| # taz.de -- Film „The Ballad of George Barrington“: Der Dieb der feinen Leu… | |
| > In ihrer Doku suchen die Hamburger Matthias Meyer und Alexander Rischer | |
| > die Spuren des Taschendiebs George Barrington. Der lebte im 18. | |
| > Jahrhundert. | |
| Bild: Einträgliche Marke: Bücher über Barrington, teils angeblich von ihm se… | |
| Seltsam, wofür Menschen sogenannt unsterblich werden. Gut: Bei | |
| [1][Shakespeare] oder [2][Mozart] oder auch Iwan dem Schrecklichen liegen | |
| die Gründe auf der Hand – aber ein Taschendieb aus dem späten 18. | |
| Jahrhundert? | |
| Nun kennen George Barrington, und um den geht es hier, nur wenige | |
| Eingeweihte. Im Jahr 1930 schrieb der britische Autor Richard Lambert die | |
| Biografie „The Prince of Pickpockets“. 1959, im folgerichtig betitelten | |
| Film „Pickpocket“, machte der französische Regisseur Robert Bresson | |
| Barrington zum kriminellen Vorbild seines Protagonisten Michel. Auch eine | |
| Ballade, besser: Moritat, ist aus den 1780er-Jahren überliefert – mit dem | |
| schönen Nonsens-Refrain: „With his Rou, with his Dou, with his Roudidou, | |
| Oh!“ | |
| Ein neues Stück Barrington-Erinnerungsarbeit ist nun in Hamburg geleistet | |
| worden. Dort arbeitete der Künstler [3][Matthias Meyer] vor ein paar Jahren | |
| am Thema „Bücher in Filmen“: So stellte er etwa alle Bücher, die in | |
| François Truffauts „Fahrenheit 451“ verbrannt werden, auf einem Regalobjekt | |
| aus – in den Ausgaben wie im Film. | |
| In Bressons Film fiel ihm Lamberts erwähntes Barrington-Buch ins Auge, und | |
| weil Meyer schon lange mit dem Fotokünstler Alexander Rischer | |
| zusammenarbeiten wollte, schlug er ihm eine gemeinsame Recherche vor. Los | |
| ging die im Jahr 2015, und am Ende sollte ein etwa 25 Minuten langer | |
| Kurzfilm stehen; die entsprechende Förderung beantragten und erhielten die | |
| beiden. Sieben Jahre später ist der Film dann fertig geworden – nur ist | |
| [4][„The Ballad of George Barrington“] über zwei Stunden lang, und seine | |
| Macher reisten für ihre Recherche nach Großbritannien, Irland, Russland und | |
| sogar Australien. | |
| Denn die Geschichte von George Barrington (1755–1804) ist kompliziert – | |
| oder besser: Die Quellen sind meist fragwürdig und teils richtiggehend | |
| widersprüchlich. So gibt es verschiedene Porträts, auch Karikaturen der | |
| historischen Gestalt, die kaum Ähnlichkeit miteinander haben. | |
| Bekannt wurde Barrington auch als Verfasser einer Handvoll von Büchern über | |
| sein Leben in Australien; geschrieben hat er davon wohl kein einziges. Gute | |
| Bedingungen für eine wunderschöne, aber eben auch langwierige historische | |
| Schatzsuche, und auf so eine haben sich Meyer und Rischer ja auch begeben: | |
| Sie haben in Museen und Archiven in St. Petersburg, Sydney, Melbourne, | |
| London, Dublin und vielen anderen Städten nach Spuren Barringtons gesucht. | |
| Ihrem Film ist anzumerken, mit wie viel Freude und Stolz sie ihre | |
| Fundstücke präsentieren. | |
| „Die Ballade von George Barington“ scheint dabei aus der Zeit und dem Raum | |
| gefallen zu sein. Der Film hat nichts Deutsches an sich – nicht nur, weil | |
| darin durchweg Englisch gesprochen wird. Er wirkt auch, als wäre er in den | |
| 1970er-Jahren entstanden, als es noch ein Publikum gab, dass sich im Kino | |
| gern überraschen ließ. | |
| Los geht es gleichwohl mit Smartphone-Aufnahmen: Für das Londoner Victoria | |
| and Albert Museum erhielten Meyer und Rischer keine Drehgenehmigung; so | |
| eröffnet ihr Film über einen Dieb mit gestohlenen Bildern. Zwar zeichnen | |
| sie auch mal einen Weg mit Hilfe von Google Streetview nach, insgesamt aber | |
| nehmen sie sich in Montage und Präsentation der vielen gezeigten Objekte – | |
| manche davon eigens in Auftrag gegeben – so viel Zeit, dass wohl keine | |
| Redaktion eines Fernsehsenders, und die haben heute bei | |
| [5][Dokumentarfilmen] das letzte Wort, den Film so abnehmen würde. | |
| Streng chronologisch, beginnen sie mit den „early years“ und enden mit | |
| Barringtons Tod 1804 in Australien. Dies ist bei heute produzierten | |
| biografischen Filmen unüblich: Die beginnen fast immer mit einem saftigen | |
| Stück Lebensgeschichte als Appetitanreger; hier wirkt das eigentlich | |
| Konventionelle also fast experimentell. | |
| Wer war nun dieser George Barrington, der vielleicht auch ganz anders hieß | |
| oder hätte heißen müssen – wenn klarer wäre, wer sein Vater war? Zunächst | |
| ein Gauner und Gentleman: ein irischer [6][Taschendieb], der Zugang hatte | |
| zur feinen Londoner Gesellschaft, der Reichen, Vornehmen und Mächtigen in | |
| die Taschen griff. Er wurde überraschend oft erwischt und landete immer | |
| wieder vor Gericht, wo er sich sehr geschickt und wortgewandt selbst | |
| verteidigte. Als er in London geächtet war und ihm nach einer erneuten | |
| Gefangennahme sogar die Todesstrafe drohte, gab er an, davon habe er nichts | |
| gewusst – und kam durch. | |
| 1790 wurde er nach Australien verbannt, wo er sich bei der kolonialen Upper | |
| Class so beliebt machte, dass man ihn schließlich zu einem hohen Beamten | |
| der Polizeikräfte ernannte. In Großbritannien avancierte er zu einer Art | |
| Volksheld, der so bekannt und beliebt war, dass Verleger Bücher unter | |
| seinem Namen herausbrachten; er dürfte im fernen Australien nie davon | |
| erfahren haben. | |
| Geschichten über Barrington gibt es reichlich, umso komplizierter ist es, | |
| Fakt und Fiktion auseinanderzuhalten. Gerade die vielen Sackgassen und | |
| Umwege machen den Film sehr unterhaltsam und manchmal sogar erstaunlich | |
| spannend. | |
| Aber Meyer und Rischer sind Künstler, keine Journalisten – keiner | |
| faktischen Wahrheit verpflichtet, sondern einer poetischen. Deshalb basteln | |
| auch sie an der Legende mit – und flunkern schon mal. Den im Film | |
| vorgestellten Cocktail „The Celebrated Barrington“ hat es nicht gegeben, | |
| bis sie ihn in einer Wiener Bar mischen ließen. Auch die Gedenktafel, die | |
| in London an einen seiner bekanntesten Diebstähle erinnert: eine Fälschung. | |
| „The Ballad of George Barrington“ feierte Ende November in Hamburg Premiere | |
| – das Kino war ausverkauft. Und nun? Verleih gibt es keinen, für Festivals | |
| ist er wohl zu unkonventionell. Wenn sie doch bloß jemand zeigen würde, | |
| diese so ganz andere Doku: scheinbar schlicht, aber doch raffiniert | |
| konstruiert – nüchtern erzählt und gerade darum oft enorm lustig. Er hätte | |
| Publikum verdient, George Barrington, dieser komische Held. | |
| 1 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /William-Shakespeare/!t5247105 | |
| [2] /Mozart/!t5021570 | |
| [3] https://www.matthiasmeyer.org/index.php/project/the-ballad-of-george-barrin… | |
| [4] http://www.george-barrington.com/ | |
| [5] /Dokumentarfilm/!t5009319 | |
| [6] /Videoueberwachung-auf-Weihnachtsmaerkten/!5900660 | |
| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
| ## TAGS | |
| Deutscher Film | |
| Film | |
| Dokumentarfilm | |
| Hamburg | |
| Kunst | |
| Deutsche Geschichte | |
| St. Pauli | |
| Datenschutz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Einblicke ins kriminelle Milieu Berlins: Der Chronist der Unterwelt | |
| Leo Heller ist es zu verdanken, dass man heute weiß, wie es in den 1920ern | |
| im Milieu ausgeschaut hat. Vor 80 Jahren ist der Journalist gestorben. | |
| Interview mit Hamburger Kiez-Wirtin: „Ich vermiss' die alten Zeiten nicht“ | |
| Rosi McGinnity arbeitet seit 60 Jahren auf St. Pauli. Dabei hat sie die | |
| goldenen und die dunklen Jahrzehnte miterlebt – und kennt alle Gangster von | |
| Rang. | |
| Videoüberwachung im Alltag: Die Macht über die Realität | |
| Im öffentlichen und halböffentlichen Raum filmen immer mehr Geräte mit. Der | |
| Staat erlangt so zunehmend die Deutungshoheit darüber, was wahr ist. |