben bekannt. | |
Der Massenstreik gegen die Rentenreform in Frankreich ist längst nicht mehr | |
nur ein Kampf gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters. Es ist ein | |
grundsätzlicher Kampf gegen den Abbau des Sozialstaats, der in vielen | |
europäischen Ländern von Parteien jeglicher Couleur vorangetrieben wird. | |
Dieser Abbau des Sozialstaats zerstört die Gesellschaften. Er schafft | |
soziale Ungerechtigkeiten und nährt den Rechtsextremismus. | |
## Geradezu vorbildlich | |
So ist es nur angemessen und geradezu vorbildlich, mit allen zivilen | |
Mitteln dagegen anzugehen. „Streik ist ein Ausdruck der hohen | |
Zivilisation“, so in etwa lässt sich der Satz des französischen | |
Journalisten Léonard Vincent übersetzen. Auch, wenn man Zivilisationen | |
nicht in „hoch“ und „tief“ einteilen möchte, kann man dem etwas abgewi… | |
Streik ist entschiedener Ausdruck politischer Teilhabe. | |
Er erfordert Mut gegen Arbeitgeber*innen und wütende | |
Fernsehkommentator*innen, den Verzicht auf Gehalt, ein Durchhaltevermögen – | |
all das, um einer politischen Forderung Nachdruck zu verleihen. Um die | |
Regierenden daran zu erinnern, dass andere den Laden am Laufen halten. | |
Deutschland wäre demnach wohl so etwas wie eine Tiefkultur. Denn um das | |
Streikrecht steht es hierzulande schlecht: Erlaubt sind | |
Arbeitsniederlegungen, die gewerkschaftlich getragen werden. Streiks für | |
Tarifverhandlungen, nicht jedoch politische Streiks. So ist die Rechtslage. | |
Darüber hinaus spricht sich laut [4][einer von der CDU in Auftrag gegebenen | |
Umfrage] die Mehrheit der Deutschen für eine Einschränkung des Streikrechts | |
aus. | |
## FFF und Verdi | |
Hier stellt sich eine Mischung aus calvinistischer, autoritätshöriger | |
Arbeitsmoral („arbeite und gehorche“) und neoliberalem Hyperinvidualismus | |
(„bitte nicht meinen Alltag und Konsum stören“) gegen einen Grundpfeiler | |
der Demokratie. Mit der Logik könnte man sich auch gegen Demonstrierende | |
positionieren, denn sie nerven ja. Während Menschen in vielen anderen | |
Ländern der Welt gegen autoritäre Regime kämpfen, wird ein demokratischer | |
Wert hierzulande von konsumistischer Bequemlichkeit gleichgültig und in | |
völliger Bewusstlosigkeit weggedrückt. | |
Hauptsache, das Paket kommt pünktlich. Und doch gibt es Lichtblicke. Die | |
Klima-Aktivistin Greta Thunberg hat vor ein paar Jahren das Konzept des | |
politischen Streiks nach Deutschland gebracht: Fridays for Future (FFF). | |
Allerdings haben Schüler*innen und Studierende bei der | |
Arbeitsniederlegung keine Wirkung auf die Produktionsverhältnisse. Der | |
Druck auf die Politik hält sich in Grenzen, solange die Räder der | |
Wirtschaft weiter rattern und Dividenden ausgeschüttet werden. | |
Nach vielen Jahren des Klimastreiks passierte aber Anfang des Monats etwas | |
Fundamentales in Deutschland: FFF und Verdi mit dem Personal aus | |
öffentlichen Verkehrsmitteln haben sich zusammengetan. Klimaschutz, soziale | |
Gerechtigkeit und Arbeitskampf werden zusammengedacht und -erkämpft. Dieser | |
Schulterschluss könnte der Grundstein für eine tatsächlich wirkungsvolle | |
Bewegung sein. Er ist politisch richtig und bietet strategisch die | |
Möglichkeit höherer Wirksamkeit. | |
Diese Woche hat auch die Post angekündigt, in den unbefristeten Streik zu | |
treten. Richtig so. Während das Unternehmen Milliardengewinne erzielt und | |
Dividenden ausschüttet, wird der reale Wert durch unterbezahlte | |
Paketlieferant*innen erwirtschaftet. Wer sich demnächst über | |
verspätete Zustellungen ärgert, sollte kurz innehalten und nach Frankreich | |
schauen. Dort wird am Dienstag erneut die Arbeit massenhaft niedergelegt. | |
Wem sie wohl dieses Mal den Strom abstellen? | |
11 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.liberation.fr/economie/social/reforme-des-retraites-la-permanen… | |
[2] https://www.francebleu.fr/infos/societe/reforme-des-retraites-la-cgt-coupe-… | |
[3] https://kontrast.at/frankreich-rentenreform-2023/ | |
[4] https://regionalheute.de/umfrage-mehrheit-fuer-einschraenkung-des-streikrec… | |
## AUTOREN | |
Lea Fauth | |
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