# taz.de -- Nationale Strategie gegen Antisemitismus: Gefährliche Normalität | |
> Die Bundesregierung legt eine Strategie gegen Antisemitismus vor. Den | |
> Handlungsbedarf zeigen nicht nur jüngste Anschläge auf jüdische | |
> Einrichtungen. | |
Bild: In der Nacht auf den 18. November fielen Schüsse auf das Rabbinerhaus de… | |
Es war zu Monatsbeginn, als [1][Josef Schuster], Präsident des Zentralrats | |
der Juden, einen weiten Bogen schlug. Am Gedenktag an die NS-Pogrome vom 9. | |
November 1938 erinnerte er an die damals flächendeckenden Angriffe auf | |
Juden, an den „schlimmsten Tag der deutschen Geschichte“, der „direkt in | |
die Shoah“ führte. Und er verwies darauf, dass auch heute noch und wieder | |
Hakenkreuze an Schulen geschmiert werden, dass Geflüchtetenunterkünfte | |
brennen. Wohin dieser Hass zuweilen führe, das könne man „nicht häufig | |
genug betonen“, mahnte Schuster. Man müsse diese Erinnerung „immer wieder | |
aufs Neue verteidigen“. | |
Wie nötig das ist, zeigte sich erst vor wenigen Tagen. In Essen schlugen | |
mehrere Schüsse in das Rabbinerhaus der Alten Synagoge ein. Kurz darauf | |
wurde ein Mann festgenommen, der am gleichen Abend einen Brandsatz auf eine | |
Schule neben der Bochumer Synagoge geworfen und einen weiteren Mann | |
angestiftet haben soll, einen Brandanschlag auf das Gebetshaus in Dortmund | |
zu verüben, wozu es glücklicherweise nicht kam. Der Vorfall sorgte für | |
bundesweites Entsetzen. Noch laufen die Ermittlungen, noch ist einiges | |
unklar. Klar ist aber: Hier wurden offensichtlich Jüd:innen gezielt ins | |
Visier genommen. | |
Und es ist bei Weitem kein Einzelfall. Laut Bundeskriminalamt [2][stiegen | |
antisemitische Straftaten im Jahr 2021] um 28 Prozent an, von 2.351 auf | |
3.027 Delikte. Im Schnitt acht Straftaten jeden Tag also. Auch in diesem | |
Jahr zählte die Polizei allein bis Mitte Oktober erneut 1.555 Straftaten: | |
Übergriffe auf Kippaträger, antisemitische Beleidigungen oder | |
Hetzpostings. Der Hass hört einfach nicht auf. Und das, obwohl nach dem | |
Fanal von Halle im Jahr 2019, dem rechtsterroristischen Angriff auf die | |
dortige Synagoge, allseits entschlossene Gegenwehr versprochen wurde. | |
Wirklich und nachhaltig aufzurütteln scheinen die antisemitischen Vorfälle | |
aber inzwischen nur noch wenige. Es droht vielmehr schleichend eine | |
Gewöhnung einzusetzen. Deshalb kommt es zur rechten Zeit, dass die | |
Bundesregierung über ihren Antisemitismusbeauftragten Felix Klein am | |
Mittwoch erstmals eine „Nationale Strategie gegen Antisemitismus“ vorlegte, | |
gut 50 Seiten stark. Zwei Jahre lang wurde sie erarbeitet, sie ist das | |
Ergebnis eines Auftrags der EU an ihre Mitgliedstaaten. Von einem | |
„Meilenstein“ spricht Klein. | |
## Antisemitismus auf Pro-Palästina-Demos | |
Alle hiesigen Maßnahmen gegen den antisemitischen Hass sollen darin | |
gebündelt und geprüft werden, in fünf Säulen. Was wissen wir über die | |
Bedrohung durch Antisemitismus? Wie lässt sich dieses Wissen vermitteln, an | |
Schulen, in Arbeitsstätten, im Alltag? Wie wird an Antisemitismus und | |
NS-Verbrechen erinnert? Wie konsequent werden die Straftaten bekämpft? Und, | |
fünftens, wie stärken wir jüdisches Leben und machen es sichtbar? „Jüdinn… | |
und Juden sollen sich des Rückhalts in der Bevölkerung sicher sein“, heißt | |
es in der Präambel des Textes. Aber dessen sicher können sie sich eben | |
nicht sein. | |
Davon zeugen nicht nur die Polizist:innen, die bis heute vor Synagogen | |
oder jüdischen Kindergärten und Schulen stehen. Die Bedrohungen kommen aus | |
fast allen Richtungen. Dem Rechtsextremismus bleibt der Antisemitismus bis | |
heute immanent, für ihn bleiben Juden ein zentrales Feindbild, es bietet | |
dem Hass weiter den größten Nährboden. | |
Aber auch auf Pro-Palästina-Demonstrationen ertönen hierzulande | |
antisemitische Parolen. Die jüngste documenta und die BDS-Bewegung | |
unterstreichen, dass auch Kultur und Intellektualismus anfällig sind. Auch | |
auf den Coronademonstrationen florierten offen antisemitische | |
Verschwörungsmythen, Protestierende raunten von einer geheimen, jüdischen | |
Elite, die im Hintergrund das Weltgeschehen lenke. Dazu bricht sich im | |
Internet antisemitischer Hass auf Social-Media-Kanälen Bahn, mit | |
gefährlich grenzenloser Reichweite. | |
Dass der Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft wuchert, ist | |
dabei keine neue Erkenntnis. Die gerade erst veröffentlichte | |
[3][Mitte-Studie der Universität Leipzig] unterstreicht das noch einmal. | |
Knapp 30 Prozent der Befragten stimmten dort zumindest teilweise der | |
Aussage zu, dass der Einfluss von Juden „zu groß“ sei. Knapp ein Viertel | |
erklärte auch teilweise, Juden würden „nicht so recht zu uns passen“. Ein… | |
„Schuldabwehrantisemitismus“, wie es die Forscher:innen nennen, stimmten | |
gar 60 Prozent der Befragten zu, mit Aussagen wie: „Wir sollten uns lieber | |
gegenwärtigen Problem widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre | |
vergangen sind.“ | |
Hier schlummert die wohl größte Gefahr: dass sich der Antisemitismus in der | |
Breite einnistet, im Alltag. Das er hingenommen wird – und sich die | |
Vorurteile immer weiter verstärken. Ein Nachlassen der Ressentiments ist | |
jedenfalls momentan nicht absehbar. Krisenzeiten verschärfen | |
gesellschaftliche Polarisierungen, auch die Suche nach Sündenböcken – als | |
die Jüd:innen von jeher herhalten müssen. Die Coronaproteste | |
illustrierten dies bereits eindrücklich. | |
All das ist nicht hinzunehmen, weshalb eine Maßnahmennachschärfung laut der | |
„Nationalen Strategie“ richtig ist. Immer wieder werden antisemitische | |
Straftaten vor Gerichten mit milden Strafen geahndet, statt klare Zeichen | |
zu setzen. Immer mehr frisst sich eine Schlussstrichdebatte in die Mitte | |
der Gesellschaft. Auf Schulhöfen oder in Fußballstadien ist „Jude“ wieder | |
ein gängiges Schimpfwort. Dabei liegt der Text auch richtig, wenn er | |
festhält, dass dies nicht nur Jüd:innen bedroht, sondern die Gesellschaft | |
als Ganzes. Denn der Hass zeigt auf, wie gefestigt unsere Demokratie im | |
Ganzen ist – oder eben nicht. | |
Bei alldem bleibt die Strategie aber erst mal nur Papier. Jetzt müssen die | |
Maßnahmen auch in der Gesellschaft Entfaltung finden, in den Schulen, | |
Sportvereinen, Behörden – im Alltag. Wir alle sind gefordert, dem | |
Antisemitismus entgegenzutreten und das Papier mit Leben zu füllen. Dass | |
der Hass nicht einfach von selbst verschwinden wird, auch daran erinnerte | |
Zentralratspräsident Josef Schuster Anfang November. „Wir dürfen als | |
Gesellschaft hier nicht wegschauen und das einfach so hinnehmen“, erklärte | |
er damals. Diese Lehre aus dem 9. November 1938 müsse „uns jeden Tag im | |
Jahr bewusst sein und leiten“. | |
30 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Josef-Schuster-ueber-Bundeswehr-Rabbis/!5651450 | |
[2] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5766377 | |
[3] https://www.theol.uni-leipzig.de/fileadmin/ul/Dokumente/221109_Leipziger-Au… | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
## TAGS | |
Antisemitismus | |
Antisemitismus-Vorwurf | |
Hassverbrechen | |
Verbrechen | |
NS-Verbrechen | |
NRW | |
GNS | |
Fußball und Politik | |
Rechter Terror in Berlin-Neukölln | |
Synagoge | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Judenhass im Jugendfußball: Tatort Fußballplatz | |
Sie haben übelste antisemitische Drohungen ausgestoßen und den Hitlergruß | |
gezeigt: Zwei A-Junioren wurden in Berlin nun für zwei Jahre gesperrt. | |
Neukölln-Untersuchungsausschuss: Am rechten Netzwerk vorbei gesehen | |
Die Polizei habe die Anschläge seit 2009 nicht als Serie offenbar immer | |
gleicher Täter erkannt, sagt Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen | |
Rechts. | |
Neben Alter Synagoge in Essen: Schüsse auf Rabbinerhaus | |
Neben der Alten Synagoge in Essen sind mindestens vier Schüsse abgegeben | |
worden. Verletzt wurde niemand, die Polizei fahndet nach dem Täter. |