# taz.de -- Mitgefühl in Krisenzeiten: Wundern kommt auch von Verwundung | |
> Wenn Menschen Mitgefühl für ihr Leiden einfordern, trifft es oft auf | |
> taube Ohren. Doch wenn niemand Opfern zuhört, schadet es der ganzen | |
> Gesellschaft. | |
Bild: Es tut weh, wenn sich Bekannte nicht nach ihnen, ihren Familien und Freun… | |
Stolpern ist eine ungewollte Störung des Laufs der Dinge. Manchmal stolpere | |
ich über Sätze und gehe danach direkt über sie hinweg, der Gewöhnung wegen | |
und weil es sich dabei oft um eine Art Leergut handelt (Das ist eine Zäsur | |
/ So kann es nicht weitergehen / Das ist ein Angriff auf uns alle) – leer, | |
weil so oft gesagt und so selten gelebt. | |
Das sprachliche Leergut liegt [1][in der Timeline] und niemand weiß, wohin | |
damit. Kennt man, geht man vorbei. Aber manchmal bleibe ich hängen, weil | |
ein Satz etwas Dringliches zu haben scheint. In letzter Zeit hier: Wo | |
bleibt der Aufschrei? | |
Die Frage nach dem Aufschrei ist eine Anklage mit vielen Kläger*innen. Sie | |
suchen Platz und Verstärkung für ihre Anliegen, ihre Wut, ihren Schmerz. | |
Zuletzt nach dem Erbeben, dass die Türkei, Kurdistan und Syrien getroffen | |
hat, vorher bei den [2][Protesten im Iran], bei der Evakuierung von Kabul, | |
bei der Flutkatastrophe in Pakistan. | |
Da erzählen Menschen, dass sie sich im Stich gelassen fühlen. Dass es ihnen | |
wehtut, wenn sich Bekannte nicht nach ihnen, ihren Familien und | |
Freund*innen erkundigen. Dass sie sich unsichtbar vorkommen, so wie schon | |
ihre Vorfahren hier durchsichtig wurden. | |
Dass sie gesehen werden wollen von einem Land, das längst viel | |
internationaler ist als seine Diskurse, weil schon mehr als jede*r Vierte | |
[3][Migrationsgeschichte oder -erfahrung] hat. Ein Land, das Arbeitskraft | |
importieren will, aber nur sehr wenig auf die Fäden gibt, die von hier in | |
die Welt und zurück verlaufen. | |
## Es gibt kein Recht auf Mitgefühl | |
Wo bleibt der Aufschrei? lese ich, und erwische mich dabei, wie ich sagen | |
will: Was erwartet ihr denn? Es gibt eben kein Recht auf Mitgefühl. Wundert | |
euch das? Wundert euch das wirklich? Bis ich sehen kann, dass wundern nicht | |
nur von Verwunderung, sondern auch von Verwundung kommen kann. | |
Ja, man kann feststellen, dass es kein Recht auf Mitgefühl gibt. Dass | |
Sympathieschmerz nur für Liebende ist. Dass es zur Minderheiten-DNA gehört, | |
unaufhörlich auf die eigenen Belange aufmerksam machen zu müssen und sich | |
dafür zu verachten, dass man dabei klingt wie ein quengelndes Kind am | |
Rockzipfel der meisten. | |
Dass es nervt – die Forderung nach Aufschreien und Aufmerksamkeit –, weil | |
niemand überall schreien kann. Oder dass die Dinge, die Menschen im | |
Internet (nicht) teilen oder beim Bäcker (nicht) sagen, kein vollständiges | |
Abbild ihrer selbst sind. | |
## Erinnern, dass Mitgefühl ein Muskel ist | |
Man kann die Klagenden aber auch ernst nehmen. Fragen, warum da ein Gefälle | |
ist zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Man kann sich erinnern, dass | |
Mitgefühl ein Muskel ist. Man kann wissen, dass sich der [4][Anschlag von | |
Hanau zum dritten Mal jährt] und Behörden und Politiker*innen eine | |
umfängliche Aufklärung des 19. Februar 2020 noch immer verhindern. | |
Man kann lernen, dass das nicht nur ein paar wenige berührt, sondern der | |
ganzen Gesellschaft schadet. Man kann sich dagegen wehren, dass Kaltland | |
Kaltland bleibt. Man darf schreien, wenn es weh tut. | |
15 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Malteser-zur-Lage-im-Erdbebengebiet/!5915248 | |
[2] /Autorinnen-ueber-Protest-in-Iran/!5910501 | |
[3] /EU-Gipfel-zu-Migration/!5914972 | |
[4] /Anschlag-von-Hanau/!5910968 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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