Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Polizeigewalt gegen Journalist*innen: Es gibt kein Schmerzensgeld
> Bei Urteilen spielt die Pressefreiheit oft keine Rolle. Auch im Fall
> einer Journalistin nicht, die von einem Beamten ins Gesicht geschlagen
> wurde.
Bild: Dass ein Polizist sie niederschlägt habe sie sich nicht vorstellen könn…
Ihr Arbeitstag war schon so gut wie vorbei, als ein Polizist der
Journalistin Lea Remmert ins Gesicht schlug. Es war der 1. Mai 2020 in
Berlin, sie war Teil eines Filmteams der Nachrichtenagentur „Nonstop News“,
das im Auftrag von Sat1 und Pro7 über die Proteste dort berichtete. Über
den Tag hinweg hatten sie Demonstrationen gefilmt und den Polizeisprecher
interviewt.
Dann, gegen Abend, wurde es dunkel und chaotisch. Überall Protestierende,
Blaulicht, Polizei – das zeigen die Aufnahmen des Teams. Den Schlag haben
sie nicht gefilmt. Aber Remmert ist sich sicher: Der war Absicht. Unter
anderem brachen zwei Zähne ab, sie ging blutend zu Boden.
Von vornherein sei der 1. Mai eine krasse Situation gewesen, erzählt die
Journalistin. Aber verletzt zu werden? Damit habe sie nicht gerechnet.
Einen helmtragenden Kollegen habe sie sogar belächelt. „Es war ja nicht
geplant, dass wir da so wirklich mittendrin stehen“, sagt sie. Und wenn,
dann habe sie sich eher Gedanken wegen der Demonstrant*innen gemacht.
Von denen wurde am selben Tag ein [1][Team der ZDF-„heute show“
angegriffen]. Dass ein Polizist sie niederschlägt, habe Remmert sich nicht
vorstellen können.
Die zwei Zähne musste ihr Zahnarzt rekonstruieren. „Schicht für Schicht“,
erzählt sie. Die Krankenkasse habe nichts übernommen, weil ein Dritter
beteiligt war. Schmerzensgeld bekommt sie aber auch nicht. Die Polizei
konnte keinen Täter ermitteln und [2][das Land Berlin will ihr keine
Entschädigung zahlen]. Remmert klagte daraufhin auf 10.000 Euro
Schmerzensgeld und Übernahme der Behandlungskosten – doch das Landgericht
Berlin hat ihre Klage in erster Instanz abgewiesen, obwohl der Schlag
unstrittig ist.
## Die Journalistin trage Mitschuld, wenn sie geschlagen wird
Es sei nicht bewiesen, dass der Polizist vorsätzlich oder fahrlässig
zugeschlagen habe. Das Gericht hält hingegen „eine unbeabsichtigte Bewegung
eines Polizeibeamten“ für möglich – und folgt damit der Darstellung der
Berliner Senatsverwaltung für Finanzen. Diese ist laut der Berliner
Haftpflicht- und Eigenschädengrundsätze zuständig, wenn Geschädigte mehr
als 200 Euro fordern.
Im Urteil steht: Vielleicht habe sich ein Polizist in einem Kabel
verheddert und beim Versuch, sich zu befreien, Lea Remmert getroffen.
Außerdem trage sie eine Mitschuld, weil sie sich „um spektakulärer
Aufnahmen willen“ selbst in Gefahr begeben habe. Deshalb habe sie keinen
Anspruch auf Schmerzensgeld. Dass Remmert als Journalistin berichtete,
spart die Richterin in ihrer Begründung hingegen aus. Das Wort
„Pressefreiheit“ taucht nicht im Urteil auf, das der taz vorliegt.
Das ist nicht selten: Immer wieder geben Gerichte der Pressefreiheit in
ihren Urteilen offenbar nur ein geringes Gewicht. Nachdem zum Beispiel
Neonazis in [3][Fretterode zwei Journalisten jagten und verletzten],
verurteilte das Landgericht Mühlhausen die Angreifer zu vergleichsweise
milden Strafen. Es sei unklar, ob sie die Journalisten als solche erkannt
hätten. Deshalb schütze die Pressefreiheit nicht die Betroffenen.
## Hausfriedensbruch statt journalistischer Arbeit
Das Amtsgericht Borna verurteilte einen [4][Leipziger Journalisten wegen
Hausfriedensbruch]. Er war Klimaaktivist*innen und Polizist*innen
in den Tagebau Schleenhain gefolgt, um die Proteste zu dokumentieren. Das
sei nicht von der Pressefreiheit gedeckt, urteilte das Gericht.
Dass zuletzt mehrere Urteile die Pressefreiheit wenig gewürdigt haben,
beobachtet auch Lotte Laloire von Reporter ohne Grenzen. Die freiheitlich
demokratische Grundordnung verlange, dass Pressefreiheit gewahrt werde.
Gerichte sollten den Grund berücksichtigen, weshalb Journalist*innen
vor Ort seien: „Nämlich nicht als Schaulustige, sondern im Interesse der
Öffentlichkeit.“ Gerade wenn die Polizei gegen Bürger*innen vorgehe, sei
wichtig, dass Reporter*innen „nah herangehen, etwa um rechtswidrige
Festnahmen zu dokumentieren.“
Wegen Gewalt, verbaler Angriffe und Einschüchterungsversuchen rutschte
Deutschland vergangenes Jahr in der Rangliste der Pressefreiheit von Platz
11 auf Platz 16 ab. Dabei spielte auch Gewalt durch die Polizei gegen
Journalist*innen eine Rolle. Besonders bei Demonstrationen behinderte
die Polizei Pressearbeit, betätigt [5][das Europäische Zentrum für Presse-
und Medienfreiheit], das ECPMF in Leipzig.
## Es muss auf ihren Beruf eingegangen werden
Im Urteil des Berliner Landesgerichts spielte dieser Kontext aber keine
Rolle. Laloire bemängelt, das Gericht habe gar nicht in Betracht gezogen,
dass die Polizei an bestimmten Aufnahmen kein Interesse hat und deshalb
versucht haben könnte, diese zu verhindern. Angesichts der Zeugenaussagen
sei das aber nicht auszuschließen.
Außerdem kritisiert sie, dass im Tatbestand nicht auf Remmerts
journalistische Rolle eingegangen werde. „Dort heißt es nur knapp, sie sei
‚zum Zwecke von Filmaufnahmen vom Demonstrationsgeschehen in
Berlin-Kreuzberg unterwegs‘ gewesen.“ Laloire ist selbst Journalistin, hat
für den [6][Berliner Tagesspiegel 2020] zu diesem Fall recherchiert und
kennt die Details.
Zeugen widersprachen im Prozess der verantwortlichen Berliner
Senatsverwaltung, dass sich ein Beamter im Kabel der Tonangel verfangen und
beim Versuch, sich zu befreien, Lea Remmert dermaßen getroffen habe, dass
sie verletzt zu Boden ging. Es sei unter normalen Umständen gar nicht
möglich, sich im Kabel zu verfangen. Auf einem Video aus den Akten,
welches die taz einsehen konnte, ist das ebenfalls nicht zu sehen. Der
Schlag ist hingegen erkennbar.
## Nicht mit Sicherheit erwiesen
Allerdings hat das Gericht diese Szene in der Verhandlung nicht angesehen.
Lea Remmert sagt, wegen IT-Problemen. In der Urteilsbegründung verweist die
Richterin auf eine Polizistin, die die Videos analysiert hat. Die sagte, es
„wirke“ so, als würde ein Polizist nach hinten ausholen und Remmert ins
Gesicht schlagen. Ein Anlass für den Schlag sei nicht erkennbar.
Auf Nachfrage bekräftigte das Landgericht die Urteilsbegründung. Ein
vorsätzlich oder schuldhaft fahrlässiger Schlag sei trotz der
Beweisaufnahme „nicht mit ausreichender Sicherheit erwiesen“. Die
„verbleibende Unsicherheit“ gehe aber zulasten von Remmert, da es nach
allgemeinen Grundsätzen Aufgabe der Klägerin sei, ihren Anspruch zu
beweisen. Lea Remmert hat für das Urteil kein Verständnis. Aber ob sie in
Berufung geht, hängt vom Geld ab.
12 Jan 2023
## LINKS
[1] /Angriff-auf-Team-der-ZDF-heute-show/!5681447
[2] /Journalistin-durch-Polizei-verletzt/!5825290
[3] /Urteil-zu-Neonazi-Angriff-in-Fretterode/!5877613
[4] https://kreuzer-leipzig.de/2022/12/02/leipziger-journalist-wegen-berichters…
[5] https://www.ecpmf.eu/monitor/mapping-media-freedom/
[6] https://www.tagesspiegel.de/berlin/ich-habe-angst-sobald-ich-viele-polizist…
## AUTOREN
David Muschenich
## TAGS
Polizeigewalt
Schwerpunkt Pressefreiheit
Polizei
Medienjournalismus
Polizei Berlin
Schwerpunkt Pressefreiheit
Schwerpunkt Pressefreiheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Angriffe auf Polizisten: Gut gepflegte Opferrolle
Die Polizei macht Politik mit der Zahl der angegriffenen Beamten. Doch
wichtig sind die Details. Und ein notwendiger Kulturwandel in der Polizei.
Gewalt gegen Journalist_innen: Am Hufeisen aufgehängt
Der Berliner Verfassungsschutz will die Gewalt gegen Medienschaffende
erklären, scheitert aber am eigenen Weltbild.
Pressefreiheit in Deutschland: Gewalt gegen Vierte Gewalt
Tätliche Angriffe auf Medienschaffende sind 2020 massiv gestiegen, vor
allem auf Demos gegen Coronamaßnahmen. Gewalt gab es auch auf linken Demos.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.