# taz.de -- Buch über Stadt-Land-Gefälle: Die Geister des leeren Spaniens | |
> Sergio del Molinos Buch „Leeres Spanien“ legt den Stadt-Land-Gegensatz | |
> auf der iberischen Halbinsel offen. Nun erscheint es auf Deutsch. | |
Bild: Kein Mensch weit und breit auf dem Land in Spanien | |
Wer schon einmal durch Spanien gereist ist, kennt das: Kaum liegt die dicht | |
besiedelte Küste hinter einem, kommt nichts, nichts und wieder nichts, bis | |
– zum im geografischen Mittelpunkt gelegenen – Madrid. Genau um diese dünn | |
besiedelte Hochebene im Herzen der Iberischen Halbinsel kreist Sergio del | |
Molino in seinem Buch „Leeres Spanien“. | |
„Es gibt ein urbanes, europäisches Spanien, das sich in nichts von anderen | |
urbanen europäischen Gesellschaften unterscheidet, und ein ländliches, | |
entvölkertes Spanien, das ich das leere Spanien nenne. Das Verhältnis | |
zwischen diesen beiden war und ist schwierig. Oft wirken sie wie zwei | |
einander fremde Länder“, sagt del Molino, der als Lokal- und | |
Regionaljournalist in Zaragoza mit dem Schreiben begann. „Trotzdem lässt | |
sich das urbane Spanien ohne das leere Spanien nicht verstehen. Die Geister | |
des letzteren leben auch in den Häusern des ersteren“, fügt er hinzu. | |
Del Molino untersucht das extreme Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land. | |
[1][Mehr als die Hälfte des spanischen Territoriums ist leer.] Oder wie | |
viele heute sagen: „entleert“. Dort leben gerade einmal etwas mehr als | |
sieben Millionen Menschen, weniger als ein Sechstel der Bevölkerung, | |
Provinzhauptstädte mit inbegriffen. Schuld daran ist die Landflucht der | |
1950er und 1960er Jahre – das „große Trauma“, wie der Autor es nennt. | |
Die Menschen verließen das arme ländliche Spanien, um in den Städten – vor | |
allem Madrid und Barcelona oder dem baskischen Bilbao – ihr Glück zu | |
suchen. „Innerhalb von nicht einmal zwanzig Jahren verdoppelte, ja | |
verdreifachte sich die Einwohnerzahl der Städte“, schreibt del Molino. In | |
Madrid und Barcelona entstanden damals Elendsviertel. Zurück blieben die | |
entleerten Regionen Spaniens, die zum Teil dünner besiedelt sind als | |
Lappland im äußersten Norden Europas. | |
## Die Landflucht geht still und leise weiter | |
Del Molino berichtet von den nie eingelösten Versprechen, den ländlichen | |
Raum zu entwickeln. [2][Der Putschgeneral und spätere Diktator Francisco | |
Franco versprach vieles] und löste es ebenso wenig ein wie die Demokratie, | |
die nach seinem Tod 1975 kam. Auch die europäische Integration konnte das | |
Ungleichgewicht nicht beseitigen. Die Landflucht geht still und leise | |
weiter. Selbst die Provinzhauptstädte, die fast alle über Hochschulen | |
verfügen, entwickeln kaum wirtschaftliche Dynamik. Die gut ausgebildete | |
Jugend geht und verschwindet. | |
In Spanien hat diese Dynamik seit Jahrhunderten [3][tiefe Spuren in | |
Literatur und Kultur hinterlassen.] Den städtischen Intellektuellen war und | |
ist das Land fremd. Der ländlichen Bevölkerung galt indes die Stadt als | |
Sündenpfuhl, fremd, aggressiv und korrupt. Del Molino betrachtet hierbei | |
auch die Literatur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhundert, Filme von | |
Luis Buñuel oder populäre Fernsehserien. | |
Als sein Buch vor sechs Jahren erschien, traf es wie kein anderes den | |
Zeitgeist. Das „entleerte Spanien“ begann sich selbst neu zu entdecken und | |
Forderungen zu stellen. In vielen Provinzen wurden Wählervereinigungen | |
gegründet, die spätestens seit dem Einzug von „Teruel existe“ – „Teru… | |
gibt es“ – 2019 ins spanische Parlament einen wichtigen Teil der | |
politischen Debatte darstellen. | |
Paradoxerweise liegt es am Ungleichgewicht Spaniens, dass die längst | |
Vergessenen politischen Einfluss gewinnen; das Wahlsystem Spaniens | |
bevorzugt die entleerten Provinzen. Ein Parlamentssitz dort kostet meist | |
nur ein Zehntel der Stimmen, die man etwa in Madrid benötigt. | |
Wer die tiefe Dynamik Spaniens nach der Krise von 2008, der Bewegung der | |
Empörten 2011 und dem Zerfall des Zweiparteiensystems verstehen will, kommt | |
um das Buch von Sergio del Molino nicht herum. Es empfiehlt sich als | |
Begleiter auf einer künftigen Urlaubsreise weg von den Stränden, durch ein | |
Land, das es nie gab, das aber doch existiert. | |
19 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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