# taz.de -- Lehren aus dem Krieg: Krieg im eigenen Heim | |
> Lange war unsere Autorin sicher, dass es Krieg nur in anderen Ländern | |
> gebe. Jetzt ist er auch in ihrem Land – und sie denkt neu über sich | |
> selber nach. | |
Bild: Kinder in traditionellen ukrainischen Kostümen, in einem Luftschutzraum … | |
Als ich noch in der Grundschule war, kam ein neuer Junge in unsere Klasse. | |
Er war mürrisch und sprach mit niemandem. Die Lehrerin sagte uns, dass | |
dieser Junge vor dem Krieg geflohen war, dass er unsere Sprache nicht | |
verstand, aber mit uns gemeinsam lernen werde. Ich war damals neun Jahre | |
als. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen dieses Jungen, nicht an | |
seine Nationalität, aber ich erinnere mich noch ganz genau an seinen Blick. | |
Darin konnte man lesen: „Warum bin ich hier? Was geht hier vor?“ | |
Wir waren noch klein, [1][vom Krieg hatten uns nur unsere Großeltern | |
erzählt]. Wir wussten, dass es das Schlimmste ist, das passieren kann, aber | |
wir wussten absolut nicht, wie wir mit unserem neuen Mitschüler reden | |
könnten. Die einen teilten schweigend ihre Süßigkeiten mit ihm, andere | |
gingen ihm aus dem Weg. Nach einiger Zeit verließ dieser Junge unsere | |
Klasse wieder. | |
Jetzt denke ich häufig an ihn. Vielleicht, weil ich selber einen ähnlichen | |
Blick habe wie er damals. Oder weil ich selber eine Antwort auf die Frage | |
„Was geht hier vor?“ suche. Wie kann so etwas überhaupt sein? | |
Freunde von mir teilen regelmäßig ihre Gedanken darüber, was der Krieg sie | |
gelehrt hat. Einige sagen, dass sie begonnen hätten, das Leben mehr | |
wertzuschätzen. Oder die Zeit, die sie mit ihrer Familie verbringen. Einige | |
haben sich geheime Wünsche erfüllt, weil es vielleicht kein Morgen mehr | |
gibt. Ich höre jedes Mal zu und denke auch darüber nach, was mich der Krieg | |
gelehrt hat. Ich habe das Leben immer geliebt, habe immer jede Minute | |
wertgeschätzt, habe auch ohne Krieg [2][gerne Zeit mit der Familie | |
verbracht], aber Träume waren ohne Todesangst wünschenswerter. | |
Und doch habe auch ich eine Lektion gelernt. Ich verstehe jetzt, was ein | |
Mensch fühlt, in dessen Heim der Krieg angekommen ist. Ich verstehe, dass | |
niemand auf der Welt gegen dieses schreckliche Schicksal gefeit ist. Früher | |
dachte ich, dass es gewaltsame Konflikte nur in Ländern gibt, in denen | |
Gewalt das entscheidende Mittel ist, um zu zeigen, dass man im Recht ist. | |
[3][Syrien, Armenien, Afghanistan] schienen mir kriegsführende Länder, in | |
denen dieser Geist von Feuer und Schwert herrschte. | |
Aber das stimmt nicht. Und es ist mir jetzt peinlich. Dort lebten genau | |
solche Menschen, dort starben genau solche Unschuldigen, von dort flohen | |
genau solche Verängstigten, dort flossen Tränen genau solcher Eltern, | |
Kinder, Schwestern und Brüder … | |
Ich würde gerne in die Vergangenheit zurück. Und wenn das möglich wäre, | |
würde ich immer an der Seite dieses Jungen aus meiner Klasse sein. Notfalls | |
würde ich einfach schweigen. Damit er zumindest wüsste, dass er in dieser | |
Welt nicht alleine ist. Ich würde ihn fest, ganz fest umarmen und sagen: | |
„Entschuldige, ich schäme mich, dir aus dem Weg gegangen zu sein, nur weil | |
ich nicht verstanden habe. Jetzt verstehe ich. Und bleibe so lange an | |
deiner Seite, wie du es brauchst!“ | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
Finanziert von der [5][taz Panter Stiftung]. | |
Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der [6][Verlag edition.fotoTAPETA] | |
im September herausgebracht. | |
2 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tatjana Milimko | |
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