| # taz.de -- Brüchige „Waffenruhe“ in der Ukraine: Explosionen zum Weihnach… | |
| > Trotz Moskaus angekündigter Feuerpause für die Feiertage, kommen die | |
| > Menschen in der Ukraine nicht zur Ruhe. Berichte aus vier Städten. | |
| Bild: Von wegen Feuerpause: Cherson nach russischem Beschuss am orthodoxen Weih… | |
| Charkiw/Luzk/Cherson/Odessa taz | Dass die von Wladimir Putin angekündigte | |
| einseitige Feuerpause nicht halten würde, davon können sich die Einwohner | |
| von Cherson schon am Morgen des 6. Januars überzeugen. Ein Feuerwehrmann | |
| stirbt in Folge des Beschusses einer Feuerwache im Stadtzentrum. Vier | |
| weitere werden verletzt, einer davon schwer. 39 Mal wird an diesem Tag der | |
| von der Ukraine kontrollierte Teil des Gebietes Cherson beschossen, allein | |
| neunmal die Stadt Cherson selber. | |
| Am 6. Januar, dem orthodoxen Heiligabend, hören die Einwohner Chersons | |
| Explosionen in den Außenbezirken der Stadt, wenn auch weniger heftig als | |
| sonst. „Ich bin nicht in festlicher Stimmung, obwohl dies so ein schöner | |
| Feiertag ist. Ich habe zwar das traditionelle Weihnachtsessen für die | |
| Familie gekocht, aber uns ist eigentlich nicht danach. Es ist, als sei | |
| immer noch der 24. Februar, dabei ist das schon fast ein Jahr her“, erzählt | |
| Larisa, während sie Kartoffelpiroggen aus dem Ofen holt. In ihrem | |
| Wohnbezirk ist es vergleichsweise sicher. Doch auch hier fliegen Granaten. | |
| Seit dem Abzug der russländischen Armee aus Cherson ans linke Ufer des | |
| Dnipro, der das Gebiet zweiteilt, ist die Stadt im wahrsten Sinne des | |
| Wortes an der Frontlinie. Am meisten unter dem Artilleriebeschuss leiden | |
| die Stadtteile direkt am Fluss. | |
| Viktoria, die hier im einzigen geöffneten Kiosk Kaffee verkauft, meint, | |
| dass Putins Ankündigung eines Waffenstillstand ein Bluff sei. „Hören Sie, | |
| wie Waffenstillstand bei uns klingt?“, fragt sie ironisch, als mitten im | |
| Gespräch der Himmel von zwei gewaltigen Explosionen zerrissen wird. Sie | |
| zucke in diesem Moment nicht einmal zusammen, erklärt sie, sie sei | |
| mittlerweile einfach daran gewöhnt. „Russland hat noch nicht ein Mal in | |
| diesem Krieg vereinbarte Feuerpausen eingehalten. Das wird heute nicht | |
| anders sein“, meint Viktoria und fügt hinzu: „Waffenstillstand beginnt für | |
| uns, wenn sie alle unser Land verlassen haben werden.“ | |
| ## In Odessa: „Wir glauben Putin kein Wort“ | |
| Grenzenloser Zynismus. Anders kann man alle Ankündigung des russischen | |
| Präsidenten nicht nennen. Als Putin eine Feuerpause verkündete, ab zwölf | |
| Uhr mittags am Tag vor dem orthodoxen Weihnachtsfest, haben wir nur | |
| gelacht. Mein Kollege sagte treffend: „Ab mittags wollen sie nicht mehr | |
| schießen, aber bis dahin versuchen sie noch, so viele Ukrainer wie möglich | |
| umzubringen“ Und so geschieht es dann auch. Ab nachts um zwei bis zum | |
| Zeitpunkt der versprochenen Feuerpause gibt es landesweit Luftalarm. Aus | |
| dem ganzen Land wird Beschuss gemeldet. | |
| In Odessa wissen wir gut, wie der Kreml wirklich zu religiösen Feiertagen | |
| steht. Am [1][Tag vor Ostern beschoss die russische Armee] meine | |
| Heimatstadt. Acht Menschen starben, darunter ein Baby. Nach Informationen | |
| des ukrainischen Sicherheitsdienstes hatten die Russen auf ihre Raketen | |
| „Christus ist auferstanden“ geschrieben. Wer wohl ihr Gott ist? | |
| Putin will uns zeigen, dass auch unser Weihnachtsfest von ihm abhängt. Und | |
| auch die Popularität des (russisch-orthodoxen) [2][Patriarchen Kirill] | |
| erhöhen, der diesen Krieg absegnet. | |
| Was geschieht nach zwölf Uhr? Vergibt Gott den Russen alle Ermordungen und | |
| Zerstörungen in der Ukraine, die jetzt schon fast ein Jahr andauern? | |
| Wir glauben Putin kein einziges Wort. Odessa wurde am Tag vor Ostern, unser | |
| Hafen am Tag nach [3][Öffnung des „Getreide-Korridors“] beschossen. | |
| Auch am Tag vor Weihnachten wurden russische Raketen und Kamikaze-Drohnen | |
| auf Ukrainer abgeschossen. Einige haben Weihnachten nicht mehr gefeiert. | |
| ## In Charkiw: Luftalarm und Artillerie | |
| In der Stadt Charkiw wird am 6. und 7. Januar kein direkter russischer | |
| Beschuss registriert. Während dieser anderthalb Tage gibt es jedoch | |
| mehrmals Luftalarm wegen der Aktivität russischer Militär- und | |
| Aufklärungsflugzeuge nahe der Staatsgrenze. Am Weihnachtstag ertönt gegen 5 | |
| Uhr morgens der erste Fliegeralarm in der Stadt. Nach Angaben des | |
| Generalstabs der Streitkräfte der Ukraine führen die Russen trotz der von | |
| ihnen erklärten Feuerpause am 7. Januar Angriffe in Richtung Kupjanski und | |
| Sloboschanski durch und beschießen mindestens zehn Siedlungen, darunter die | |
| Großstadt Woltschansk. | |
| Auf dem Weg in das zurückeroberte Dorf Gluschkowka, das 10 bis 15 Kilometer | |
| von der „grauen Zone“ in Richtung Kupjanski (östlich der Region Charkiw) | |
| entfernt liegt, sind gegen acht Uhr morgens starke Artillerieexplosionen zu | |
| hören, nachdem der Übergang über den Fluss Oskol im Gebiet Kupjanski-Uzlowi | |
| überquert ist. | |
| Von mehreren Seiten lautes Artilleriefeuer – sowohl russische | |
| Artillerieschläge als auch Schüsse der ukrainischen Verteidigungskräfte, | |
| die im Gegensatz zu den Russen keine Feuerpause erklärt haben. Gegen 11 Uhr | |
| gab es eine ganze Reihe mächtiger russischer Schläge in den Gebieten der | |
| Siedlungen Kurilowka, Sinkowka, Petropawlowka sowie in der Region | |
| Kupjanski. Alle Siedlungen befinden sich in der Nähe der Verwaltungsgrenze | |
| der Regionen Charkiw und Luhansk. | |
| Trotz der anhaltenden Kämpfe lädt die kleine Dorfkirche in Gluschkowka ein: | |
| Bis zu 50 ukrainische Soldaten haben sich hier zum Festgottesdienst | |
| eingefunden, doch die Kirche kann kaum alle Besucher fassen. | |
| Laut Angaben der Soldaten habe es weder am 6. noch am 7. Januar eine | |
| Feuerpause an der Front gegeben. Daran glaubt ohnehin keiner der Befragten, | |
| schließlich hätten die Russen seit 2014 wiederholt nicht Wort gehalten. „Es | |
| gab bereits viele Anlässe, um eine Feuerpause zu verkünden, doch das ist | |
| nicht passiert. Deshalb nein, ich glaube nicht daran“, sagt Alexander | |
| Goritschew, ein Leutnant der ukrainischen Streitkräfte. | |
| ## In Luzk: Wut im Bus | |
| Der Bus, der an diesem Weihnachtstag ins Zentrum der Stadt Luzk fährt, ist | |
| voller Menschen. Seit mehr als einer Woche sparen die Russen offensichtlich | |
| im Westen an Raketen und Drohnen. Die Stimmung im Bus ist heiterer als | |
| sonst, jemand singt sogar leise traditionelle ukrainische Weihnachtslieder. | |
| Der Rest liest die Nachrichten auf dem Smartphone. | |
| Mehrere Menschen unterhalten sich über die Feuerpause zu Weihnachten, die | |
| Putin angekündigt hat. „Was für primitive und elende Heuchler sie sind! Sie | |
| überfallen uns, bringen Tod, Verwüstung und erklären dann eine Waffenruhe, | |
| um später zu schreien, welch abscheuliche Ukrofaschisten ihre unschuldigen | |
| Jungen heimtückisch getötet haben“, sagt ein 50-jähriger Mann, dessen | |
| Unterlippe vor Wut zittert. Der Bus hält kurz an und die Dunkelheit vor dem | |
| Fenster scheint noch stärker zu werden. | |
| Jemand beruhigt den Mann: „Den Russen zu vertrauen bedeutet, sich selbst | |
| nicht zu respektieren. Onkel, lassen Sie sich nicht entmutigen und nehmen | |
| Sie sich das nicht zu Herzen. Ich habe diese Clowns vergessen, sobald ich | |
| die Nachrichten gelesen habe. Sie wollten uns in drei Tagen vernichten, und | |
| jetzt fordern sie eine Waffenruhe.“ | |
| Eine Studentin schaltet sich in das Gespräch ein: „Die Russen halten es für | |
| eine Sünde, uns am 7. Januar zu töten, aber schon am 8. Januar nach | |
| Mitternacht warten wir wieder auf Raketen. Wir haben an Ostern um eine | |
| Feuerpause gebeten, um die Menschen aus Mariupol heraus zu holen. Und was | |
| dann – haben diese Terroristen damals auf uns gehört?“ | |
| Der Bus ist im Zentrum angekommen. Im Dom erklingen Weihnachtslieder. Der | |
| Bus leert sich, die Menschen gehen in die Kirche, um zumindest für einen | |
| Moment nicht eine Feuerpause mit dem Feind, sondern Frieden für sich selbst | |
| zu finden. | |
| Aus dem Russischen Gaby Coldewey und Barbara Oertel | |
| 8 Jan 2023 | |
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