Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zensuren auf dem Prüfstand: Mehr Notenfreiheit in Niedersachsen
> Eine Äußerung der grünen Kultusministerin belebt die alte Noten-Debatte.
> Die Abschaffung von Zensuren bleibt trotzdem Utopie.
Bild: Zensuren sind oft ungerecht und unzureichend, eine Abkehr davon ist aber …
Hannover taz | Es ist wahrscheinlich eine typische
Zwischen-den-Jahren-Debatte: Die Deutsche Presseagentur hat im rot-grünen
Koalitionsvertrag für Niedersachsen eine Passage ausfindig gemacht, in der
angekündigt wird, dass Schulen künftig mehr Freiheiten in der
Leistungsbeurteilung bekommen sollen.
Auf Nachfrage bestätigt Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) genau
das. Sie sagt wohlgemerkt nicht: „Noten gehören abgeschafft“. Sondern: Man
wolle andere Modelle möglich machen, wenn Schulen das wünschen.
Aber das Schöne an Bildungsdebatten ist natürlich nicht nur, dass jeder
etwas dazu zu sagen hat, sondern auch, dass auf bestimmte Reflexe Verlass
ist, die dafür sorgen, dass sich die Debatte seit 50 Jahren im Kreis dreht.
In diesem Fall liefert sie Torsten Neumann vom „Verband Niedersächsischer
Lehrkräfte“ (VNL/VDR, früher Realschullehrerverband): Notenverzicht sei
wieder eine deutliche Abkehr vom Leistungsgedanken in der Schule, sagte er
der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ).
Wer tatsächlich immer noch glaubt, dass Ziffernnoten objektiv das
Leistungsvermögen von Schüler*innen widerspiegeln, der muss auch
glauben, dass Mädchen klüger sind als Jungs. Immerhin erzielen die nun
schon seit Jahrzehnten konstant bessere Noten. Seltsam, dass sich das
nachher im Berufsleben und in den Gehältern so gar nicht wiederfindet.
Die Wahrheit ist: Noten spiegeln vor allem Anpassungsvermögen wider. Sie
zeigen, wer hier schnell kapiert, was gefragt ist und das dann auch
bereitwillig liefert.
Deshalb sind sie für Unternehmen so wichtig: Sie sagen relativ zuverlässig
voraus, wer einen guten Angestellten abgibt. Auch für formalisierte
Auswahl- und Zulassungsprozesse sind sie das Mittel der Wahl. Deshalb hat
die Kultusministerin Abschlussjahrgänge auch sofort ausgenommen von der
Notenfreiheit.
Schlechte Noten demotivieren
Für den Lernprozess tun Ziffernnoten dagegen nachweislich selten Gutes:
Erstens sind sie ein Einfallstor für die unbewussten Erwartungen und
Vorurteile der Lehrkräfte, wie unzählige Studien belegt haben. Deshalb
(aber nicht nur) schneiden Jungs und Migrantenkinder häufig schlechter ab.
Deshalb werden sie vor allem von jenen energisch verteidigt, deren Kinder
daraus Vorteile ziehen.
Es hat seinen Grund, warum selbst konservative Lehrkräfte zögern, die
Notenskala von 1 bis 6 voll auszuschöpfen. Schlechte Noten haben eine
durchschlagend demotivierende Wirkung. Eine 5 in Deutsch oder Mathe
signalisiert eben häufig nicht: „Du musst dich mehr anstrengen“, sondern:
„Das kannst du eben nicht“. Es ist eine normale Reaktion, in solchen Fällen
die Anstrengungen ganz einzustellen – so schützt sich das Ego vor weiteren
bitteren Niederlagen.
Deshalb ist es pädagogisch klüger, Lernerfolge festzuhalten und dann daran
anzuknüpfen, aufzubauen statt niederzutrampeln. Trotzdem – das haben die
Erfahrungen in den Grundschulen, Gesamt- und Oberschulen sowie unzählige
Schulversuche gezeigt – ist es nicht ganz einfach, Ziffernnoten zu
ersetzen.
## Warum es so schwer ist, Ziffern zu ersetzen
Ziffernnoten sind ein einfaches, allen Beteiligten geläufiges, gelerntes
System – wenn man es einfach durch Textbausteine ersetzt, bilden sich unter
Eltern schnell regelrechte „Lesezirkel“, die sich an einer Rückübersetzung
in Ziffern versuchen.
Vor allem Eltern, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, tun sich
hiermit schwer. Es geht dabei ja nicht nur darum, dass man sich Gedanken um
die Zukunft des Kindes macht. Gute Noten sind für Eltern auch oft der
Beleg, dass sie ihren Job gut gemacht haben.
Und auch Kinder haben oft das Bedürfnis, sich aneinander und untereinander
zu messen. Sie wollen nicht nur wissen, wo sie selber stehen, sondern auch,
wo sie im Verhältnis zu anderen stehen.
Zu glauben, man könnte das umgehen, indem man nach dem Motto „Jedes Kind
bekommt eine Medaille“ verfährt, ist oft fruchtlos, weil sich dieser
Wettbewerb, dieses unterschwellige Konkurrenzverhältnis, dann nur auf
andere Felder verlagert.
Wichtiger wäre es, Kindern beizubringen, wie man dabei sportlich und fair
bleibt – und dass eine Niederlage hier und eine schlechte Bewertung dort
niemals die ganze Person betrifft, sondern eben nur diesen einen
Leistungsbereich.
Aber auch von den Lehrkräften verlangen individuellere
Leistungsbeurteilungen viel. Natürlich ist es für Kinder und Jugendliche
wichtig, gesehen zu werden, in ihrem Bemühen oder Verweigern. Nichts killt
ihre Motivation so nachhaltig wie der Eindruck, es sei egal, was sie
machen.
Zugleich gehen detaillierte Leistungsbeurteilungen und persönliche
Feedback-Gespräche schnell ans Eingemachte: Da geht es dann eben nicht mehr
um klar umrissene Leistungsbereiche, die mit soundso viel Prozent auf die
Gesamtnote durchschlagen.
Da wird aus „Das kannst du“ und „Das musst du noch lernen“, schnell ein…
bist soundso“. Das verleiht der persönlichen Beziehung zwischen Lehrkraft
und Lernendem viel Gewicht. Manchmal auch unheilvolles Gewicht, wenn es auf
der einen Seite an professioneller Distanz, Erfahrung, Fingerspitzengefühl
und Selbstreflexion fehlt. In einem Fachlehrersystem mit vielen Wechseln
ist das auch organisatorisch schwierig.
Möglicherweise war es deshalb ganz richtig von der Kultusministerin, den
Schulen die Entscheidung freizustellen. Das könnte an der ein oder anderen
Stelle zumindest dazu führen, dass sich noch einmal intensiv damit
auseinandergesetzt wird, wie man Zensuren vergibt und was man damit
bewirken möchte.
Zugleich gibt es eben nicht das eine Modell, das der Weisheit letzter
Schluss ist und das man deshalb mal eben von oben herab schnell verordnen
kann. Und die Kraft, sich auf eine Reihe von heftigen Debatten auf
Elternabenden und Konferenzen einzulassen, muss eine Schulgemeinschaft ja
auch erst einmal aufbringen. Im Moment haben die meisten wohl dringendere
Probleme.
30 Dec 2022
## AUTOREN
Nadine Conti
## TAGS
Bildungssystem
Niedersachsen
Schule
Kultusministerium
Bildungspolitik
Schulbehörde Hamburg
Lesestück Recherche und Reportage
Bildungschancen
Inklusion
Klassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schulpolitik in Niedersachsen: Die Kultusministerin hat jetzt eine Dauerwerbese…
Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) ist unter die
Podcaster gegangen. Die Frage ist nur: Wer soll sich das anhören?
Neue Lernkultur in Hamburg: Gymnasium ohne Noten
Hamburg erlaubt allen Schulen, auf Zensuren zu verzichten. Voraussetzung
ist, dass sie einen zweijährigen Schulentwicklungsprozess durchlaufen.
Schulunterricht im Wald: Stets gut durchgelüftet
Mia, Finn und Co. strolchen herum. An der Bielefelder Laborschule zählen
Bäume zum Programm – und das ganz ohne Naturkundeunterricht. Ein
Waldbesuch.
Chancengleichheit in der Bildung: Wider die föderale Bildung
Von Chancengleichheit im Bildungssystem ist Deutschland weit entfernt.
Höchste Zeit, dass die Ampel den Ländern stärkere Vorgaben macht.
Bericht zu Menschenrechten in Deutschland: Das Problem Förderschule
Deutschlands Bildungssystem versagt dabei, Kinder mit Behinderung zu
inkludieren. Das deutsche Institut für Menschenrechte fordert Reformen.
Klassismus und Bildung: Mehr als nur Anerkennung
Klassismus auf Bildungsdiskriminierung zu reduzieren, ist realitätsfremd.
Die Debatte um Klassismus wird verengt und mit falschem Fokus geführt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.