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# taz.de -- Umgang mit Klimaprotesten: Politik der Doppelmoral
> Lkw-Blockaden? Kein Problem! Klimablockierer? Härte des Rechtsstaats!
> Warum manche Formen zivilen Ungehorsams Politiker besonders provozieren.
Bild: Reste zivilen Ungehorsams: die Hände eines Aktivisten nach einer Klebeak…
Anfang 1984 kam es in Deutschland zu Straßenblockaden, die alle Aktionen
der heutigen Klimaaktivisten in den Schatten stellen. Lkw-Fahrer
blockierten über Tage die Inntal-Autobahn, um gegen die langsame
Abfertigung am Zoll zu protestieren.
Angesichts der heftigen Reaktionen auf die [1][Straßenblockaden der
Klimaaktivisten] der Letzten Generation könnte man vermuten, dass besonders
die als Garanten des Rechtsstaats auftretenden Politiker von [2][CDU und
CSU] seinerzeit die protestierenden Kraftfahrer als „kriminelle Straftäter“
beschimpft und Forderungen an die Justizminister aufgestellt hätten, die
Verbrecher auf acht Rädern „einfach wegzusperren“. Man könnte auch
annehmen, dass Blockierer in konsequenter Anwendung des bayerischen
Polizeiaufgabengesetzes in Präventivhaft genommen wurden.
Das Gegenteil war der Fall. Die Polizei ließ die Lkw-Blockaden auf den
Straßen stehen und notierte nicht einmal die Autokennzeichen der Fahrzeuge.
Bayrische Politiker setzten keine Hundertschaften der Polizei in Marsch, um
die Straßen zu räumen, im Gegenteil: Minister, Staatssekretäre und
Abgeordnete der CSU pilgerten zu den Blockierern, um ihre Solidarität zum
Ausdruck zu bringen. Der damalige bayrische Ministerpräsident Franz-Josef
Strauß warf sich sogar in Trucker-Kluft, um seine „volle Unterstützung“ m…
den Protestierenden zu zeigen.
Aus juristischer Perspektive müsste man davon ausgehen, dass Politiker auf
Straßenblockaden stets gleich reagieren, unabhängig vom Inhalt der
Proteste. Denn anders als bei angemeldeten Kundgebungen, bei denen die
kurzzeitige Behinderung des Verkehrsflusses durch das Demonstrationsrecht
gedeckt ist, handelt es sich bei Straßenblockaden eindeutig um eine
illegale Protestform.
## Es gelten unterschiedliche Standards
Man müsste deswegen erwarten, dass die sich zu den Prinzipien des
Rechtsstaat bekennenden Politiker zwar ein mehr oder minder ausgeprägtes
Verständnis für die Anliegen der Protestierenden äußern, aber die Proteste
doch aufgrund ihrer Illegalität konsequent verurteilen. Aber scheinbar
existieren für Lkw-Fahrer, die über Tage Autobahnen versperren, und
Klimaaktivisten, die für einige Stunden eine Straße blockieren,
unterschiedliche Standards. Wie ist das zu erklären?
Die einfachste Antwort ist, dass das Bekenntnis zu rechtsstaatlichen
Prinzipien stark von den politischen Positionen der jeweiligen Parteien
abhängt. Parteien mit Nähe zur Autolobby zeigen größere Toleranz für
Gesetzesverstöße, wenn durch Blockaden das Prinzip der freien Fahrt für
freie Bürger durchgesetzt werden soll, reagieren aber allergisch, wenn sich
die Proteste gegen ihre autofreundliche Verkehrspolitik richten.
Parteien, die zum Schutz des Klimas den Autoverkehr in den Städten
einschränken wollen, sympathisieren mit Aktionen der blockierenden
Klimaaktivisten, würden aber auf konsequenter Durchsetzung des Rechts
bestehen, wenn Autofahrer als Protest gegen ein Tempolimit kollektiv mit
100 km/h durch die Stadt heizen würden. Diese Erklärung mit
unterschiedlichen Parteipräferenzen ist sicher nicht falsch, kann die
Heftigkeit der Reaktionen auf die Proteste der Klimaaktivisten aber nicht
erklären.
## Der inszenierte Kontrast provoziert
Unabhängig von den konkreten politischen Forderungen scheinen sich
Politiker durch den Anspruch einer moralischen Überlegenheit der
Klimaaktivisten provoziert zu fühlen. Bewegungen sind dadurch
gekennzeichnet, dass sie für allgemein akzeptierte Werte wie
Menschenrechte, Weltfrieden oder Klimaschutz einstehen, aber dabei
suggerieren, dass diese nur mit den von ihnen geforderten einschneidenden
Maßnahmen erreicht werden können. Die Moralisierung der Werte führt dazu,
dass diejenigen, die den weitgehenden Maßnahmen nicht zustimmen wollen, die
geballte Missachtung der Bewegung gezeigt bekommen.
Deswegen provoziert gerade der inszenierte Kontrast zwischen dem hehren
Wert der Menschheitsrettung der Protestierenden und den an unbeschränkter
individueller Mobilität orientierten Bedürfnissen der blockierten
Autofahrer und der visuell eindrucksvolle Gegensatz zwischen den bewusst
friedlichen Blockierern und aufgebrachten Autofahrern.
Wir wissen von den Protesten gegen die britische Kolonialpolitik oder gegen
die Apartheidpolitik in Südafrika, dass nicht der Einsatz von Gewaltmitteln
durch Protestierende, sondern gerade der Gegensatz zwischen gewaltfreien
Protesten und einer zum Einsatz staatlicher Gewalt bereiten Politik die
heftigsten Reaktionen bei Politikern hervorrufen. Schlimmer als der Einsatz
von Gewalt bei Protestaktionen scheint für Politiker die Symbolisierung
einer moralischen Überlegenheit der Protestierenden durch illegale, aber
inszeniert friedliche Proteste.
## Aufmerksamkeit ist für erfolgreichen Protest notwendig
Gerade die konsequente Gewaltlosigkeit, die Inkaufnahme erheblicher
persönlicher Konsequenzen und die selbstverständliche Akzeptanz der
Bestrafung scheint paradoxerweise Politiker dazu zu verführen, die
Protestierenden mit Terroristen zu vergleichen. Wenn es um die Abkühlung
des Gemüts der adressierten Politiker ginge, müssten die Klimaaktivisten
bei ihren nächsten Straßenblockaden nicht die Rettung der Menschheit in
Anspruch nehmen, sondern lediglich auf ihren ganz individuellen
Überlebensdrang verweisen.
Statt sich unter hohem persönlichen Risiko an die Straßen zu kleben,
müssten sie diese mit 36-Tonnern blockieren und würden dadurch nicht durch
inszenierte Schwäche provozieren. Die Reaktionen von Politikern auf
[3][Straßenblockaden von Landwirten] wegen zu geringen staatlichen
Subventionen oder von Autofahrern wegen gestiegenen Benzinpreisen zeigen,
dass diese deutlich milder reagieren, weil sie sich davon moralisch nicht
unter Druck gesetzt fühlen. Aber um diese Abkühlung geht es den
Protestierenden nicht.
Die Erregung der Politiker angesichts der Illegalität der Protestaktionen
ist für jede Bewegung notwendiger Teil zur Aufmerksamkeitsproduktion für
ihr Anliegen.
15 Dec 2022
## LINKS
[1] /Ermittlungen-gegen-die-Letzte-Generation/!5902589
[2] /Proteste-der-Letzten-Generation/!5902293
[3] /Bauernproteste-in-Deutschland/!5868366
## AUTOREN
Stefan Kühl
## TAGS
Letzte Generation
Aktivismus
Ziviler Ungehorsam
GNS
Kolumne Materie
Letzte Generation
Schwerpunkt Klimawandel
Clemens Tönnies
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