# taz.de -- Identitätsprüfung bei Twitter: Wer bin ich, und wo ist der Haken? | |
> Twitter bot blaue Haken zum Verkauf an. Dann brachten Fake-Accounts | |
> Aktienkurse zum Einsturz. Wir brauchen neue Formen der Identitätsprüfung. | |
Bild: Blaue Häkchen haben sich als neues Geschäftsmodell bei Twitter nicht du… | |
Sollte es Sie kalt lassen, was derzeit mit [1][Elon Musk und der Plattform | |
Twitter] passiert, so ist das verzeihlich. Das soziale Medium mit dem | |
blauen Vogel ist eines der am wenigsten genutzten in Deutschland. Gerade | |
mal 4 Prozent der Internetnutzer*innen hierzulande schauen täglich | |
bei Twitter rein, [2][schätzt die aktuelle ARD/ZDF-Onlinestudie]. | |
Andererseits: Wenn Ihnen der demokratische Diskurs wichtig ist, muss es Sie | |
leider doch interessieren, was Elon Musk mit Twitter macht. Twitter mag für | |
sehr wenige Menschen die Hauptplattform sein, dafür aber (bisher) für | |
besonders viele Menschen des öffentlichen Lebens. „Politiker, Journalisten | |
und Psychopathen“, so hat die CSU-Politikerin Dorothee Bär die | |
Twitter-Crowd mal zusammengefasst. Und mindestens zwei davon beeinflussen | |
nun mal, worüber in einer Demokratie gesprochen wird. | |
Twitter entwickelte sich Ende der 2000er zu der Plattform, auf der | |
politische Informationen hin- und hergeschoben wurden. Es war die „Lobby“ | |
sozusagen: Journalist*innen, Politiker*innen, Aktivist*innen und | |
Organisationen im direkten Dialog, kurz und knackig. Natürlich wurde da | |
viel gelogen, viel gefälscht und viel Schabernack getrieben. Deswegen hatte | |
Twitter schon 2009 den „Haken“ eingeführt, ein Zertifikat für die | |
Identität. Dank Haken weiß ich, dass das da wirklich Annalena Baerbock ist, | |
die getwittert hat, und nicht etwa ein Satireaccount. | |
## Lügen zuordnen können | |
So eine (relativ) verlässliche Identifikation ist im digitalen Diskurs | |
äußerst wichtig, um Informationen und Aussagen der richtigen Quelle | |
zuzuordnen. Vor der Übernahme durch Elon Musk hat Twitter darauf geachtet, | |
dass der „Haken“ vertrauenswürdig bleibt. Damit hat Elon Musk Schluss | |
gemacht. Für ein paar Tage konnte sich vergangene Woche plötzlich jede*r | |
einen Haken kaufen – oder zumindest etwas, das so aussah. Denn | |
ID-verifiziert wurde nicht mehr. | |
Prompt kam es zu jeder Menge Fake News von Fake-Accounts. Der | |
Folgenschwerste war vermutlich ein Tweet, der von einem scheinbar | |
verifizierten Account des Pharmaunternehmens Eli Lilly kam. „Wir freuen uns | |
zu verkünden, dass Insulin jetzt kostenlos ist.“ Das war Satire, völlig | |
egal: [3][Der Aktienkurs des Insulinherstellers fiel prompt]. Das neue, | |
frei verkäufliche Häkchen hat Musk daraufhin erst mal wieder abgeschafft. | |
Da war der Schaden schon passiert. Für einen transparenten Diskurs im Netz | |
ist der Verlust des Vertrauens in den Twitter-Haken ein großer Mist. | |
Zwar bedeutet ein Twitter-Haken keineswegs, dass die zertifizierte Person | |
immer die Wahrheit sagt. Aber für die Demokratie ist es eben genauso | |
wichtig, die Lügen den richtigen Lügner*innen zuzuordnen. | |
## Hausmeister:in des Internets | |
Nun mögen Sie sagen: „Schnickschnack, früher, da hatten Reporter*innen | |
einfach angerufen, bei Baerbock oder bei Eli Lilly, wenn sie was wissen | |
wollten.“ Recht haben Sie. Das sollten wir selbstverständlich weiterhin | |
tun. Allerdings fehlt uns für den klassischen Rechercheweg in manchen | |
Fällen einfach die Zeit. | |
Neuerdings sind Journalist:innen nämlich auch die Hausmeister:innen | |
des Internets. Sie müssen korrigierend einschreiten, wenn sich mögliche | |
Falschinformationen verbreiten, häufig binnen Stunden. Ein korrigierender | |
Artikel, der erst am nächsten Tag erscheint, kommt oft zu spät. | |
Informationsketten schnell zurückzuverfolgen ist eine wichtige Strategie im | |
Kampf gegen Falschbehauptungen oder Fälschungen. Je mehr Quellen im Netz | |
„zertifiziert“ sind, desto größer die Chance, die Fake News abzufangen, | |
noch ehe sie sich verbreitet. | |
Und so ist es wahnwitzig, dass wir seit Jahren Fake News diskutieren, | |
derweil aber das ID-Zertifizieren den großen privatwirtschaftlichen | |
Tech-Unternehmen überlassen haben. Unternehmen also, die diese so zentrale | |
Funktion im digitalen Diskurs eher nebenbei erfüllen – und auch nur, | |
solange kein übereifriger und etwas unsteter Charakter das Steuer | |
übernimmt. | |
## Prüfung durch Behörden statt Unternehmen | |
Technisch ginge das längst anders. Einen Vorschlag hat Johannes Sedlmair, | |
Wirtschaftsinformatiker an der Universität Luxemburg. Sedlmeier forscht zum | |
Thema „Sicherheit und Zuverlässigkeit in der digitalen Kommunikation“. Er | |
sagt: „Es gibt bereits jetzt digitale Zertifikate, die zum Identifizieren | |
von Personen und Organisationen im öffentlichen Diskurs benutzt werden und | |
die relativ unabhängig von privaten Unternehmen wie Twitter funktionieren.“ | |
Und zwar Zertifikate, die wir alle kennen, von Webseiten: Wenn in der | |
Adresszeile einer Webseite „https“ zu lesen ist, dann wurde die Echtheit | |
der Webseite per SSL-Zertifikat bestätigt. „SSL-Zertifikate erlauben die | |
Prüfung der Echtheit von Webseiten, wenn man sie anwählt“, sagt Sedlmeir, | |
„sodass man weiß: Das hier ist wirklich die Webseite der Organisation, die | |
ich suche, und kein Fake.“ | |
Sedlmeir findet, die Protokolle, die mit dem SSL-Zertifikat in Verbindung | |
stehen, wären technisch geeignet, um [4][eine Art dezentralen | |
Identifikations-Haken] herzustellen: Für Personen des öffentlichen Lebens, | |
die sich dann gegenseitig in der Kommunikation ausweisen könnten. „Jeder | |
behält seine Zertifikatsdatei auf dem eigenen Handy, genau wie jeder seinen | |
Presseausweis im Portemonnaie behält“, sagt Sedlmeir. „Das ist die | |
dezentralste Speicherform, die es gibt.“ | |
Auch Twitter, Mastodon und Co könnten diese Zertifikate nutzen. Aber sie | |
wären eben nicht mehr die ausstellenden Behörden. Diese Rolle würden | |
Institutionen übernehmen, die großes Vertrauen genießen. Für | |
Journalist*innen könnte das der Presserat sein, die | |
Bundespresskonferenz, Journalistenverbände und andere unabhängige | |
journalistische Organisationen. | |
## Anspruch auf Anonymität | |
Der Nachteil SSL-ähnlicher Zertifikate ist, dass die Menschen, die sie | |
benutzen, dadurch leicht zu tracken sind. Sie eignen sich also nur für | |
diejenigen, die sowieso in der Öffentlichkeit stehen. Für Privatleute, die | |
einen Anspruch auf Anonymität im Netz haben, wird es etwas komplizierter. | |
[5][Die EU arbeitet bereits an einem freiwilligen digitalen Ausweis für | |
jedermensch]. | |
Das könnte allerdings dauern, gerade weil der Datenschutz richtig gut sein | |
muss. In der Zwischenzeit könnte die Zivilgesellschaft das „Hakenverteilen“ | |
selbst in die Hand nehmen. Wir bitten ja schließlich auch nicht Google, uns | |
doch bitte Presseausweise auszustellen. | |
19 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Twitter-/-X/!t5008995 | |
[2] https://www.futurebiz.de/artikel/social-media-nutzung-deutschland-2022/ | |
[3] https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/twitter-chaos-aktienkurs-von-… | |
[4] /Infrastruktur-in-Deutschland/!5885932 | |
[5] https://netzpolitik.org/2022/europaeische-id-wallet-keineswegs-nur-lob/ | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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