# taz.de -- Vermehrte Schul-Massaker in Brasilien: Der Columbine-Effekt | |
> In Brasilien häuften sich in den letzten Monaten Amokläufe an Schulen. | |
> Mögliche Ursachen sind Mobbing, überfüllte Klassen und | |
> Neonazi-Propaganda. | |
Bild: Regierung setzt jetzt auf stärkere Überwachung: Polizist an der Antonio… | |
SãO PAULO taz | Um 7:20 betritt der 13-Jährige den Klassenraum. Er ist | |
komplett in schwarz gekleidet, trägt eine Maske und Handschuhe. Hinter der | |
Tafel steht Elisabeth Tenreiro. Der Junge geht auf die Lehrerin zu, sticht | |
ihr in den Rücken. Dann zieht er weiter. Wahllos attackiert er | |
Lehrer*innen und Schüler*innen, bevor er überwältigt wird. Die | |
71-jährige Tenreiro stirbt an ihren Verletzungen, mehrere Menschen werden | |
verletzt. Die Tat passierte am 27. März im Osten der brasilianischen | |
Megametropole São Paulo. | |
Keine zehn Tage später, dieses Mal im Süden Brasiliens, geht wieder ein | |
Alarm bei der Polizei ein. Ein 25-Jähriger kletterte in Blumenau über die | |
Mauer einer Vorschule und tötete vier kleine Kinder mit einem Beil. Am 25. | |
November 2022 hatte ein 16-Jähriger in der Küstenstadt Aracruz vier | |
Menschen an zwei Schulen erschossen. Lange Zeit galten Amokläufe an | |
Bildungseinrichtungen [1][als Problem der USA]. Nun breitet sich die | |
Epidemie auch in Brasilien aus. | |
„Wir sind Gewalt an unseren Schulen gewöhnt, aber diese Art der Anschläge | |
ist neu“, sagt Mariana Peixoto der taz. Die 46-Jährige ist Lehrerin im | |
Süden Rio de Janeiros, eigentlich heißt sie anders. Die Zahlen sprechen für | |
sich: In den letzten sieben Monaten gab es fünf Amokläufe, die tödlich | |
endeten. Auf die Anschläge folgten Schock, Fassungslosigkeit und die Frage: | |
Warum ziehen junge Männer los, um zu töten? | |
Die Parallelen zu den USA sind nicht von der Hand zu weisen, auch die | |
Angreifer in Brasilien sind meist jung, männlich, weiß. In den Medien | |
werden sie nicht selten als Einzeltäter dargestellt. „Das halte ich für | |
falsch. Es ist nicht nur das Problem einer Schule oder eines Individuums, | |
sondern einer gewalttätigen, ungleichen Gesellschaft“, sagt Augusto Jobim, | |
Professor für Kriminalwissenschaften an der Päpstlichen Katholischen | |
Universität in Porto Alegre. | |
Oft wird auch Mobbing als Erklärung genannt, was tatsächlich ein ernstes | |
Problem in Brasilien ist. Einem OECD-Bericht zufolge gaben 28 Prozent der | |
Schulleiter*innen an, Mobbing unter Schüler*innen beobachtet zu | |
haben. Das ist doppelt so hoch wie der Durchschnitt in vielen Ländern. Für | |
Jobim hat dieser Diskurs jedoch Lücken. | |
## Generalisierter Hass auf Schulen | |
„Viele junge Männer werden von ihren Mitschülern ausgeschlossen, weil sie | |
sexistisch und homophob sind.“ So entstehe oft ein generalisierter Hass auf | |
Schulen. In der Wahrnehmung vieler junger Männer gelten Schulen als | |
weibliche Orte – und somit als Ziel ihres Frauenhasses. Jobim spricht | |
deshalb nicht von „Attacken an Schulen“, sondern „Attacken auf Schulen“. | |
Die Probleme sind auch struktureller Natur. An Peixotos Schule gebe es für | |
mehr als 2.000 Schüler*innen keine Psycholog*innen, die Klassen seien | |
hoffnungslos überfüllt, die Ausrüstung mangelhaft. Seit der Pandemie habe | |
die Zahl von Schüler*innen mit psychischen Erkrankungen stark | |
zugenommen. „Als im letzten Jahr nach fast zwei Jahren Pause wieder | |
Unterricht stattfand, waren viele aggressiv und mit den Grundregeln des | |
Zusammenlebens überfordert“, sagt die stellvertretende Schulleiterin aus | |
Rio de Janeiro. | |
Bei der Debatte über Amokläufe fehlt nur selten der Verweis auf die | |
Ereignisse am 20. April 1999. An diesem Tag töteten zwei Schüler 13 | |
Menschen und sich selbst an der Columbine High School in der | |
US-amerikanischen Stadt Denver. Wissenschaftler*innen untersuchen seit | |
Langem den „Columbine-Effekt, denn: In den USA und vielen anderen Ländern | |
bezogen sich Amokläufer direkt auf das Blutbad. Auch der brasilianische | |
Attentäter von Aracruz äußerte mehrfach in den sozialen Medien seine | |
Faszination für die Columbine-Mörder. | |
In kaum einem Land der Welt haben Facebook, Instagram und Co. so hohe | |
Nutzerzahlen wie in Brasilien. Und auch in Brasilien existiert eine | |
Schattenwelt abseits der Strandfotos und Tanzvideos. | |
Es gibt hunderte, wenn nicht tausende Gruppen und Foren, wo | |
Internetuser*innen Amokläufern huldigen, regelrechte | |
Fangemeinschaften. Auf Twitter sind die selbsterklärten „Columbiners“ | |
aktiv. | |
## Der Geburtstag Adolf Hitlers | |
Dort verkündeten User*innen, am 20. April Anschläge an Schulen in ganz | |
Brasilien durchführen zu wollen – was nicht passierte. Peixoto organisierte | |
an dem Tag mit ihren Kolleg*innen einen Aktionstag gegen Mobbing und | |
Gewalt. „Aber uns ist klar, dass es palliative Maßnahmen sind“, sagt sie. | |
„Viele Dinge laufen komplett unter unserem Radar.“ | |
Dass die Attacken am 20. April stattfinden sollten, ist kein Zufall. Es ist | |
der Geburtstag Adolf Hitlers. Die Amokläufe stehen im direkten Zusammenhang | |
mit dem Anstieg des [2][Neonazismus in Brasilien]. Mehrere Attentäter | |
trugen Hakenkreuz-Binden und eine in Neonazi-Kreisen beliebte | |
Totenkopf-Sturmhaube, waren in rechtsextremen Online-Foren aktiv. Weiße | |
Vorherrschaft, Sexismus, Transfeindlichkeit – es ist eine giftige Mischung, | |
die die jungen Männer antreibt. | |
Recherchen der mittlerweile verstorbenen Anthropologin Adriana Dias zeigen, | |
dass immer mehr Neonazizellen in Brasilien aktiv sind. Während der Amtszeit | |
des [3][ultrarechten Ex-Präsidenten] Jair Bolsonaro stiegen die Zahlen | |
stark. In ihrer letzten Erhebung stellte sie 530 Neonazizellen im Land fest | |
– ein Anstieg von 270 Prozent zwischen Januar 2019 bis Mai 2021. | |
Ende April verhaftete die Polizei im Süden Brasiliens zehn Neonazis, die | |
Anschläge geplant haben sollen. Auch Peixoto entdeckte an den Klos ihrer | |
Schule zuletzt Hakenkreuze und rechte Schmierereien. „Ich bin seit 2014 an | |
dieser Schule, so etwas habe ich vorher noch nie gesehen.“ | |
Bolsonaro wird noch für eine andere Sache verantwortlich gemacht: Die | |
Liberalisierung der Waffengesetze. Zwar schob der Oberste Gerichtshof dem | |
Waffennarr bei vielen Initiativen einen Riegel vor, doch laut | |
Expert*innen sind durch Bolsonaros Politik immer mehr Waffen im Umlauf. | |
## Zivilisten haben mehr Schusswaffen als Sicherheitskräfte | |
Siebenmal mehr Schusswaffen sind in den Händen von Zivilisten als von | |
Sicherheitskräften, lässt sich aktuellen Statistiken entnehmen. Dass es bei | |
den Amokläufen nicht noch mehr Tote gegeben hat – wie in den USA – führen | |
Expert*innen auf die strengen Waffengesetze zurück. | |
Mehr als die Hälfte der jüngsten Amokläufe wurde mit Messern durchgeführt �… | |
einige verliefen deshalb ohne Opfer. Der 13-jährige Amokläufer aus São | |
Paulo gestand den Ermittler*innen, er habe versucht, online eine Waffe zu | |
kaufen, sei aber gescheitert. | |
Der brasilianische Staat tut sich schwer mit der Welle der Gewalt. | |
Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva sorgte bei Teilen der | |
Online-Community für Unmut, als er erklärte, Videospiele stifteten junge | |
Menschen zum Töten an. Das Problem liege ganz woanders, so die Erwiderung. | |
Als Reaktion auf die Anschläge stellte die Regierung ein millionenschweres | |
Paket zur Verfügung. Es wird jedoch vom Justizministerium und nicht, wie | |
von vielen gefordert, vom Bildungsministerium verwaltet. | |
„Die Reaktion auf die Anschläge war eine Katastrophe“, sagt der | |
Kriminologie-Professor Augusto Jobim. Die Regierung setze auf alte Rezepte: | |
mehr Polizei, stärkere Überwachung, weitere Militarisierung. | |
„Sie antworten mit der gleichen Logik, die diese Gewalt verursacht. Das | |
geht an der Wurzel des Problems vorbei.“ An einigen Schulen könnten deshalb | |
schon bald Metalldetektoren und bewaffnete Sicherheitsleute stehen. Ob der | |
„US-amerikanische Weg“ funktionieren kann? „Es ist lächerlich zu glauben, | |
dass das junge Männer vom Töten abhält.“ | |
4 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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