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# taz.de -- Proteste gegen Justizreform: Israel erwacht aus der Schockstarre
> Zehntausende haben am Wochenende gegen die geplante Justizreform
> demonstriert. Doch in einer anderen Frage ist die Protestbewegung
> gespalten.
Bild: Bis zu 80.000 Menschen demonstrierten am Samstag allein in Tel Aviv
Tel Aviv taz | „Israelis müssen sich sehr bedroht fühlen, wenn sie bei
strömendem Regen vor die Tür gehen“, sagt eine ältere Frau mit Regenjacke
und zeigt auf Hunderte Regenschirme, die sich die Menschen um sie herum
über ihre Köpfe halten. Zwischen 70.000 und 80.000 Menschen haben sich am
Samstagabend auf dem Habima-Platz in Tel Aviv versammelt. Auch in Haifa und
Jerusalem gab es Kundgebungen. „Ich bin froh, dass ich trotz Regens
gekommen bin. Wir müssen diesen Staat retten.“
Zweieinhalb Wochen nachdem [1][Israels neue, rechtsextreme Regierung] ihre
Arbeit aufgenommen hat, nehmen die Proteste in dem Land an Fahrt auf. Es
scheint, als seien die Israelis aus einer Art Schockstarre aufgewacht, und
versuchten nun, die Pläne von Regierungschef Benjamin Netanjahu und seinem
Kabinett aufzuhalten. Allem voran geht es um eine geplante Justizreform,
die schwerwiegende Folgen haben könnte.
Kurz nach seinem Antritt als Justizminister hat Yariv Levin seine Pläne
vorgestellt. Er will den Prozess verändern, in dem die Richter an Israels
Oberstem Gericht ernannt werden. Damit würde der Regierung faktisch die
Kontrolle über die Zusammensetzung des einflussreichen Gerichts verliehen.
Darüber hinaus will Levin eine Gesetzesänderung unter dem sperrigen Namen
„Außerkraftsetzungsklausel“ einführen. Einmal eingeführt, würde diese d…
Land in Richtung eines illiberalen politischen Systems wie in Ungarn oder
Polen rücken.
Die Klausel würde es dem Parlament ermöglichen, das Gericht zu überstimmen,
wenn dieses ein Gesetz als verfassungswidrig zurückweist. Selbst der Schutz
grundlegender Menschenrechte wäre vom Willen der Mehrheit der
Parlamentsabgeordneten abhängig – beziehungsweise vom Willen der Regierung.
Genügen soll Levin zufolge eine einfache Mehrheit in der Knesset.
## Gantz warnt vor „Bürgerkrieg“
Doch der Widerstand wächst, nicht nur auf der Straße: Klare Worte kamen
vergangene Woche auch erstmals auch von der Präsidentin des Obersten
Gerichts, Esther Hayut. Die Vorhaben seien keine Reform, sondern ein
Versuch, die gerichtliche Unabhängigkeit abzuschaffen und eine „Tyrannei
der Mehrheit“ einzuführen.
Am Donnerstag dann veröffentlichten fast alle israelischen
Generalstaatsanwälte und Staatsanwälte seit 1975 ein gemeinsames Schreiben,
in dem sie warnten, dass die Reform „das Justizsystem zu zerstören droht“.
Dass sich die Zahl der Demonstrant*innen am Samstag im Vergleich zur
Vorwoche vervielfacht hat, dürfte allerdings auch an der sich
verschärfenden Rhetorik der Regierung liegen. Von der rechtsextremen
Koalitionspartei Jüdische Stärke kamen Forderungen, vier
Oppositionspolitiker wegen Hochverrats festzunehmen, darunter auch Benny
Gantz, ehemaliger Verteidigungsminister. Gantz hatte die geplante Reform am
vergangenen Montag scharf kritisiert. Sie werde zu einem „Bürgerkrieg“
führen, sagte er und forderte die Öffentlichkeit zu Massenprotesten auf.
Der neue Minister für Nationale Sicherheit, [2][Itamar Ben-Gvir,
strafrechtlich verurteilter Siedlerführer und Chef der rechtsextremen
Partei Jüdische Kraft], sorgte nach der ersten Demonstration vor einer
Woche mit einer Reihe von Anordnungen an die Polizei für Aufruhr. Wer die
neue Regierung mit dem Dritten Reich vergleiche – in Israel keine
Seltenheit –, solle festgenommen werden. Auch forderte er,
Straßenblockierer*innen festzunehmen, obwohl solche Aktionen gerade
in Tel Aviv oft mit der Polizei abgesprochen sind.
Für Aufruhr sorgte vor allem Ben-Gvirs Anordnung, jede palästinensische
Flagge einzukassieren, die in Israel in der Öffentlichkeit gezeigt wird.
Die Debatte um die Palästina-Flagge ist nicht neu. In der Vergangenheit gab
es bereits Versuche, die palästinensische Fahne in der Öffentlichkeit
verbieten zu lassen. Bislang darf sie aber nur dann konfisziert werden,
wenn „eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass das Schwenken der Fahne zu
einem ernsthaften Bruch des öffentlichen Friedens führt“.
Ben-Gvir hatte im Zuge der Regierungsbildung per Gesetzesänderung ein
beispielloses Maß an Macht über die Polizei erhalten. Das jüngste Verhalten
der Sicherheitskräfte allerdings ist möglicherweise ein Anzeichen dafür,
dass die Polizei ihre Vorgehensweise zu ändern so schnell nicht bereit ist.
Bereits im Vorfeld der Proteste hatte sie angekündigt, nicht gewaltsam
gegen Demonstrierende vorzugehen. Einige Palästina-Flaggen wehten –
Ben-Gvirs Anordnung zum Trotz – stundenlang und ungestört neben einem Meer
aus Israel-Flaggen.
## Mit Streiks das Land lahmlegen
Derweil ist die Palästina-Flagge in Israel zu einem Symbol geworden für die
Uneinigkeit der Regierungskritiker*innen im Umgang mit der Besatzung
des Westjordanlands. Einige sprechen sich dafür aus, zunächst gegen die
Justizreform anzugehen und die Diskussion um die Situation der
Palästinenser*innen hintanzustellen. Andere argumentieren, dass der
massive Rechtsruck in Israel das Ergebnis einer Ausblendung der Besatzung
ist. Mitunter getrennte Demonstrationszüge oder Streit über die
Redner*innen sind die Folge dieser tief sitzenden Uneinigkeit, was die
Formierung einer breiten Protestbewegung erschwert.
Aktivist*innen wie auch der Oppositionspolitiker Yair Golan von der
linken Meretz-Partei haben zu großangelegten Streiks aufgerufen, um das
Land „lahmzulegen“. Wöchentliche Demonstrationen, so Golan, seien nicht
genug. Israels Wirtschaft hängt zu großen Teilen von der
High-Tech-Industrie ab. Einige ihrer Vertreter*innen hatten Netanjahu
bereits im Dezember in einem offenen Brief vor den Folgen der Justizreform
für die Wirtschaft gewarnt.
„Streiken, wo wir nur können“, sagt auch die ältere Frau mit Regenjacke a…
der Demonstration in Tel Aviv. „Wir müssen wehtun. Und gewinnen.“
15 Jan 2023
## LINKS
[1] /Regierungsbildung-in-Israel/!5897406
[2] /Anfuehrer-der-Liste-Religioeser-Zionismus/!5889003
## AUTOREN
Judith Poppe
## TAGS
Palästina
Israel
Benjamin Netanjahu
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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Benjamin Netanjahu
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Israel
Kolumne Der rote Faden
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Jerusalem
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