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# taz.de -- Nordmazedonien-Doku in Lübeck zu sehen: Ein Krieg kann Häuser bau…
> In „Retreat“ zeigt die Hamburgerin Anabela Angelovska, was
> US-Militäteinsätze, Arbeitsmigration und den Bauboom auf dem Balkan
> miteinander verbindet.
Bild: Mehr Statussymbol als Zuhause: Neubau in Kumanovo
Hamburg taz | In der Stadt Kumanovo [1][in Nordmazedonien] ist ein
Wirtschaftswunder ausgebrochen: Die SUV-Dichte ist so hoch wie kaum an
einem anderen Ort in Osteuropa – und es herrscht ein geradezu manisch
anmutender Bauboom. Vor allem neu gebaute Villen im Stil des sogenannten
Turbo-Urbanismus, deren Hauptinspiration amerikanische [2][Seifenopern] zu
sein scheinen, haben das Stadtbild seit Anfang der 2000er-Jahre radikal
verändert. Dabei herrscht in der Region die gleiche Wirtschaftskrise wie
überall im restlichen Balkan.
Eine Arbeiterin verdient bei einer Zulieferfirma für Mercedes-Benz nicht
mehr als 200 Euro im Monat, doch es ist noch nicht lange her, dass hier
Tausende ein Gehalt von 6.000 Euro und mehr bezogen. Woher kam dieser
Reichtum? Er war eine Folge des Krieges: Bei ihren militärischen Einsätzen
in Afghanistan und dem Irak brauchten die Streitkräfte der Vereinigten
Staaten von Amerika vor Ort eine Infrastruktur – und dazu gehörten
Dienstleister*innen, die gut bezahlt wurden. Viele davon wurden in
Nordmazedonien rekrutiert und arbeiteten jahrelang in diesen akuten
Krisengebieten.
## Hoher Preis
Die [3][Hamburger Filmemacherin] Anabela Angelovska kennt Kumanovo, ihr
Vater stammt von dort. Auf Besuch bei der Familie fiel ihr auf, wie extrem
sich die Stadt verändert hatte. Sie hat darüber den knapp 30 Minuten langen
Dokumentarfilm „Retreat“ gemacht, in dem sie von Architektur und
Postkolonialismus erzählt – und dem hohen gesundheitlichen Preis, den die
Arbeitsmigrant*innen für diese gut bezahlte Arbeit entrichten müssen:
Die Arbeitsbedingungen sind extrem, in den Camps im Kriegsgebiet waren
bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge an der Tagesordnung, sodass sie
erleben mussten, wie etwa Arbeitskolleg*innen getötet wurden. Bis
heute leiden viele von ihnen an posttraumatischen Belastungsstörungen.
Der Film beginnt mit den neuen Häusern in der Stadt, und auch später zeigt
Angelovska mehr Beton als Menschen: Protzig und seelenlos wird da gebaut;
diese Häuser sind nicht dazu da, bewohnt zu werden, es sind Statussymbole,
die beweisen sollen, dass hier Träume erfüllt wurden.
Aber auch anderes lernen wir: Etwa, dass es in dieser Welt eine gute
Geschäftsidee ist, Videobotschaften zu produzieren, in denen Eltern, in
Mickymaus-, Batman- oder Ironman-Kostüme verkleidet, ihren Kindern zum
Geburtstag gratulieren: Viele Familien lebten hier jahrelang getrennt.
Beinahe wie Kontrapunkte zu dieser kalten, leeren Lebenswelt lässt
Angelovska drei Protagonist*innen ihre Geschichten erzählen: Eine
Mutter baut Häuser für ihre drei erwachsenen Kinder, die ihr das Geld
schicken, aber nur in ritualisierten Telefonanrufen zu erreichen sind. Ihr
Familienleben besteht darin, dass sie auf einer Baustelle die kahlen Räume
ausfegt.
Dann gibt es den Arzt, der sich darauf spezialisiert hat, die psychischen
Krankheiten der Heimgekehrten zu therapieren – vor allem schreibt er aber
Anträge auf Schadenersatz und ist sichtlich stolz, dass bisher noch keiner
abgelehnt wurde: Gezahlt werden bis zu 200.000 Euro, aber Geld ist hier ja
gerade nicht das Problem.
Der letzte Protagonist ist ein Veteran, ein Heimgekehrter, der selbst an
PTSD leidet. Auf den ersten Blick scheint er sich ganz besonders schlecht
für einen Filmauftritt zu eignen. Aber gerade [4][sein unbewegtes Gesicht
und seine monotone Stimme] verdeutlichen ja sein Krankheitsbild – sehr viel
eindrücklicher als der Inhalt dessen, was er erzählt.
## Film mit Leerstellen
Der Film ist voller Leerstellen. Die Arbeitsmigrant*innen selbst sieht
man nicht – sie sind ja in der Fremde. Aber es gibt auch darum so wenig
Menschen in diesem Film, weil nur wenige zugelassen haben, gefilmt zu
werden. Das Thema Kriegsfolgen ist tabu; auch deshalb, weil die Kranken ihr
Trauma neu durchleben müssten, würden sie darüber reden.
[5][Nach dem Dreh] im Jahr 2019 glaubte Anabela Angelovska eigentlich, sie
habe zu wenig Material zusammen. Nach dem Ausbruch von Corona war jedes
Nachdrehen dann aber unmöglich. Die Lösung fand sie am Schneidetisch: Die
Abwesenheit der Menschen ist ja der entscheidende Punkt, was blieb, waren
diese unbewohnten Häuser mit ihrem kalten Luxus. Auch von einer
Militärmacht, die in ihren Kriegen die Dienstleistungen von
Arbeiter*innen aus armen Ländern verrichten lässt, erzählt Angelovska
indirekt – aber deutlich. Für diese Betroffenen mag der Lohn besonders hoch
sein, aber im Grunde ist es dieselbe Geschichte wie von
Arbeitsmigrant*innen überall sonst auch.
4 Nov 2022
## LINKS
[1] /Nordmazedonien/!t5544579
[2] /Soap/!t5060771
[3] https://anabela-angelovska.de/hakie-haki/de/der-film/
[4] /Archiv/!s=&Thesaurus=GE07/
[5] https://www.youtube.com/watch?v=Ahhip_qO9x4
## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Balkan
Architektur
Dokumentarfilm
Filmfestival
Lübeck
US-Army
Arbeitsmigration
Stadtentwicklung
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