# taz.de -- Absturz von Turbine Potsdam: Vom Vorbild zum Auslaufmodell | |
> Der einstige Vorzeigeverein im Frauenfußball lebt von der Vergangenheit. | |
> Nun droht er in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. | |
Bild: Niedergeschlagen: Amber Barrett von Turbine Potsdam muss mal wieder eine … | |
Es fühlt sich schon jetzt an wie ein Besuch in der Vergangenheit. Noch wird | |
hier im Potsdamer Stadtteil Babelsberg professionell Fußball gespielt – in | |
einem Stadion, das nicht nach einer Versicherung oder einer Bank, sondern | |
mit Karl Liebknecht nach einem prominenten Kommunisten benannt ist. Aber | |
das ist nur ein musealer Randaspekt. Jahrelang empfing hier Turbine | |
Potsdam, einer der vitalsten Kräfte im europäischen Fußball, seine Gäste. | |
Doch an diesem ersten Märztag gegen Werder Bremen geht es um die vielleicht | |
letzte Chance, erstklassig zu bleiben. | |
Wenn die Potsdamerinnen absteigen, verbleibt vermutlich nur noch | |
[1][die SGS Essen als letzter reiner Frauenfußballverein] in der Liga. | |
Erfolgreich können sich die Fußballerinnen hierzulande offenbar nur noch | |
als Filialabteilungen der Männerprofivereine organisieren. | |
Nicht eine Partie haben die Potsdamerinnen in der Hinrunde gewonnen. | |
Lediglich ein Remis gegen Werder gelang dem Tabellenletzten im ersten | |
Spiel. Zum Rückrundenstart sind trotzdem noch 854 Zuschauerinnen und | |
Zuschauer gekommen. Die Treuesten der Treuen. Ein Mann im Rentenalter, der | |
erstmals vor gut 12 Jahren hierher kam, um Turbines Ausnahmespielerin | |
Fatmire Bajramaj zu sehen, erklärt: „Ich kann bei fast jedem Gegner, der | |
hierher kommt, heute immer noch sagen, dass die noch nicht die | |
[2][Champions League gewonnen] haben.“ | |
Überdurchschnittlich viele ältere Männer verfolgen die Spiele von Turbine. | |
Bei den Gruppenfotos der Auswärtsfahrer:innen, die im Internet | |
kursieren, sind sie in der Mehrheit. Sie leben mittlerweile auch von der | |
Vergangenheit des Vereins. | |
## Schweigen über Fehler | |
Die Gegenwart dagegen ist hart. „Geschmeichelt katastrophal“ nennt | |
Assistenztrainer Dirk Heinrichs später nach der 1:2-Niederlage die | |
Leistungen seiner Spielerinnen in der ersten Hälfte. Er spricht für den | |
Trainer Marco Gebhardt, der erst Stunden vor dem Spiel verpflichtet wurde | |
und noch nie mit Fußballerinnen gearbeitet hat. Warum so überhastet, warum | |
Gebhardt? Eigentlich, heißt es von Vereinsseite, seien die Gespräche mit | |
Gebhardt noch nicht beendet gewesen, aber dessen alter Verein, der | |
Männer-Fünftligist Blau-Weiß Berlin habe den Wechsel verkündet, da sei man | |
in Zugzwang gewesen. | |
Eingefädelt hat den Deal Dirk Heinrichs, dem die A-Trainerlizenz fehlt und | |
der den ehemaligen Profi von Eintracht Frankfurt und Union Berlin schon | |
lange kennt. Heinrichs sagt: „Es war für mich wichtig, jemanden zu finden, | |
mit dem man zusammenarbeiten kann. Die anderen, die gefunden wurden, jo, | |
kann ich mich nicht zu äußern.“ | |
Es wird geschwiegen, wenn bei Turbine etwas schiefläuft. „Man erfährt ja | |
nichts“, sagt ein weiterer älterer Herr auf der Haupttribüne. „Der Verein | |
wird geführt wie ein Kleingartenverein.“ Zum neuen Trainer oder seinem | |
Vorgänger Sven Weigang, der als Retter im November verpflichtet wurde und | |
im Februar seinen Job unvermittelt wieder hinschmiss, könne er nichts | |
sagen. Weigang selbst sprach danach von Kritik an seinen Trainingsumfängen. | |
Der Verein wiederum dementierte das. Und Weigang sprach von persönlich | |
hohen Belastungen, weil er auch als Lehrer an einer Schule tätig sei. | |
Davor hatte Turbine zumindest noch einen hauptamtlichen Trainer. | |
Während der Frauenfußball in Europa einen Professionalisierungsschub | |
erlebt, senkt man in Potsdam notgedrungen seine Standards. Dem Übervater | |
des Vereins, Bernd Schröder, der von den Anfängen 1971 an dabei war, gelang | |
es einst, die Erfolge aus der DDR-Zeit im vereinten Deutschland | |
fortzusetzen. In der Blütezeit feierte Turbine einen Champions-League-Titel | |
(2010) und vier Meistertitel in Folge (2009–2012). Britta Carlson, die | |
heutige Assistenztrainerin des deutschen Nationalteams, erzählte von ihrer | |
aktiven Turbine-Zeit mit Schröder: „Vor fast jeder Besprechung hieß es: | |
‚Und denkt dran: Das Spiel wird im Mittelfeld entschieden, und ihr spielt | |
für die Zuschauer, die Region – Platzeck ist übrigens auch da – und den | |
Osten!‘“ Brandenburgs damaliger Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) | |
war Vereinsmitglied, Arbeitsminister Günter Baaske (SPD) langjähriger | |
Klubpräsident. | |
## 11 Frauen und der zwölfte Mann | |
Die emanzipatorische Kraft des Frauenfußballs in Potsdam hatte stets wenig | |
mit dem Nachdenken über Geschlechterrollen zu tun. Auf der Website von | |
Turbine werden die Fans noch als „zwölfter Mann“ bezeichnet. Im Spiel gegen | |
Werder Bremen rufen ein Dutzend Turbine-Fans nach Fouls des Gästeteams | |
reflexhaft: „Gelbe Karte, Rote Karte, raus du Maus …“ | |
Bedeutsamer war in Potsdam, gerade zu Zeiten des noch nicht so | |
professionell strukturierten Frauenfußballs, der etwas | |
marktwirtschaftlicher ausgerichteten Konkurrenz aus dem Westen die Stirn zu | |
bieten. Im Verbund mit der aufgebauten Eliteschule des Fußballs konnten die | |
Spielerinnen, die sich von besseren Angeboten nach Frankfurt und Wolfsburg | |
locken ließen, immer wieder durch guten Nachwuchs ersetzt werden. Trainer | |
Schröder ließ sich am Olympiastützpunkt in Potsdam interdisziplinär | |
inspirieren und war stets an erfolgreichen Methoden extremer | |
Konditionsarbeit interessiert. Wenn es darauf ankam, konnte sein Team meist | |
zulegen. | |
Dem heute 80-jährigen Schröder, [3][der bis 2016 Turbine trainierte], | |
blutet derzeit das Herz, wenn er die Entwicklungen seines Vereins sieht. | |
„Das ist sehr, sehr schwierig. Ich kann damit nicht umgehen“, sagt er. Im | |
vergangenen Herbst brachte er sich noch einmal in eine zwölfköpfige Task | |
Force ein, um Turbine wieder auf den rechten Weg zu führen. Im Stadion sei | |
er nur noch selten. Trotz der Professionalisierung im Frauenfußball | |
könnte Turbine aus seiner Sicht weiter konkurrenzfähig sein. Man habe aber | |
vieles schleifen lassen. Vorrangig meint er damit die Nachwuchsarbeit, aber | |
auch die Trainingsmethoden. Es müsste wieder härter trainiert werden. | |
Schröder ist nach wie vor von seinen alten Rezepten überzeugt. | |
Seine ehemalige Spielerin Tabea Kemme verortet die Probleme viel früher in | |
der Ära Schröder. Sie sagt: „Auf dem Höhepunkt ist der Verein in seiner | |
Entwicklung stehen geblieben. Die Trainingsbedingungen zum Beispiel sind | |
hier schon immer problematisch gewesen. Kommuniziert wurde nicht. Wir haben | |
nicht trainiert, wir wurden trainiert.“ Sie spricht von einer Praxis der | |
Entmündigung, von einem Verein, der meist von über 70-jährigen Männern | |
geführt wird, die sich nie um die Bedürfnisse der Spielerinnen gekümmert | |
haben. Diese hätten „kein Bock“ mehr auf Turbine. Im Sommer 2021 [4][trat | |
Kemme bei der Präsidentschaftswahl] gegen den damals 73-jährigen | |
Amtsinhaber Rolf Kutzmutz an, der früher im Bundestag für die Linke saß. | |
Nur zehn Stimmen erhielt sie weniger, auch weil die Abstimmung in den | |
Urlaub der Spielerinnen gelegt wurde. | |
## Mangelhafte Kommunikation | |
Es war eine Gelegenheit, dem Verein eine neue emanzipatorische Kraft zu | |
verleihen, die auch bei Vertragsverhandlungen mit Spielerinnen von Vorteil | |
hätte sein können. Stattdessen verließen ein Jahr später, nachdem | |
[5][Turbine knapp die Champions League verpasste], zwölf Spielerinnen den | |
Verein. Gegenüber dem RBB erklärten einige später anonym ihre Gründe: die | |
schlechten Strukturen im Verein, miese Trainingsbedingungen, mangelhafte | |
Kommunikation, das sponsorenverschreckende steife Vereinsimage. | |
Geschäftsführer Stefan Schmidt erzählt, die Spielerinnen seien zwei Jahre | |
zuvor schon mit Verbesserungsvorschlägen an die Vereinsführung | |
herangetreten. Vor allem hätten sie dafür geworben, jemanden hauptamtlich | |
für die sportliche Leitung zu gewinnen. Dass die strategischen Impulse für | |
die Professionalisierung bei Turbine von den Spielerinnen ausgehen, erzählt | |
viel über den Verein. Ebenso, dass sie lange keine Wirkung zeigten. | |
Erst vor wenigen Wochen teilte Turbine Potsdam mit, die ehemalige Spielerin | |
Inka Wesely würde künftig dem Vorstand in sportlichen Fragen mit ihrer | |
Expertise beratend zur Seite stehen. Zuletzt arbeitete die 31-Jährige für | |
eine Krankenkasse. Sie soll als sportliche Leiterin aufgebaut werden. | |
Momentan befindet sie sich allerdings noch im Mutterschutz und ist erst im | |
Herbst voll einsatzfähig. Man könnte den Eindruck haben, bei Turbine spiele | |
Zeit keine Rolle. | |
Nur wenige Wochen zuvor vermeldete der Drittligist Union Berlin, man habe | |
für diese Position Jennifer Zietz gewinnen können. Zietz genießt mit 276 | |
Einsätzen bei Turbine Legendenstatus. Ariane Hingst, eine andere ehemalige | |
Turbine-Größe, steht ebenfalls in Diensten eines Drittligisten. Sie ist | |
eines der prominenten Gesichter vom Tabellenführer Viktoria Berlin, die | |
vermutlich nächste Saison wie Turbine in der zweiten Liga spielen werden. | |
## Regionale Konkurrenz | |
Der Verein will in fünf Jahren erstklassig „und nicht das B-Team der | |
Männer“ sein, und wie es [6][auf der bunten Website heißt], „den | |
Frauen-Sport in ganz Deutschland nachhaltig verändern“. Turbine Potsdam | |
sieht sich jetzt also auch noch einer regionalen Konkurrenz mit großen | |
Visionen gegenüber. | |
Unverdrossen optimistisch, vermutlich schon von Berufs wegen, glaubt | |
Karsten Ritter-Lang, Unfallchirurg und aktueller Vereinspräsident, dass | |
Turbine Potsdam auf mittlere Sicht wieder konkurrenzfähig in der ersten | |
Liga sein wird. | |
Er sagt, der Verein müsse sich neu erfinden. Man habe es unter dem | |
Professionalisierungsdruck verpasst, eine Zukunftsvision zu entwickeln, | |
stattdessen habe man an veralteten Strategien festgehalten. Ein großes | |
Versäumnis sei es gewesen, ehemalige Spielerinnen nicht in die | |
Vereinsarbeit eingebunden zu haben. Turbine Potsdam bewege sich nun in eine | |
andere Richtung, einiges sei schon auf dem Weg und öffentlich noch nicht | |
bekannt. | |
Bernd Schröder hegt wenig Hoffnungen auf eine Wende. An einen | |
Wiederaufstieg glaubt er nicht. „Das Land und die Stadt werden Turbine dann | |
noch weniger fördern, und die Spielerinnen werden noch weniger zu Turbine | |
wollen.“ | |
11 Mar 2023 | |
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[6] https://www.fcviktoria.com/ | |
## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
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