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# taz.de -- Rechte Revolte in Brasilien: Armee des Wahns
> In Brasilien ist der Sturm auf das Parlament gescheitert. Wie schon 2021
> in Washington hat populistisches Gift die Bevölkerung angestachelt.
Bild: Die Wut der Massen entstammt dem Gift des Populismus
Brasília, 9. Januar: Händehaltend marschiert eine Gruppe die Rampe des
Präsidentenpalasts hinunter. Es sind Brasiliens Staatschef Lula,
Verfassungsrichter*innen und die Gouverneur*innen der 27
Bundesstaaten. Ein medienwirksamer Auftritt und eine Ansage: Wir lassen uns
nicht einschüchtern! Keine 24 Stunden zuvor rannten dort noch vermummte
Randalierer*innen umher, einige drangen in den Kongress und den
Obersten Gerichtshof ein. Sie legten Brände, zerstörten Kunstwerke,
urinierten in Büros und prügelten auf Journalist*innen ein. Der Angriff
der Anhänger*innen von Ex-Präsident Jair Bolsonaro war ein Schock für
Brasiliens junge Demokratie.
Viel wird in den nächsten Wochen aufzuarbeiten sein. Warum gelang trotz es
Warnzeichen nicht, die Angreifer*innen zu stoppen? Welche Mitschuld
haben die Sicherheitskräfte? Wer finanzierte die Krawalle? Was auffällt,
sind die Parallelen zu den Ereignissen in den USA im Januar 2021. Auch
damals verschafften sich völlig radikalisierte Anhänger*innen eines
abgewählten Präsidenten Zugang zur Herzkammer der Demokratie. Auch damals
hinterließen sie eine Spur der Zerstörung. Und auch damals versetzten die
Ausschreitungen ein Land in Schockzustand.
Weder der Sturm auf das Kapitol noch der Angriff auf Brasiliens
Regierungsviertel kamen überraschend. Während ihrer Amtszeiten hetzten
Trump und Bolsonaro regelmäßig gegen die demokratischen Institutionen,
beschimpften Journalist*innen, starteten Desinformationskampagnen. Zwar ist
es beiden nicht gelungen, einen offenen Bruch zu provozieren, die
Institutionen beider Länder erwiesen sich als widerstandsfähig. Doch sowohl
Trump als auch Bolsonaro richteten in vielen kleinen Schritten große
Schäden an. Beide haben ihre Länder nachhaltig geprägt und ihr Gift hat
einen Teil der Bevölkerung kontaminiert.
Ähnlich wie die Trump-Jünger in den USA sind auch die
Bolsonarist*innen in Brasilien fest davon überzeugt, dass bei der Wahl
im vergangenen Jahr nicht alles mit rechten Dingen zuging. Bolsonaro
bereitete den Mythos des großen Betrugs aufwendig vor. Immer wieder hatte
er Zweifel am Wahlsystem gesät, sich auf Putsch-Protesten feiern lassen.
Dass ein Teil seiner Entourage nun den Aufstand wagte, ist in Anbetracht
seiner Amtszeit fast schon logisch. Und Bolsonaro zündelt weiter. Zwei Tage
nach dem Sturm auf Brasília äußerte er erneut Zweifel an den
Wahlergebnissen: Lula sei gar nicht vom Volk gewählt worden, sondern von
einem Gericht in das Amt gehoben worden.
## Sturm mit Ankündigung
Dass Bolsonaros Fußvolk bereit sein würde, bis zum Äußersten zu gehen,
hatte sich wochenlang abgezeichnet. Seit der Wahl im Oktober harren seine
Fans bei Wind und Wetter in Protestcamps aus und rufen zum Widerstand gegen
die neue Regierung auf. Sie blockierten Autobahnen, planten gar
Bombenanschläge.
Der Sturm auf das Regierungsviertel dürfte nicht die letzte Aktion dieser
Armee des Wahns gewesen sein. Durch die kritische Berichterstattung über
die Ereignisse fühlen sich viele in ihrer Meinung bestätigt, dass ein
Komplott gegen sie im Gang sei. Und sie sehen sich als Teil eines
Endkampfes von epischen Ausmaßen: Eine tapfere Avantgarde gegen die
Fake-News-Medien! Das Volk gegen das Establishment!
Der Bolsonarismus und der Trumpismus sind sektenhafte Bewegungen, getrieben
von Verschwörungsmythen, faschistischem Habitus und religiösem Fanatismus.
Und schon lange sind diese selbsterklärten Widerstandskämpfer*innen
nicht mehr empfänglich für Informationen von außerhalb und driften immer
mehr in rechtsextreme Paralleluniversen ab. Es droht nun eine weitere
Radikalisierung.
Ihre Auftritte mit Kriegsbemalung und Hörner-Kopfschmuck mögen bisweilen
grotesk, fast schon clownhaft wirken. Doch zum Lachen ist das nicht. Denn
Bolsonaro und Trump haben es geschafft, aus Politik ein Gefühl zu machen.
Es ist das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, gehört zu werden und
die Geschicke des Landes mitzugestalten.
Möglich wurde das auch durch den Siegeszug der sozialen Medien. In seinem
Buch „Ingenieure des Chaos“, schreibt der italienische Journalist Giuliano
da Empoli über die Kraft der Netzwerke: „Aus Zuschauern werden Akteure;
Einkommen oder Bildungsgrad spielen eine Zeit lang keine Rolle. Die Meinung
des erstbesten Dahergelaufenen ist genauso viel wert wie die des Experten,
möglicherweise sogar mehr.“
## Die Internationale der Verschwörungsgläubigen
Die sozialen Medien sind auch die Orte, wo sich die Rechten international
vernetzen. Sie feuern sich gegenseitig an und lernen voneinander. Stephen
Bannon, ehemaliger Trump-Chefberater, feierte die Krawalle in Brasília und
nannte die Eindringlinge „Freiheitskämpfer“. Es muss noch untersucht
werden, welche Rolle die Strategen der US-Rechten beim Sturm auf Brasília
spielten. Aber es steht außer Frage, dass sich die brasilianischen
Putschist*innen von ihren Brüdern und Schwestern aus dem Norden
zumindest inspirieren ließen.
Gemeinsamkeiten sind jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. So wie sich
die ikonischen Bilder der Hauptstadtstürme gleichen, so gleichen einander
auch die vorangegangenen Narrative und Diskurse: Eine „globalistische
Linke“ greife nach der Weltherrschaft. Trump und Bolsonaro seien die, die
ihnen im Weg stehen. Es ist die klassische Verschwörungsideologie, die
diese Leute antreibt und damit auch ihre Vehemenz und Gewaltbereitschaft
erklärt. Wer sich im kosmischen Endkampf des Guten gegen das Böse wähnt,
hat eben nichts zu verlieren.
Die Vernetzung der extremen Rechten erfolgt seit vielen Jahren
transnational. Das bedeutet, dass wie selbstverständlich über Länder- und
Sprachgrenzen hinweg zusammengearbeitet wird. Die Phänomenologien gleichen
einander weltweit, weil die Protagonist*innen tagtäglich dieselben
Realitäten erfahren bzw. kreieren. Und das vor allem in den sozialen
Medien.
Nationale Besonderheiten treten in den Hintergrund, und die extreme Rechte
vereinheitlicht sich in Sprache und Auftreten. Die Arena, in der dieser
imaginierte Endkampf ausgetragen wird, ist eben auch nicht mehr „nur“ das
eigene Land, sondern die ganze (westliche) Welt. Es fehlt also weder an
Pathos noch an Megalomanie. Das Netzwerk selbst ist aber auch keine große
Verschwörung, sondern logische Folge einer sich schon lange inter- und
transnationalisierenden extremen Rechten, die das Ideal und Kampfbegriff
der „Nation“ zugunsten von „Kultur“ aufgegeben und so größere imagini…
Kriegsfelder für sich entdeckt hat.
Diese Entwicklung hat sich schon in der Europa-Ideologie der Identitären
(und dann der Neuen Rechten) angekündigt und zieht nun größere Kreise.
Russland, Brasilien oder Israel sind weitere Projektionsflächen im Kampf
„Globalismus“ vs. Traditionalismus. Der Globalismus wird dabei vor allem im
Weltwirtschaftsforum, bei George Soros und seiner Open Society oder auch
der WHO und jeder nicht-rechtsextremen Regierung vermutet. Statt konkrete
Kritik an den Verhältnissen zu formulieren, wird ein latentes Unwohlsein
mit der krisenhaften Gegenwart in idealistischen Kulturkampf übertragen.
Dies geschieht in Brasília genauso wie in Washington oder Europa.
## Wie sich der Konservatismus radikalisiert
Das Interessante dabei ist, dass es sich sowohl bei Bolsonaro als auch bei
Trump um, zumindest auf dem Papier, Vertreter von konservativen Parteien
handelt. Neben der völkischen extremen Rechten, wie sie vor allem in Europa
Tradition hat, gibt es ein Abrutschen von konservativen Kräften. Diese
wollen nicht mehr den Status quo erhalten, sondern streben eine autoritäre
Überwindung der Krise(n) an.
Ob dabei aus tief ideologischen Gründen oder aus reinem Zynismus des
Machterhalts agiert wird, ist irrelevant, denn das Ergebnis ist dasselbe.
Dabei geht es auch nicht darum, ob die Putschversuche real gelingen, denn
das tun sie meist nicht. Es geht darum, den größtmöglichen Schaden
anzurichten. Es werden ideelle und ganz physische Löcher in Demokratie und
Rechtsstaat gerissen.
Dabei haben diese Parteien viel mehr Ressourcen, als rechtsextreme
Kleinparteien jemals haben könnten. Vormals staatstragende Parteien werden
zu destruktiven Akteurinnen. Dieses Phänomen lässt sich auf einer kleineren
Skala auch in Großbritannien oder Österreich beobachten, wo sowohl die
Tories als auch die ÖVP den Staat als Showbühne für autoritäre Anwandlungen
nutzen und als Regierungspartei in Konflikt mit der Justiz kamen. Diese
Form des Konservatismus radikalisiert sich nach rechts.
In Brasilien ist es den Bolsonaro-Anhänger*innen nicht gelungen, einen
Staatsstreich einzuleiten. Einige Sicherheitskräfte paktierten zwar mit den
rechtsextremen Demonstrierenden, ließen sie in das Regierungsviertel
vordringen und posierten sogar gut gelaunt mit den rechten
Fanatiker*innen. Doch die Armee griff nicht aufseiten der Eindringlinge
ein. Auch wenn in diesen Tagen die Angst vor einem Putsch umgeht, ist es
unwahrscheinlich, dass sich das Militär auf ein autoritäres Experiment
einlassen wird.
Auch der Rechtsstaat schlug mit voller Härte zurück, etliche
Randalierer*innen wurde verhaftet. Und die Zivilgesellschaft erhob
sich mit landesweiten Protesten gegen die Putschdrohungen. Trotz allem
haben die Bolsonarist*innen ihr Ziel erreicht: Sie haben die Erosion
demokratischer Strukturen ein Stück weiter getrieben. Und die Bilder aus
Brasília könnten als Blaupause für den nächsten Sturm auf eine Hauptstadt
irgendwo auf der Welt genutzt werden.
14 Jan 2023
## AUTOREN
Niklas Franzen
Natascha Strobl
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Brasilien
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