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# taz.de -- Wie sich Abwesenheit fassen lässt: Fast nichts zu sehen in Osnabr�…
> Der Kunstraum Hase 29 erkundet „Dimensionen von Abwesenheit“. Ihre
> Prämisse: Leere lässt sich nur von der Schwelle des Fast Nichts aus
> wahrnehmen.
Bild: Verstörend: Matthias Stuchteys „Schmarotzer erster Ordnung“
Osnabrück taz | Blut und Haarpartikel, eingeschlossen in Zylinder aus
grauschlierigem Glas: Die Bildhauerin Lena von Goedeke nimmt uns in ihrer
Arbeit „Aggregate“ mit hinauf in die Arktis, auf die [1][urweltliche
norwegische Inselgruppe Svalbard], auf der Wanderungen ohne Gewehr keine
gute Idee sind, denn hier ist Eisbären-Land.
Von Goedeke lebt hier. An einem Ort der Unsicherheit, an dem die Landkarte
noch immer weiße Flecken hat. Die Zylinder mit ihrer DNA senkt sie in
Bohrlöcher ab, die Klima-Wissenschaftler in Gletscher niedergebracht
haben. Ist das Eis geschwunden, bleibt ein Abbild von ihr in der Wildnis
zurück. Das hat Ewigkeits- und zugleich Mahncharakter. Vielleicht muss man
so exponiert wohnen wie Lena von Goedeke, in einer wilden Welt radikalen
Wandels, um auf den Gedanken zu kommen, „Aggregate“ zu erschaffen.
„Aggregate“ ist eine der stärksten Arbeiten der Ausstellung „Fast nichts.
Dimensionen von Abwesenheit“, mit der es dem [2][Osnabrücker Kunstraum Hase
29] erneut gelingt, unter Beweis zu stellen, dass zeitgenössische Kunst von
Rang nicht nur in Metropolen stattfindet.
„Fast nichts“, ein Raum fast ganz in Weiß, bildet den Abschluss des
Jahresprogramms „Nähe und Distanz“ der kleinen Galerie. Mit dem sei man
„angetreten unsere Wahrnehmung zu hinterfragen“, sagt Kuratorin Elisabeth
Lumme. Es macht sehr deutlich, dass zweite und dritte Blicke sich lohnen.
## Modellliert wie von Rohstoffexploratoren
Auch bei Lena von Goedekes topografischer Gitternetzlandschaft, dem
Hintergrund ihrer DNA-Zylinder. In monatelanger Skalpell-Arbeit so
ausgeschnitten, dass ihre Bergkuppen und Schluchten dreidimensional wirken,
obwohl sie es nicht sind, zeigt sie eine Menschenleere, die dennoch vom
Menschen zeugt. Modelliert wie von Rohstoffexploratoren, warnt sie vor der
Ausbeutung der Natur. Die ist auf Svalbard Alltag.
Alicja Kwades „Selbstporträt“ legt ähnliche Existenzspuren wie „Aggrega…
Eine weiße Leinwand hinter Glas, und auf ihr, in Ampullen, die Elemente,
aus denen jeder Mensch besteht, vom Kohlenstoff bis zum Schwefel. „Aus Brom
bestehen wir offenbar auch!“, stellt Lumme fest, während sie sich durch die
toxikologischen Analysen der Sicherheitsdatenblätter wühlt, die Kwade
mitgeliefert hat. Auch bei Kwade ist der Mensch abwesend und anwesend
zugleich, als Individuum wie als Lebensform.
„Fast nichts“ erzeugt Leeren, die nie nur leer sind. Rückstände und Relik…
begegnen uns, Abstraktionen und Andeutungen von Dasein. Die symbolistische
Rätselkraft, die alldem innewohnt, öffnet Augen: Was ist der Mensch, so
sehr er seine Umwelt prägt? Fast nichts, alles in allem. In „Sugar“, einem
comichaft surrealen Apokalypse-Video von Bjørn Melhus, löscht er sich
sogar völlig aus, durch einen selbstgewollten Alptraum an Gewalt und
Zerstörung.
Der letzte Mensch lebt hier dysfunktional dem Tod entgegen, sozial
deformiert, ein psychisches Wrack. Der titelgebende KI-Roboter, bemüht um
die Nachahmung positiven menschlichen Verhaltens, machtlos gegen den
Verfall seiner Erbauer, löst sich am Ende ebenfalls auf, vernetzt sich mit
einer Lichtteilchen-Energie, aus der neues Dasein entsteht. Satzfetzen
hämmern uns entgegen, Gedankenfragmente rauschen vorbei. Auch sie sind
Leere. Klug ist das.
Die verblüffendste Halb-Unsichtbarkeit der Schau, schon rein optisch, ist
Kati Gausmanns Siebdruck „Me moved“. Auch hier sind wir in Norwegen,
nördlich des Polarkreises, in Andenes, und das ist Mitternachtssonnen-Land.
Von ihr hat Gausmann sich bescheinen lassen, hat die Schatten
nachgezeichnet, die sie warf, rund um die Uhr, an Tagen an denen die Sonne
niemals unterging.
Je nach Beleuchtung sieht der Betrachter nur Weiß auf Weiß, erst beim
zweiten oder dritten Blick gibt das Blatt sein Geheimnis preis. Hier geht
es um den Zauber des inneren Lichts, denn auch das wirft Schatten.
Nicht alle der acht künstlerischen Positionen der Schau sind ähnlich
spannende Funde. Die leeren Nachrichtenstudios, die Shigeru Takato
fotografiert hat, von Königspalast- bis Raumschiff-Optik, laden zwar dazu
ein, sich die Moderatoren hinzu zu imaginieren, die News aus aller Welt.
Aber das fesselt nicht, dafür ist es in Idee und Ausführung zu nüchtern, zu
dokumentarisch.
Und Christine Wamhofs und Tim Roßbergs meditatives Video, auf dem in
Zeitlupe Gegenstände herabfallen, vom Einmalrasierer bis zum Kreppband, vor
einem schwarzen Nichts, ist zwar ein starkes Bild von Vergänglichkeit und
Verschwinden, krankt aber daran, dass es in Osnabrück schon einmal zu sehen
war, noch gar nicht lange her, am Turm des [3][Felix-Nussbaum-Hauses des
Museumsquartiers MQ4], weit monumentaler.
## Zauber des inneren Lichts
Aber das macht nichts, denn „Fast nichts“ gelingt sehr viel. Nicht am
unwichtigsten: Ernst mit Witz zu paaren. Gleich am Eingang verstören
Matthias Stuchteys „Schmarotzer erster Ordnung“, kleine Cluster leerer
Architekturen aus Fundholz. Skurril wirken sie, an ihren raumhohen
Vierkantstangen. Sind es Parasiten im Konkurrenzkampf? Sind es durch Krieg
und Flucht verwaiste Wohnungen?
Apropos skurril: Wer im Melhus-Videoraum hinten links den Vorhang beiseite
schiebt, gelangt in eine zweite Kunstzone – den Toilettentrakt. Auch hier
finden sich, als inoffizielle Dauerschau, Spuren vergangenen Daseins.
„Styx“ hat jemand rechts neben das Klo geschrieben. Hier fließt also der
Unterwelt-Fluss der griechischen Mythologie, das Wasser des Grauens. Und
über dem Spiegel steht „Fake“. Graffitohafte Botschaften hintersinniger
Besucher.
„Fast nichts. Dimensionen von Abwesenheit“: [4][Kunstraum] [5][Hase 29],
Hasestr. 29/30, Osnabrück. Di, Mi, Fr, 14–18 Uhr; Do, 16–20 Uhr und Sa,
11–15 Uhr. Bis 28. Januar
11 Dec 2022
## LINKS
[1] /Musiklager-auf-Spitzbergen/!5786230
[2] /Gespraech-ueber-Transgeschlechtlichkeit/!5887519
[3] /Historiker-zu-Kolonialismus-in-Osnabrueck/!5838427
[4] https://hase29.de/
[5] https://hase29.de/
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Bildende Kunst
Kunsthalle
Kunst
Osnabrück
Ausstellung
Zeichnung
Schwerpunkt Stadtland
Kleidung
Diskriminierung
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