# taz.de -- Detoxing im Frühling: Zeit für digitalen Winterschlaf | |
> Raus aus dem Internetnebel, rein in die kreative Betrachtung. Gerade | |
> jetzt, wo der Winter allmählich vorbei sein sollte. | |
Bild: Das Handy aus und raus in die Welt | |
Frühling ist meine liebste Jahreszeit. Wenn alles bevorsteht, aber der | |
Winter so weit weg ist wie irgend möglich. Wenn die Daunendecke zum | |
Auslüften auf den Balkon darf, bevor sie mindestens sechs Monate im | |
Bettkasten verschwindet. Wenn die Übergangsjacke mit Pulli drunter warm | |
genug ist, wenn die Frostnächte überwunden sind und die Sonne morgens | |
wieder Trapeze auf die Raufasertapete malt. Eigentlich geht das Jahr erst | |
jetzt los. Nicht als künstlicher Einschnitt wie an Silvester, sondern als | |
milder Übergang. | |
An einem guten Frühlingstag stellt die Welt sich in den Weg. Auf so eine | |
Art, die sagt [1][jetzt leg das verdammte Handy weg] und nimm die Kopfhörer | |
raus, komm endlich zurück aus dem Internetnebel. Konsequenter | |
Frühjahrsputz: Falte deinen zusammengeknüllten Körper auseinander, bügle | |
die zerknitterten Gedanken, wasch den Kalk von den Pupillen. Wenn der | |
Frühling erwacht, kannst du digital einschlafen. Guck nicht mehr | |
stundenlang anderen Menschen beim Leben zu, sondern starre Löcher in deine | |
eigene Umgebung. Wer weiß, was du findest. | |
Also starre ich große Löcher durch meinen Kokon, ich erstarre mir die Welt | |
zurück. Die ist kein Stück so romantisch, [2][wie Eduard Mörike behauptet | |
hat], aber es gibt sie noch, das ist ja schon mal was. Und wer will, findet | |
auch in der Großstadt ein blaues Band – den flatternden Rest einer Mülltüte | |
zum Beispiel. Sowieso wird die Stadt wieder groß, sie besteht ja aus | |
Plastik, Metall, Holz, also viel Material, das sich bei Wärme ausdehnt. Und | |
wer es schafft, den Blick vom schwarzen Viereck abzuwenden, wer vor die | |
eigenen Füße schaut, befreit langsam die Gedanken vom Mitläufertum, sieht | |
alles mit Anfängeraugen. Die Welt ist doch sehr anders, wenn man nicht | |
unmittelbar zur nächsten Szene swipen kann, wenn nicht jedes zweite Bild | |
Werbung im Inspirationspelz ist und nicht jede dritte Passantin | |
Lifestyleverkäuferin. | |
Vor meinen Füßen badet eine Gruppe Spatzen im Dreck. Wohin gehen bloß all | |
die Spatzen zum Sterben? Im Kokon hätte ich mich das nicht gefragt, nicht | |
im digitalen Winter. Das Informationszeitalter ist toll, aber auch ein | |
Fantasiekiller. Man verlernt das wilde Ausdenken. Es macht einen | |
Unterschied, ob man googelt oder eine Weile herumfantasiert: Vielleicht | |
ziehen die Spatzen zum Sterben nach Süden, nach Korsika oder so. Vielleicht | |
stürzen sie sich entkräftet in den Kanal. Vielleicht werden sie von | |
Kurzhaardackeln verschluckt. Vielleicht sind Spatzen heimlich unsterblich. | |
Für die Wahrheit ist später immer noch Zeit. Da lernt man, dass Spatzen | |
selten alt werden, die meisten werden von Katzen und Raubvögeln gefressen. | |
Manche erliegen Krankheiten und Käfer vergraben ihre Überreste so schnell, | |
dass selten mehr als ein paar Federn übrigbleiben. Nein, auch Frühling ist | |
nicht romantisch. Aber zumindest im Märchen fliegen Spatzen zum Sterben | |
nach Korsika, vielleicht, wenn man statt ins Handy vor die eigenen Füße | |
guckt. | |
13 Apr 2023 | |
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[2] https://www.medienwerkstatt-online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=1… | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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