# taz.de -- Kinder und Krieg in Armenien: „Was tun wir, wenn die Bösen komme… | |
> In der Südkaukasusrepublik Armenien ist der Krieg gegen den Nachbarn | |
> Aserbaidschan allgegenwärtig. Das wirft Fragen auf – auch bei Kindern. | |
Bild: Armenische Jungen nahe der Grenze zu Aserbaidschan | |
Morgens bringe ich meinen Neffen in den Kindergarten. Mein Bruder ist seit | |
einem Monat an der Frontlinie: in Armenien bewachen jetzt schon Menschen | |
mit Doktortitel die Grenze zu Aserbaidschan. Alle, die noch etwas zu | |
verlieren haben, sind bei uns jetzt Soldaten. Mein Neffe Mowses sitzt im | |
Bus immer auf meinem Schoß und stellt alle möglichen Fragen. | |
„Sona, wer ist das?“, fragt er beim Anblick eines großen Graffito auf einer | |
Wand. | |
„Wardan Stepanjan, genannt Duschman Wardan“, antworte ich. (Armenischer | |
Militärkommandant während des ersten Krieges um Bergkarabach 1988–1994; | |
Anm. d. Übersetzerin) | |
„Und warum ist da sein Bild? | |
„Er war ein Held, ein Soldat.“ | |
„Wie werden Menschen Helden?“, fragt Mowses weiter. | |
„Bei uns in Armenien üblicherweise erst, wenn sie tot sind.“ | |
„Was heißt das?“, fragt mein kleiner Neffe beharrlich nach. | |
„Wardan war Soldat und hat uns alle gerettet, aber er ist selber gestorben. | |
Darum ist er für uns ein Held.“ | |
„Wovor hat er uns gerettet?“, fragt Mowses | |
„Vor bösen Menschen, die uns töten wollten.“ | |
„Weißt du, als ich klein war, hatte ich vor bösen Hexen Angst, aber jetzt | |
nicht mehr“, erzählt Mowses. „Weil Papa uns ja jetzt beschützt.“ | |
Zum Glück ist der Kindergarten in der Nähe und ich muss mir nicht länger | |
alberne Antworten auf diese einfachen Fragen ausdenken. Am Abend baut | |
Mowses zu Hause alle seine Spielsachen auf und schießt sie der Reihe nach | |
ab. | |
„Hör mal, Krümel, ich habe dir doch gesagt, dass du nicht schießen sollst�… | |
sage ich. | |
„Aber ich schieße nur auf die Bösen“, erwidert er. | |
„Man darf auf niemanden schießen, Mowses. Selbst mit bösen Menschen muss | |
man reden“, sage ich. | |
„Und wenn es viele Böse sind?“ | |
„Lass uns mal annehmen, dass wir so viele böse Menschen auf einmal nie | |
treffen werden“. | |
„Aber Anri aus meinem Kindergarten hat sie getroffen.“ Mowses will das | |
Gespräch nicht so einfach beenden. | |
Vor zwei Jahren lebte Anri noch in Hadrut, in Bergkarabach. [1][Seit dem | |
Krieg von 2020] steht der Ort unter aserbaidschanischer Kontrolle. Die | |
Familie von Anri hat in Hadrut alles zurückgelassen und konnte sich nur | |
durch ein Wunder retten. | |
„Anri spricht anderes Armenisch“, erklärt Mowses. „Er hatte ein Haus in | |
einer anderen Stadt. Dann sind böse Leute gekommen, haben ihm das Haus | |
weggenommen, sein Spielzeug, seine Anziehsachen. Und wenn solche Bösen auch | |
zu uns nach Hause kommen?“ | |
„Das ist kein anderes Armenisch, das ist der Dialekt in Karabach. Und zu | |
uns nach Hause kommen sie nicht. Papa beschützt uns ja. Und außerdem: Opa | |
schließt jeden Abend das Tor von unserem Haus zu“, sage ich. | |
[2][„Aber bei Anri sind sie reingekommen.] Hat sein Papa sie nicht gut | |
beschützt?“, fragt er. | |
„Doch, er hat sie beschützt. Aber es gibt Dinge, die nicht so laufen, wie | |
wir das möchten.“ | |
„Wohnen in Anris Haus jetzt böse Menschen?“, fragt Mowses. | |
„Ja“, antworte ich. | |
„Und böse Kinder?“ | |
„Böse Kinder gibt es nicht.“ | |
„Aber böse Menschen waren gute Kinder. Und dann sind sie erwachsen geworden | |
und böse?“ | |
„Vermutlich, aber ich weiß das nicht, Mowses.“ | |
„Sona, du weißt überhaupt nichts“, beschwert Mowses sich. | |
„Vermutlich stimmt das.“ | |
Abends will ich ihn ins Bett bringen. | |
„Sona, wenn Menschen sterben, kommen sie dann zu Gott in den Himmel?“, | |
fragt Mowses. | |
„Ja“, sage ich. | |
„Und böse Menschen?“ | |
„Böse Menschen auch.“ | |
„Gibt es für gute und böse Menschen den gleichen Himmel?“, fragt er. | |
„Alle haben den gleichen Gott.“ | |
„Weißt du, was ich werde, wenn ich groß bin?“ fragt er. | |
„Was denn“, frage ich. | |
„Bauarbeiter, Kosmonaut oder Tierarzt“, sagt er. „Alles außer Soldat.“ | |
„Warum?“, frage ich. | |
„Ich will nicht sterben, um ein Held zu werden“, antwortet er. | |
„Hör mal, auch Bauarbeiter, Kosmonauten und Tierärzte können Helden sein.�… | |
„Aber du hast gesagt, Held wird man nur, wenn man gestorben ist“, sagt er. | |
Ich überlege, ob es wohl irgendwann in Armenien möglich sein wird, dass man | |
auch als Bauarbeiter, Kosmonaut oder Tierarzt ein Held werden kann, ohne | |
dafür sterben zu müssen. Plötzlich fragt Mowses schüchtern: „Bist du | |
beleidigt, wenn mich Mama ins Bett bringt?“ | |
„Natürlich nicht“, sage ich. [3][Ich möchte meiner ukrainischen Schwäger… | |
gerne helfen]. Sie ist erst vor zehn Jahren nach Armenien gekommen. Jetzt | |
ist ihre ganze Familie an der Frontlinie: die Eltern in der Ukraine, ihr | |
Mann in Armenien. | |
„Und warum möchtest du, dass Mama dich ins Bett bringt?“ | |
„Weil Mama vorm Einschlafen mit mir betet, dass Papa wieder nach Hause | |
kommt.“ | |
„Ich kann auch mit dir beten.“ | |
„Nein, kannst du nicht. Du kannst ja kein Ukrainisch. Mit Mama bete ich zum | |
ukrainischen Gott, dass Papa bald wieder da ist und dass Oma und Opa in der | |
Ukraine keine Angst haben müssen.“ | |
„Aber ich habe dir doch erzählt, dass alle den gleichen Gott haben.“ | |
Da huscht ein Lächeln über sein Gesicht. | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
14 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sona Martirosyan | |
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