# taz.de -- Ukrainische Kinder im Krieg: Mit Schild und Schwert | |
> Der Krieg lässt junge Ukrainer über Nacht erwachsen werden. Das stellt | |
> die Eltern vor ganz neue Herausforderungen. | |
Bild: Margaryta Tkachenko (29) und ihre Kinder in der kürzlich zurückeroberte… | |
Einmal, während des dauernden Beschusses von Odessa, bastelten meine Söhne | |
selber Schild und Schwert. Das Schild war die alte Tür einer Hundehütte, | |
und das Schwert machten sie aus einem Stück Zaun. Furchteinflößend, aber | |
voller Mut gingen Denis und Timofej nach draußen auf die Straße, um ihr | |
Zuhause zu verteidigen. Auf eben die Straße, auf der sie vor noch gar nicht | |
langer Zeit mit ihren Freunden Fußball gespielt und vor nichts Angst gehabt | |
hatten. Jetzt sind sie erwachsen geworden. Als wären sie überhaupt keine | |
Kinder mehr, sondern erwachsene Männer, die ihre Mutter und ihr Zuhause | |
selber beschützen. | |
Mein jüngerer Sohn Timofej ist kürzlich neun geworden. Als er gerade | |
geboren war, Muttermilch trank, mit meinen Locken spielte und den Vögeln | |
beim Singen zuhörte, begann im Osten der Ukraine, im Donbass, der Krieg. | |
Damals hatte er noch andere Namen und er schien weit weg zu sein. Jetzt, wo | |
Raketen über unser Haus fliegen, verstehe ich, dass mein Kind genauso alt | |
ist wie die größte Tragödie in der Geschichte unseres Heimatlandes. Dass er | |
in seinem jungen Alter schon viele Prüfungen zu bestehen hatte. Einige | |
Jahre versteckten wir uns vor einem unsichtbaren Feind – dem Coronavirus. | |
Der Feind, vor dem wir uns jetzt verstecken, ist sichtbar: russische | |
Soldaten, die, als ob sie verrückt geworden wären, die Ukrainer vernichten | |
wollen. | |
Mein älterer Sohn Denis ist zwölf. Früher ging er zum Boxen, Schwimmen und | |
Karatetraining. Seit seinem dritten Lebensjahr gewann er Preise bei | |
Schachturnieren. Der Krieg hat ihm die Möglichkeit genommen, zu lernen und | |
zum Training zu gehen. Meine Gespräche mit Denis enden oft mit | |
Überlegungen, wie wahrscheinlich ein Atomkrieg sei. | |
Meine Söhne sind sehr gute Kinder. Bei jedem Luftalarm schleifen sie alle | |
Hunde und Katzen, die sie unterwegs sehen, in den Luftschutzraum. In den | |
ersten Kriegstagen war TikTok die einzige Abwechslung für meine Söhne und | |
ihr einziger Kontakt zu ihren Freunden. Sie starteten ihre eigenen | |
Accounts, luden Spiele hoch und synchronisierten ihre Lieblingsfiguren aus | |
Zeichentrickfilmen. Das Internet war voller Bedrohungen, schrecklicher | |
Bilder und es war praktisch unmöglich, sie vor diesen negativen | |
Informationen zu schützen. | |
Unter den Posts meiner Kinder tauchten die traditionellen Fragen der | |
Kreml-Propaganda auf. „[1][Wo wart ihr die letzten acht Jahre, als ihr den | |
Donbass bombardiert habt]?“ Das fragten sie einen achtjährigen Jungen und | |
forderten von ihm Rechenschaft für die Kriegshandlungen in den von Russland | |
okkupierten Gebieten. Wo war er? Er lernte „Mama“ zu sagen, aß seinen Brei, | |
machte die ersten Schritte, rannte mit seinem Bruder um die Wette, ging in | |
die Schule, lernte rechnen und schreiben. Und bombardierte mit Sicherheit | |
nicht den Donbass. | |
Ich tat alles, um meinen Söhnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, | |
zeigte ihnen, dass das Leben weiterging, ihre Lieblingsschauspieler und | |
-sportler sie unterstützten, in zivilisierten Ländern der Welt Tausende | |
Menschen auf die Straße gingen und wir nicht allein waren, dass wir uns vor | |
nichts fürchten mussten … aber dann kam ich einmal nach Hause und sah, wie | |
Denis und Tim am Eingang mit Schild und Schwert standen, um sich gegen den | |
Feind zu verteidigen. | |
Sie sollten jetzt in der Schule sitzen, Mädchen Briefchen schreiben, | |
Sprachen lernen, Lieder singen, aber jemand hat entschieden, dass es jetzt | |
eine andere Wirklichkeit für sie gibt, in der sie nach einer Möglichkeit | |
suchen, sich zu schützen. Ich sah sie an und dachte: zittert nicht die Hand | |
eines erwachsenen Soldaten, wenn er den Knopf zum Abschuss einer Rakete | |
drückt? Und das Donnern der Raketen kam immer näher und näher. | |
Unser Haus in Odessa liegt nicht weit vom Militärflughafen entfernt. Die | |
Wände bebten von den schrecklichen Detonationen. Und als [2][eine Rakete in | |
das Haus eines Freundes meiner Söhne einschlug], in dem wir nur einen Monat | |
zuvor alle gemeinsam dessen Geburtstag gefeiert hatten, beschlossen wir | |
wegzuziehen. Ich kann nicht in Worte fassen, wie schwer es ist, seine | |
Heimatstadt zu verlassen, die heimischen vier Wände. Wir waren erst wenige | |
Jahre zuvor dort eingezogen, in die Zweizimmerwohnung, die nach und nach | |
mit Schränken und Schreibtischen eingerichtet wurde, in der die Kinder ein | |
eigenes Zimmer bekamen. Wir mussten das alles zurücklassen, um unser Leben | |
zu retten. | |
Wir nahmen nur das Nötigste mit, auch die Angelruten, und fuhren in | |
Richtung Republik Moldau. Nach etwa zwanzig Kilometern hörte ich [3][„Mama, | |
wir wollen nicht weg“]. Diese Worte sind mir im Gedächtnis geblieben. Es | |
war, als hätte ich auf sie gewartet, weil ich selber ja auch gar nicht weg | |
wollte. Mir schien, dass wenn ich meine Heimatstadt verlasse, dort etwas | |
Schreckliches passieren würde. Es kam mir vor, als hätte ich selber Schild | |
und Schwert, nur unsichtbar. | |
Ich hielt das Auto an der ukrainisch-moldauischen Grenze an einem Fluss an. | |
Wir holten unsere Angeln und begannen zu lernen, wie man an Nahrung kommt. | |
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir genug zu essen, aber mir war wichtig, meinen | |
Jungs die Angst zu nehmen und ihnen zu zeigen, dass Hunger keine Bedrohung | |
für uns ist. Wir können Fische fangen, Gemüse im Garten anbauen und mit | |
allen Schwierigkeiten klarkommen. Ich versuchte, mit den Kindern zu | |
spielen, ihnen Märchen vorzulesen und in allen Situationen ruhig zu | |
bleiben. Und ich merkte, dass sie sich dadurch sicher fühlten. | |
Wir lebten etwa eine Woche an der Grenze zu Moldau. Und fuhren dann nach | |
Odessa zurück. Allerdings zu einer Datsche am Stadtrand. Dort gibt es einen | |
Keller, in dem man sich während des Luftalarms verstecken kann, [4][es gibt | |
Internet fürs Homeschooling], einen Gemüsegarten und einen Brunnen. | |
Man kann sich an den Krieg nicht gewöhnen. Aber wir haben gelernt, in | |
diesem Rhythmus zu leben mit der absoluten Überzeugung, dass alles | |
irgendwann vorbei sein wird, wir siegen und in unser gewohntes Leben | |
zurückkehren können. | |
Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey] | |
14 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tatjana Milimko | |
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